Spiel’s noch einmal, Joe

„Meet the new boss. Same as the old boss.“
The Who, Won’t get fooled again

In den letzten Zügen seiner Amtszeit, quasi mit dem 4er Eisen am Loch 17, hat Donald Trump noch etwas geschafft, das ihm vorher in vier Jahren kein einziges Mal gelungen ist: Er hat die Wahrheit gesagt. Oder besser, getwittert. Mit Reden hat es der noch-immer-Präsident der ehemaligen USA ja nicht so.
Der Wahlniederlage des Toupets des Grauens folgte ein etwa dreiwöchiger Wutanfall in der Süßwaren-Abteilung des Supermarktes, während dem Klein-Donald versuchte, noch möglichst viele Reste der amerikanischen Demokratiesimulation endgültig in Schutt und Asche zu legen.
Schließlich, so hatte er das ja schon im Frühjahr festgelegt, könne er diese Wahl gegen „Sleepy Joe“, der sich kaum aus seinem Keller raustraute, nur dann verlieren, wenn es massiven Wahlbetrug geben würde. Also mußte es den auch gegeben haben. Denn Donald J. Trump, der Mann, der das Siegen auf diesem Planeten quasi erfunden hat, hat die Wahl zum Präsidenten tatsächlich verloren.
Es war die größte, unglaublichste, fantastischste und besteste Wahlniederlage, die es überhaupt jemals auf der Welt gegeben hat.

Irgendwo mitten in seinem pöbelnden Wahnsinn twitterte der von der Ablehnung der Öffentlichkeit zutiefst gekränkte Narzißt dann den Satz: „Noch nie hat ein amtierender Präsident so viele Stimmen bekommen wie ich!“
Worauf dann wieder die abstruse Behauptung folgte, er habe die Wahl gewonnen. Ich hätte auch früher in Mathe nur Einser bekommen, wenn meine Lehrer nicht immer so viele Fehler angemahnt und dann auch noch gezählt hätten. Im Grunde bin ich also das größte mathematische Genie des Planeten und erwarte demzufolge den längst überfälligen Anruf der Nobel-Kommission. Außerdem brauche ich die mit dem Preis verbundene Kohle. Da bin ich auch wie Donald Trump, wobei ich keine Schulden habe, die sich auf mindestens 400 Millionen Dollar belaufen dürften. Aber gebt mir das Geld trotzdem, ich habe es schließlich verdient!

Aber mit diesem einen Satz hatte er recht. Tatsächlich hat noch nie ein amtierender Präsident so viele Stimmen bekommen. Seltsamerweise waren die natürlich alle ungefälscht. Ebenso wie die Stimmen für republikanische Senatoren, die seit Wochen und Monaten die Klappe hielten, wenn Trump wieder eine antidemokratische Absurdität nach der anderen raushaute. So jetzt auch nach der Wahl.
Faschistischen Tattergreisen wie Mitch McConnell im Senat oder einem Lindsey Graham sind alle Mittel recht, um den Apartheids-Staat USA weiter aufrechtzuerhalten, den sie für den Amerikanischen Traum halten.
Zum Zeitpunkt des Twitter-Anfalls hatte Donald 71 Millionen Stimmen. Sagte er jedenfalls. In der Realität waren es zu diesem Zeitpunkt 70,3 Millionen. Doch wen interessieren schon 700K Stimmen in einer Demokratie. Es sei denn natürlich, sie werden für einen anderen Kandidaten abgegeben, und sei es auch nur in der Einbildung eines anderen Tattergreises. Dann müssen sie natürlich auf Zuruf von Gerichten für ungültig erklärt werden, ansonsten ist die Demokratie in Gefahr.

Der alte weiße Mann im Weißen Haus wird also bald durch einen noch älteren weißen Mann im Weißen Haus abgelöst werden. Nach gründlicher Entseuchung durch einen Desinfektionstrupp, nehme ich an. Die Bude dürfte ganz schön coronifiziert sein. Ich würde auch die Teppiche und Vorhänge im Oval Office rausschaffen und verbrennen lassen. Vielleicht am besten alles, was je mit Trump in Berührung gekommen ist. Vielleicht sollte Joe Biden, der ja Katholik ist, nach seiner Inauguration einen Exorzismus durchführen lassen. Das wäre vermutlich am besten.
Der letzte katholische Präsident der USA war übrigens John F. Kennedy. Der letzte Präsident, der dieses Amt erreichte, ohne Florida zu gewinnen, war auch John F. Kennedy. Joe Biden sollte meiner Meinung nach Cabriofahrten durch Dallas in seiner Amtszeit grundlegend vermeiden. Continue reading →

Mourning in America

„I don’t take responsibility at all!“
Donald Trump

4. November 2020

Nachmittag mitteleuropäischer Zeit. Die Wahlen in den USA sind vorbei. Seit den frühen Morgenstunden twittert sich Donald „Der Auferstandene“ Trump in Großbuchstaben endgültig um Kopf und Kragen, aber es hilft wenig. Die Anzahl seiner Follower ist alleine in den letzten Stunden um 30 Millionen gefallen, Twitter kommt mit der Sperrung der abgewählt-präsidialen Tweets wegen völliger Realitätsverfehlung gar nicht mehr nach.
In der Wahlnacht verlor Biden Florida und schon in diesem Moment ließ sich Trump als Wahlsieger feiern. Dummerweise verlor Trump danach so ziemlich alles, was er vor vier Jahren einer Hillary Clinton mit eher marginalen Vorsprüngen abgenommen hatte. Ein Fakt, der gerne übersehen wurde in den letzten Jahren, besonders von den Demokraten.
Und es war von vornherein klar, daß Biden ohne Florida Präsident werden kann, Donald aber nicht. Biden gewann die Großen Seen, Pennsylvania ging ebenfalls an Grandpa Joe, und das mit einem höheren Vorsprung als Trump jemals in dem Bundesstaat gehabt hatte.
Offenbar hatte niemand dem Präsidenten verraten, wie knapp seine Zahlen bei der letzten Wahl eigentlich waren. Aber wen wundert es? In der Welt von Donald Trump waren auch bei seiner Inauguration mehr Menschen, als die USA Einwohner haben. Er hat dagegen geklagt, daß Ms Clinton insgesamt mehr Stimmen bekommen hat. Denn diesen Teil der Wahl hatte Hillary vor vier Jahren für sich entschieden. Nur wird eben nicht immer derjenige Präsident, der auch mehr Stimmen im „popular vote“ erzielt.

Während Trump auf Twitter noch so tut, als sei er weiterhin Präsident der USA, werden aus ersten Gegenden Aufmärsche der Neonazi-Redneck-Idioten gemeldet, die Trump in seinem Wahlkampf zwar nie kannte, die er aber trotzdem immer wieder für prima Leute hielt und dazu aufforderte, ihre Freiheit zurückzuholen.
In Michigan riegelt die Nationalgarde alle Regierungsgebäude ab, es gibt erste Schießereien mit Corona-Gegnern und Trumpisten, die das dortige Capitol stürmen wollen. In Philadelphia gibt es ähnliche Szenen.
Europa ist in einer Art abwartender Schockstarre, wie eigentlich schon seit vier Jahren. Noch immer wollen die Regierungen Westeuropas nicht einsehen, daß die USA weder unsere Freunde noch Verbündeten sind, sondern einfach ein Haufen imperialistischer Irrer mit zu vielen Waffen und zu wenig Hirn.
Die polnische, tschechische und ungarische Regierung haben Trump bereits in der Nacht zum Wahlsieg gratuliert, den es aber gar nicht gibt. Chinas Auslandsstimme hat Biden gratuliert, was Trump mit einer Art Twitter-Blutsturz beantwortet hat.
Aus Rußland hört man bis dato nichts. Vermutlich hat Vlad Putin einfach noch nicht aufgehört zu lachen und konnte deshalb keinen Text für den Botschafter diktieren.

Trumps Anwälte haben gegen das Ergebnis aus Pennsylvania bereits Beschwerde beim Supreme Court eingelegt, die Wahlleute des Bundesstaates sollen „aufgrund von Unregelmäßigkeiten“ bei der Auszählung für ungültig erklärt werden. Der demokratische Gouverneur des Landes hat bereits erklärt, daß er das keinesfalls tun werde, völlig unabhängig davon, wie der Supreme Court entscheiden wird, da er die Legitimität des Gerichts anzweifelt.
Aus Texas kommen immer mehr Meldungen, die auf massiven Wahlbetrug hindeuten. Und zwar durch die Republikaner. Der Bundesstaat hing lange in der Schwebe, was angesichts der Tatsache, daß Texas seit 44 Jahren republikanische Präsidenten wählt, um so erstaunlicher war. Dann wurde er rot und blieb es auch. Aktuell patroilliert dort die Nationalgarde durch die Straßen. Wegen der Proteste gegen die Wahl, die diesmal allerdings nicht von Anwälten, sondern vor allem mexikanischstämmigen Gruppen vorgetragen werden. Man könnte so sagen, sie sind nicht erbaut über die Meldungen, was mit ihren Stimmen passiert ist.

Auch die Demokraten haben den Supreme Court angerufen. Sie wollen Florida für ungültig erklären lassen bzw. eine Nachzählung angeordnet wissen. Denn dieser Bundestaat war erst lange blau gewesen. Dann aber kippten die Stimmen auf Trumps Seite. Ein „red shift“ statt eines „blue shift“, den viele Wahlexperten vorhergesehen hatten.
Die Erklärung dafür ist simpel: da Donald Trump immer wieder erzählt hatte, bei den Briefwahlen gäbe es wahnsinnig viel Wahlbetrug, hatten ihm ziemlich viele Amerikaner den Mittelfinger gezeigt und einfach schon vor dem Wahltermin abgestimmt. Ausgerechnet Florida hat für den „early vote in person“ recht großzügige Zeitfenster. Schon eine Woche vor der Wahl hatten in vielen umkämpften Staaten fast so viele US-Bürger ihre Stimme abgegeben, wie vier Jahre zuvor in der ganzen Wahl, einschließlich Wahltag selbst. Die meisten dieser Wähler waren Demokraten.
Die republikanischen Wähler hingegen, das war auch im Vorfeld klar, würden eher traditionell abstimmen, also am Wahltag. Ihre Stimmen würden zuerst registriert werden, der entsprechende Bundesstaat also rot auf der Wahlkarte erscheinen. Dann erst würden die Briefwahlstimmen hinzukommen und manchen Staat ins Blaue kippen lassen. Blue Shift.
Schon vor dem Wahltermin machten die Wähler dieser Hypothese den Garaus. Der einzige Bundesstaat, in dem es dazu kam, war Ohio. Lange Zeit rot, wenn auch mit nur knappem Vorsprung, wird auch dieses Bundesland an Joe Biden gehen, wie es aussieht. Aber auch so ist längst klar, daß Trump raus ist. Arizona ist weg. Sogar Iowa könnte blau bleiben, obwohl er hier langsam aufholt.

Aber es ist vorbei. Donald Trump ist ein Ein-Amtszeiten-Präsident. Auch sein Nachfolger, Old Man Joe, wird nur eine Amtszeit bekommen. Jedenfalls dann, wenn es noch ein paar restliche Hirnzellen in der US-Politik gibt. Damit haben die USA das erste Mal seit mindestens dem 19. Jahrhundert zwei Männer ins Präsidentenamt gewählt, die nur eine Amtszeit im Weißen Haus sitzen werden. Weiter habe ich nicht zurückgeblättert.
Kennedy vor Johnson zählt nicht, der wurde erschossen. Wo waren die Präsidentenmörder eigentlich die letzten vier Jahre, als man mal einen gebraucht hätte?
Ford und Carter zählen auch nicht. Denn Gerald Ford war weder gewählter Präsident, noch war er bei der Wiederwahl Nixons der Vizekandidat. Der trat später zurück, und Ford war der Ersatzmann. Das dann gleich doppelt, denn etwas später mußte Richie seinen Präsidentensessel räumen, wegen dieser Watergate-Abhöraffäre. Continue reading →

Eine Kultur der Gewalt

– II –
Der Hiroshima-Moment

„Any intelligent fool can make things bigger, more complex, and more violent. It takes a touch of genius – and a lot of courage – to move in the opposite direction.“
E. F. Schumacher

Um 11:02 Ortszeit am heutigen Tag vor 75 Jahren leuchtet ein Blitz über einer japanischen Stadt namens Nagasaki auf. Die gigantische Explosion tötet unmittelbar etwa 22.000 Menschen. Zehntausende sterben in weiteren Wochen und Jahren danach. An ihren Verletzungen. An einer Krankheit, die bis dahin niemand gesehen hatte.
Nur drei Tage zuvor, um 08:15 Ortszeit, hatte bereits eine weitere japanische Stadt dasselbe Schicksal erlitten. In Hiroshima sterben 80.000 Menschen sofort. Die aufsteigende Pilzwolke, von einem Besatzungsmitglied des B-29-Bombers „Enola Gay“ aus dem abdrehenden Flugzeug gefilmt, sollte zum Symbol eines neuen Zeitalters der Vernichtung werden.

Es waren nicht die höchsten Opferzahlen nach einem Bombenangriff. Bereits am 10. März 1945 hatten US-Bomber mit Brandbomben eine Fläche im Stadtgebiet von Tokyo belegt, in dem etwa 1,2 Millionen Menschen lebten. Nachdem die sogenannten Pfadfinder das Angriffsziel mit Napalmabwürfen markiert hatten, wurden über 1.500 Tonnen Brandbomben über der Hauptstadt abgeladen, die zur damaligen Zeit noch in der traditionellen Bauweise vorwiegend aus Holz und Papier bestand. Die Bilanz des Angriffs bezifferte sich nach japanischen Angaben auf etwa 84.000 Tote, über 40.000 Verwundete und mehr als eine Million Menschen ohne Obdach. Über eine Viertelmillion Gebäude wurden zerstört. Spätere Schätzungen gehen von bis zu 185.000 Toten aus. Doch die Bomber, die diese Hölle säten, brauchten über drei Stunden, bis sie alle von ihrer Pazifikinsel gestartet waren. Es waren hunderte.
An dem Tag, an dem Hiroshima getötet wurde, dürfte nur sehr wenigen Menschen auf ihrem Weg zur Arbeit das Gleißen der Sonne auf der Hülle des einsamen Bombers aufgefallen sein, der seinen Weg über die Innenstadt nahm. Tatsächlich war die „Enola Gay“ mit ihren Begleitern der Luftüberwachung Japans sehr wohl aufgefallen.
Da man aber erkannte, daß es sich nur um einen Verband aus drei Maschinen handelte, starteten keine Abfangjäger. Die US Air Force flog zu diesem Zeitpunkt längst routinemäßig Aufklärungseinsätze und die kaiserliche Luftwaffe hatte nicht mehr die Ressourcen, um solche Missionen anzugreifen. Daher wurde kein Alarm ausgelöst, die Bevölkerung wurde nicht gewarnt.

Ein einziges Flugzeug. Eine Bombe. Eine vernichtete Stadt. Eine Todeszone auf Jahre hinaus. Die Kultur der Gewalt hatte einen weiteren Höhepunkt ihres Schaffens erreicht. Niemals zuvor war der Beweis einer wissenschaftlichen Hypothese derartig direkt in Zerstörung umgewandelt worden. Ein geradezu leuchtendes Beispiel einer über Jahrhunderte verfeinerten Effizienz des Tötens. Continue reading →

Eine Kultur der Gewalt

– I –
Spieglein, Spieglein

„Wenn du in die Fleischtheke starrst, starrt die Fleischtheke auch in dich. Da machste nix dran.“
F. W. Nietzsche, Metzgermeister

Ich stehe vor dem Fleisch und vergleiche Preise. Nach einigen Minuten komme ich zum selben Schluß, der sich mir schon mehrfach aufgedrängt hat. Es gibt genau zwei Kategorien von Fleisch. Die eine kann ich mir leisten. Die andere nicht. Was nicht bedeutet, daß ich vierzehn Mücken für ein Kilo Schinken unbedingt als billig empfinde. In der ersten Kategorie sehe ich mindestens drei Markennamen, die zur Großschlachterei Tönnies gehören.
Dem Mann, dessen Ausbeutungsmethoden gerade erst unrühmlich durch die Presse gereicht werden und in den politischen Lagern überall hektischen Aktionismus auslösen. Als hätte Tönnies nicht schon geschlachtet, als NRW noch von der ehemaligen SPD regiert wurde, im Verbund mit den Grünen.
Gerade erst hat Armin Laschet, die CDU-Sockenpuppe, die das Bundesland derzeit regiert, großspurig verkündet, daß ab sofort sämtliche ordnungsbehördlichen Regeln für den Großschlächter und seine Betriebe gelten sollen. Unmittelbar fragt sich der noch nicht ganz bewußtlose Leser, was denn bisher für Regelungen galten und was Laschet unter der vorher erwähnten „Kooperation“ versteht. Vermutlich ein Versprecher.

Natürlich könnte ich auf eine der anderen Sorten ausweichen. Keine von ihnen fällt unter „ganz billig“. Dummerweise weiß ich, daß dahinter im Zweifel nicht jemand wie Corona-Tönnies steckt, sondern ein Betrieb wie Westfleisch. Auch hier werden Billigsklaven aus Osteuropa in gammeligen Jugendherbergszimmern zusammengepfercht und morgens in die Fabriken gekarrt. Es gibt keinen Unterschied zwischen Sklaven auf Baumwollfeldern vor 200 Jahren und diesen Menschen. Sie sind halt nur nicht schwarz, ihr Arbeitsplatz ist kälter und sie werden bezahlt, wenn auch eher alibimäßig.
Daher der hektische Aktionismus der Politik. Denn Ausbeuter wie Tönnies haben das System aus „Werksverträgen“ und billigster Drecksarbeit nicht erschaffen, das gerade lautstark von allen als unmoralisch beweint wird. Sie haben es von der Politik auf dem Silbertablett serviert bekommen und nutzen es aus. Erstaunlicherweise hat Gerhard Schröder, die Stimme Moskaus, zu diesem Komplex noch keine Kritik in irgendeine Kamera geschwafelt. Vielleicht haben die Medien endlich aufgehört, den Mann zu fragen.

Vor 200 Jahren trieb die Tuchindustrie in England die sich maschinisierende industrielle Revolution voran. Dieses englische Tuch basierte auf den gebeugten Rücken von Sklaven, die von weißen Aufsehern ausgepeitscht wurden. Das Verbot von Sklaverei durch das Britische Empire änderte daran nichts. Dieses Verbot kam auch nicht aus ethischen Gründen zustande. Es wurde erlassen, weil die neuen Maschinen mit den alten Sklaven konkurrieren mußten. Während indische Baumwolle die amerikanische ablöste, erschufen die Herren der Maschinen eine neue Klasse von Sklaven: den Industriearbeiter. 16 Stunden täglich, gerne auch mit einem Alter im einstelligen Bereich, mußten Maschinen gewartet, repariert und geschmiert, mußten Fäden zusammengeknotet werden. Menschen, die vorher auf dem Land im Rhythmus von Jahreszeiten und Tagesstunden mit und ohne Licht gelebt hatten, wurden dem gnadenlosen Diktat der Maschinenzivilisation unterworfen. Die Stechuhr, der Zeitplan, der Sekundentakt, das Heulen von Fabriksirenen. Ein Film wie „Metropolis“ von Fritz Lang, 1927 erschienen, war im Grunde gar keine Science Fiction. Er war ein Blick in die Geschichte. Mehr eine Dokumentation statt einer Fiktion. Continue reading →

Immunreaktion

„DON’T THINK OF IT AS DYING“, said Death. „JUST THINK OF IT AS LEAVING EARLY TO AVOID THE RUSH.“
Terry Pratchett, Ein gutes Omen

Wundervolles Wetter. In blühenden Seehäfen wie Venedig werden Schiffe entladen. In Genua und Mailand blüht der Handel. Banken verleihen Geld an Händler und Kaufleute. Schiffe bringen die Waren dieser Händler über das Rote Meer nach Europa. Über die Seidenstraße. Gewürze. Seide. Edelmetalle.
Sie liefern den Tod gleich mit. Der Tod ist ein Meister aus Asien.
Die Pest des Jahres 1347 fegt das Land leer wie das Höllenfeuer, von dem die Kleriker auf ihren Kanzeln gerne sprechen, um die Gläubigen der Gnade Gottes zu versichern. Die sterben trotzdem. Der stäbchenförmige, gram-negative Gott, der bis etwa 1352 über Europa hinwegzieht, wird 1894 in Indien vom französischen Arzt Alexandre Émile Jean Yersin entdeckt, als er das dortige erneute Aufflackern der bis dahin furchtbarsten Seuche untersucht, die die Menschheit je heimgesucht hatte.
Der Erreger Yersinia pestis ist gefunden, einer der großen Triumphe moderner medizinischer Wissenschaften. Erst jetzt sterben empört die letzten Vertreter mittelalterlicher Schamanenüberzeugungen aus, die noch immer nicht recht glauben wollen, daß klitzekleine Dingsbumse, die zu Millionen in Wassertröpfchen leben, irgendwelche Auswirkungen auf menschliches Leben haben sollen.

Im Italien des 14. Jahrhunderts, dem damaligen Resteuropa an kultureller Finesse und Wirtschaftskraft bei Weitem überlegen, kommt der Handel völlig zum Erliegen. Wer nicht an der Pest erkrankt, wird von besseren Hexendoktoren mit Kuhdung eingerieben und stirbt daran, falls er nicht vorher verhungert. Flagellanten ziehen durch die Straßen, religiös verwirrte SM-Anhänger, die sich mit stachelbewehrten Peitschen ihr Fleisch blutig geißeln und barfüßig durch Pfützen laufen, die mindestens zur Hälfte aus Exkrementen bestehen. Denn weder Wasserversorgung noch Kanalisation sind in den blühenden Städten Italiens höher entwickelt als die Hygienestandards heutiger Billigfleischfabrikanten. Umhergewirbelte Tröpfchen aus Schweiß und Blut erweisen sich als hervorragende Methode, um die Seuche weiter zu verbreiten.
Selbst dem Papst wird diese schon immer umstrittene Praktik seiner Glaubensgenossen zuviel. Mit einer Bulle verbietet Clemens VI. im Oktober 1349 die Praxis der öffentlichen Selbstgeißelung als Häresie.
Bereits vorher, im Juli 1348, hatte er in einer anderen Bulle die Juden in Europa vom Verdacht der Brunnenvergiftung freigesprochen, der zu einigen Pogromen und Auslöschung jüdischer Gemeinden geführt hatte. Die Flagellanten waren besonders eifrige Verbreiter dieser Idee gewesen.
Clemens führte als Argumente an, daß auch die Juden an der Pest starben und diese zudem in Gegenden auftrat, in denen gar keine Juden lebten. Seine Anweisungen wurden nicht befolgt. Mit der Bulle Quamvis perfidiam vom September 1349 drohte daraufhin der Papst allen Judenverfolgern die  Exkommunikation an.
Clemens VI. geht auch in die Geschichte ein als der Papst, der den Sommer 1347 in Avignon zwischen zwei gut gefeuerten Kaminen verbringt. Seine Ärzte hatten ihm dazu geraten, denn sie sind der festen Überzeugung, daß Krankheiten durch μίασμα, durch schlechte Luft voller Verunreinigungen, übertragen werden. Die Feuer reinigen die Luft und halten somit Krankheiten fern. Der zur damaligen Zeit in Frankreich residierende Papst folgt dem Rat und überlebt. Vermutlich, weil die Hitze Ratten von ihm fernhält und seine Kleidung keine Läuse enthielt. Immerhin war der Kerl Papst.

An exakt dieser Vorstellung, bereits im 5. Jahrhundert vdZ von einem alten Griechen namens Hippokrates von Kos in die Welt gesetzt, halten noch Zeitgenossen von Yersin fest. Ja, es ist der Hippokrates. Deswegen hielt sich die Vorstellung des antiken Hellenen auch so hartnäckig über die Jahrhunderte. Immerhin hatte der Mann die Grundlagen moderner Medizin erfunden.
Außerdem paßten die Ideen des Hippokrates durchaus zur Beobachtung. Menschen, die im selben Raum mit Kranken waren, wurden krank. Andere nicht. Ergo mußte etwas in der Luft sein, das krank macht. Wenn jetzt im Bus ein Corona-Kranker niest, sind alle anderen sofort tot. Stimmt also. Es liegt was in der Luft.
Hippokrates empfahl auch das Verbrennen von Bekleidung und die Isolation von Kranken von der Öffentlichkeit. Die Pestärzte des 14. Jahrhunderts kennen wir heute noch für ihre Schnabelmasken, unter denen sie einen mit Essig getränkten Schwamm trugen oder irgendwelche duftenden Kräuter, um die eingeatmete Luft zu reinigen.
Dieses Äquivalent der heutigen FFP3-Filtermaske beruhte zwar auf falschen Vorstellungen der Realität, trotzdem verhinderten die Maßnahmen der Quarantäne, die Hippokrates formuliert hatte, in einigen Gegenden den Ausbruch der Pest oder den Tod weiterer Teile der Bevölkerung. Ebenso  führte die Trockenlegung von Sümpfen in Süditalien zum Verschwinden der Malaria. Mal’aria bedeutet nichts anderes als „schlechte Luft“.
In Wirklichkeit führte es natürlich zum Verschwinden der Brutgelegenheiten für Stechmücken, die den Malaria-Erreger Plasmodium mit sich herum- und an Menschen übertragen. Aber vor Erfindung des Lichtmikroskops durch einen Mann namens Antoni van Leeuwenhoek, der aufgrund dessen unschwer als Niederländer zu erkennen ist, konnte niemand in die Welt des Mikrokosmos wirklich hineinsehen. Van Leeuwenhoek war es auch, der 1674 die erste korrekte Beschreibung roter Blutkörperchen lieferte, weil seine mikroskopischen Linsen allem überlegen waren, was man davor oder 150 Jahre danach jemals hergestellt hat.
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Vernetzlich

„Er wußte nicht, daß das beharrliche Geräusch eine Reihe hinter ihm das Ende von allem bedeutete: Es würde keine Fortsetzung mehr geben, sehr bald würde es überhaupt keine Filme mehr geben. In der Reihe hinter Larry hustete ein Mann.“
Stephen King, The Stand

In Drogeriemärkten sind Hygieneprodukte ausverkauft, Nachschub ist laut Aussage des Personals nicht zu erwarten. Kein Wunder. Ein nicht unerheblicher Teil irgendwelcher feuchten Tücher wird vermutlich in China hergestellt. Marktradikale FDP-Wähler, deren Empathie und Liberalismus anderen sonst die freie Wahl überlassen möchte, ob sie von Hartz IV jetzt essen oder heizen wollen, oder die Wahl, welche Alters- und Gesundheitsvorsorge sie sich genau nicht leisten können, stehen weinend vor diesen leeren Regalen und beschweren sich über die Kräfte des Marktes, die immer alles optimal verteilen.
Es sei denn, man kommt erst abends um 20:00 in die Drogerie, weil man vorher noch ein paar Leben in Drittweltländern mit Aktienschiebereien nachhaltig versauen mußte.
Auch über den völlig frei nach Angebot und Nachfrage gestalteten Preis einer Flasche Sterilium – ein gängiges Desinfektionsmittel in Praxen und Krankenhäusern – erheben sich bittere Beschwerden.
Als wären 99 Euro nicht etwa ein Schnäppchen für Leute, die sonst beim Essen gehen alleine für die erste Flasche Wein das Doppelte berappen. Kluge Menschen lachen solche Volldeppen aus. Kluge Menschen kaufen destillierten Alkohol in Flaschen. Stroh-Rum hat auch 80 Volt, das langt zum Desinfizieren von behüllten Viren allemal. Prost, Gemeinde. Im Zweifel ist er im Gegensatz zu Sterilium sogar trinkbar. Continue reading →

Fallout

Es hätte so einfach sein können.
Herr Kemmerich hätte nach vorn treten können, die Hand heben, den Amtseid ablegen und dann die Frage der Landtagspräsidentin, ob er das Amt annehme, klar und deutlich beantworten können.
„Frau Präsidentin, ich bin in überwiegender Mehrheit durch eine antidemokratische, von einem Faschisten geführten Partei gewählt worden. Da ich selber mich als Demokraten verstehe und das ebenso für alle Kolleginnen und Kollegen gilt, die in diesem Landtag sitzen – mit Ausnahme der eben erwähnten Personen – kann ich diese Wahl nicht annehmen. Nur so ist es mir möglich, Schaden vom Land und vor allem der Demokratie abzuwenden. Ich danke Ihnen.“

Danach: Abgang. Hinsetzen. Ungläubiges Schweigen im Saal. Dann langsam einsetzender Applaus von der Bank des Ministerpräsidenten Ramelow von der Linkspartei. Stehende Ovationen von den Grünen. Wutschäumendes Gebrüll von Höckes Bank.
Nur Minuten später, kurz nach der Eilmeldung vom Ableben Alexander Gaulands durch massives Aneurysma, hätten sich Tausende Menschen auf den Straßen Thüringens versammelt, in Berlin wären feiernde Jugendliche aus der Rigaer Straße zur Parteizentrale der FDP gezogen, um ihren Mitgliedsantrag auszufüllen, in Hamburg wäre die komplette Brückenbesatzung der Roten Flora geschlossen in die Partei eingetreten, die Umfragen zur Bürgerschaftswahl in der Hansestadt hätten die FDP am heutigen Samstag auf 15 Prozent verortet, die Bundespartei wäre voll des Lobes und stünde in der Sonntagsfrage zur Bundestagswahl bei 18 Prozent. Es hätte so einfach sein können.

Stattdessen versammelten sich bundesweit insgesamt mehr Menschen zu Spontandemos auf der Straße, als die FDP in Thüringen überhaupt gewählt hatten, um ihrem spontanen Unmut darüber Ausdruck zu verleihen, daß sich der Kandidat der 5,00001%-Partei mit dem schon seit Jahrzehnten irreführenden Label „liberal“ mit Hilfe von Faschisten ins Amt hatte hieven lassen.
Einfach nur, um einen durchaus beliebten linken Ministerpräsidenten abzulösen, dessen Erzfeind, Mike „Machtgeil“ Mohring, in seinem psychopathischen Realitätsverlust immer wieder etwas von einer linksextremistischen Regierung gefaselt hatte, die es abzulösen gälte.
Wozu sich aber eben dieser Herr Mohring selbst nicht bereitfinden wollte, denn eigentlich hätte man von der drittstärksten Fraktion des Landtags exakt eine solche Kanditur erwarten sollen. Nach all den wahnhaften Sprüchen ihres Fraktionsvorsitzenden hätte man diesen Lauf der Ereignisse sogar annehmen müssen.

Es kam nur deshalb nicht dazu, weil die Thüringer CDU, geführt von Mad Mike, im Vorfeld immmer wieder erzählt hatte, sie würde natürlich keinesfalls mit dieser anderen Partei da zusammenarbeiten. Die haben halt auch „Alternative“ im Namen und Alternativen außerhalb der CDU mochte die CDU noch niemals, weshalb sie im Laufe der Jahrzehnte eine selektive Blindheit für eben solche entwickelt hat.
Der perfekte Weg, den König zu ermorden, ohne hinterher wie Macbeth ständig dem Waschzwang zu unterliegen, war es also dieser Tage, einen Herrn Kemmerich als willigen Strohmann nach vorn zu schieben, diesen dann natürlich zu wählen – wie könnte man das auch nicht bei einem Kandidaten der „bürgerlichen Mitte“ – und dann mit den Schultern zu zucken und mit ungerührter Miene zu verkünden, man könne nichts dafür, wenn in einer freien und geheimen Wahl andere Fraktionen gegen ihren eigenen Kandidaten stimmten.
Dieser eigene Kandidat, Herr Kindervater (parteilos), bekam von der AfD, die ihn aufgestellt hatte, nicht eine einzige Stimme. Für ihn kam das nicht überraschend, wie er später selbst schilderte. Es war abgesprochen, schon im Vorfeld.
Zu diesem Zeitpunkt kam das Wort „Überraschung“ in den Sätzen von Herrn Kemmerich und auch den Aussagen von Herrn Mohring immer noch recht häufig vor. Aber da brannte auch schon überall die Luft. Continue reading →

Bumerang

Superkurzmeldung: Erster faschistischer Ministerpräsident in Deutschland gewählt. Entscheidende Stimmen von der 5,00001%-Partei, die immer gern ein „liberal“ in ihrem Titel führt.
Tja. Leider #nichtderpostillon.

Oh…’tschuldigung. Falsches Bild.

dpatopbilder – 05.02.2020, Thüringen, Erfurt: Björn Höcke, (r) Fraktionsvorsitzender der AfD, gratuliert Thomas Kemmerich (l., FDP), dem neuen Thüringer Ministerpräsidenten. Foto: Martin Schutt/dpa-Zentralbild/dpa | Verwendung weltweit

Die Bildunterschrift ist nicht ganz korrekt. Der neue Ministerpräsident steht rechts. Links sein Werkzeug.
Wenn ich noch einmal irgendwelches MiMiMi von der CxU höre, nach dem Motto: „Wir sind aber die stärkste Fraktion und müssen deshalb den (Amt hier einsetzen) stellen.“
Man erzähle mir auch nichts von: „Das war alles völlig überraschend.“
Die CDU unter Herrn Mohring hat seit Wochen die Klappe aufgerissen und was vom extremen Rand der Politik schwadroniert. Nun, niemand hätte den Großsprecher daran gehindert, im dritten Wahlgang heute einen eigenen Kandidaten zu stellen. Hat sie aber nicht, die CxU.
Insofern glaube ich auch dem Herrn Kemmerich nicht, daß er überrascht war. Wer noch nicht mitbekommen hat, wie die Blaunazis taktieren, muß die letzten politischen Jahre unterm Stein verpennt haben. Also keinen politischen Instinkt oder keine Ahnung haben.
Dann wäre die Frage, was so einer an der Stelle macht.
Oder man hat damit gerechnet beziehungsweise es billigend in Kauf genommen, was auch den fehlenden Kandidaten der CxU erklärte. Dann war das mit der Überraschung schlicht gelogen. Zudem hätte es die Möglichkeit gegeben, das Amt abzulehnen. So weit ich weiß, besteht diese immer noch bei einer Wahl.
Woraus sich wieder die Frage ergibt, was so einer an der Stelle macht.

Im Geschichtsunterricht aufgepaßt hat Herr Kemmering sicherlich nicht, wie es seine Wahlplakate noch behaupteten. Wieder ein Versprechen, das die angebliche FDP nicht gehalten hat. Kassandra weist darauf hin, daß schon die Wiederwahl des politischen Zombies Lindner AG im Jahre 2017 ein großer Fehler von Wahlmichel und -michaela gewesen ist. Aber Wahlen sind ja wiederkehrende Ereignisse, zumindest noch. Immerhin: „Bedenken second“ – das hatte Herr Lindner auf den Wahlplakaten allerdings zugesagt.
Wer sich informieren möchte, dem sei der Twitterfeed von Fr. Alice Weidel empfohlen. Die ganzen bürgerlichen Demokraten, die sich da austoben, sind lesenswert. Ihre „Argumente“ dürfen dann gerne zukünftig gegen sie verwendet werden. Und wer mir noch einmal erzählt, er hätte von nichts gewußt, kann sich zum Verarschen jemand anderen aussuchen. Nur weil eine Partei demokratisch in ein Parlament gewählt wird, bedeutet das keinesfalls, daß sie nicht aus antidemokratischen Verfassungsfeinden bestehen kann. Ich verweise auf die Geschichte. Wir haben sogar Bilder davon.
Zurück ins Sendestudio.

Nebel über dem Kanal

Nach 47 Jahren der Sklaverei hat die britische Nation es endlich hinbekommen. In einem demokratischen Rundumschlag, einer Revolution des Volkswillens, hat sie das Joch der Unterdrückung abgeschüttelt. Ab sofort ist Großbritannien tatsächlich wieder groß. Es kann souverän über seine Grenzen bestimmen und was an diesen passiert. Oder wer diese passiert. Es kann seine eigenen Regeln aufstellen bezüglich Arbeitnehmerrechten. Oder Sozialstaat. Oder Außenpolitik.
Der Brexit ist endlich done. Gefühlt mehrere Millionen befreiter Briten sammelten sich vorgestern auf dem Parliament Square und zählten den Countdown eines politischen Entscheids herunter, als sei es Silvester. Viele dieser Befreiten hatten eine britische Flagge um den Hals hängen. Ein wahrhaft symbolisches Bild. Denn die meisten dieser Leute waren Engländer, keine Briten.
Noch bevor der Countdown abgelaufen war, konnte man als einer der Nicht-Befürworter des britischen EU-Ausstiegs schon sehen, wohin die von Boris Johnson angekündigte „Heilung nach dem Brexit“ in der Gesellschaft der Insulaner führen wird. Es gab Plakate mit Aufschriften wie „Lock up the traitors!“
Wer also nicht für uns war, ist gegen uns. Wer in einem Referendum nicht an derselben Stelle das Kreuz macht wie ich, ist ein Verräter. Was immer da irgendwer verraten haben soll. Eine Gesellschaft, in der derartig hirnkranke Individuuen frei herumlaufen und sogar den Premierminister stellen, ist weit jenseits irgendeiner Heilung. Eine derartige Gesellschaft liegt im Sterben.

Das bisherige Crescendo dieser „Oper des politischen Idiotismus“ waren die Parlamentswahlen, bei denen Boris Johnson so richtig abgeräumt hat. Nach dreieinhalb Jahren völliger Unfähigkeit, sich darüber zu einigen, was man eigentlich wollen soll, hatten die Wähler diesmal die Schnauze voll. Wir Deutschen kennen das. Gerhard Schröder wurde 1998 nicht etwa Kanzler, weil er so unfaßbar überzeugend gewesen wäre, wie er das immer geglaubt hat. Er wurde Kanzler, weil Deutschland nach 16 Jahren Kohl auch einen Ficus zum Kanzler gewählt hätte, solange der halt nicht Mitglied der CDU gewesen wäre. Mit einem Katzenbaby hätte man die absolute Mehrheit geholt.
Schröder, diese Zimmerpalme des exzessiven Neoliberalismus, wurde schlicht mangels Alternativen erster FDP-Kanzler der Berliner Republik, dann Gasableser für Putin. Heute nörgelt er gelegentlich aus dem Off an der Politiksimulation seiner Partei herum, so wie ehemalige SPD-Granden das bei ihrer ehemaligen Partei gerne tun. Das jemand wie Schröder niemals in eine Partei hätte eintreten dürfen, die das Wort „Sozialdemokratie“ im Namen trägt, war schon damals ein klar erkennbares Zeichen des bevorstehenden Untergangs. Continue reading →

Zwanzigzwanzig

Wieder einmal ist es soweit. Die primitiven Eingeborenen des dritten Planeten einer gelben Zwergsonne in einem völlig aus der Mode gekommenen Spiralarm dieser Galaxis haben mit großem Getöse das Neue Jahr begrüßt.
Was bedeutet, der Planet durchläuft einen willkürlich festgelegten Punkt seiner Umlaufbahn und deswegen trinken alle riesige Mengen vergorener Getränke und fuchteln mit Raketenartillerie herum in einem geistigen Zustand, der oft schon nicht einmal mehr die Koordination der eigenen Gliedmaßen flüssig erlaubt.
Wobei, ganz willkürlich ist der Punkt auf der Umlaufbahn nicht gewählt. In wenigen Tagen wird dieser Planet den sonnennächsten Punkt seines Orbits passieren. Der ist zwar tatsächlich elliptisch, wie ein Eingeborener namens Kepler dereinst feststellte. Aber er ist so wenig elliptisch, daß man genau hinsehen muß, um das in diesem Falle zu bemerken. Die höchste Entfernung – Aphel genannt – und die niedrigste – Perihel genannt – differieren nur um einige Millionen Kilometer. Zumindest wissen die Eingeborenen also Bescheid über die astronomischen Gegebenheiten ihres Sonnensystems. Sie wissen auch, daß Alkohol eine farblose, unter hiesigen Normbedingungen leicht verfliegende Flüssigkeit ist, die auf Lebensformen auf Kohlenstoffbasis giftig wirkt. Das hindert sie allerdings nicht daran, dieses Zeug in sich reinzuschütten.

Während also draußen die letzten Schnapsleichen zusammengefegt werden und Jagdhorden die panikartig entlaufenen Hunde der letzten Nacht einfangen, geht es dem Kalenderjahr wie dem Schreiber des Blog in seiner Bambushütte am Rande der Zivilisation. Es wandelt sich in etwas Rundes mit einer Null. Zweitausendzwanzig, gerade eben in sehr vielen meiner SF-Romane noch als ferne Zukunft gehandelt, steht plötzlich in der Datumszeile von Dokumenten und läßt alles stark surreal aussehen. Hätte der Autor dem Alkohol zugesprochen, er würde vermuten, in eine Filmkulisse geraten zu sein. Tee ist allerdings nicht bekannt für das Auslösen von Realitätsverzerrungen, sofern man von Zubereitungen mit Stechapfel und ähnlich lustigen Gewächsen einmal absieht.
Also ist jetzt wohl tatsächlich 2020.
Das wiederum bedeutet, daß hier auch gerade ein komplett neues Jahrzehnt anbricht. Endlich muß man sich keinen mehr abbrechen und solchen Blödsinn von sich geben wie „Nuller-Jahre“ oder „Zehner-Jahre“. Im letzten Jahrhundert begannen hier die „Roaring Twenties“, die „Goldenen Zwanziger“. Genauso wird es in diesem Jahrhundert auch sein. Allein das deutsche Börsentier DAX ist um etwa 25 Prozent dicker geworden, was für einen eher flachen Waldbewohner gar nicht so schlecht ist. Hätte der Autor zu Beginn des letzten Jahres mal eben 100 Mille übriggehabt, die man eventuell auch nie wieder benötigt, er wäre um 25 Mille reicher geworden. Das ist mehr, als so mancher Arbeitnehmer netto übers Jahr mit seiner Knechterei zusammenkratzen kann und dafür hätte man nichts tun müssen, außer sich gemütlich auf dem Sofa die Eier zu schaukeln.

Das ist einer der Punkte, den die Golden Twenties des letzten Jahrhunderts mit denen dieses Jahrhunderts gemein haben werden: diejenigen, die eh schon viel Geld haben, werden relativ problemlos noch mehr dazubekommen. Gold kauft sich schließlich nicht von alleine. Was wird sonst noch passieren innerhalb des nächsten Zyklus? Nun, same procedure as every year, wenn Kassandra recht behält.
Immer mehr Menschen werden feststellen, daß die Zukunft, die sie sich mit Teller waschen zu erlangen hofften, nicht etwa ein Millionärsdasein beinhaltet, sondern einfach mehr Teller und einen Tellerwäscher mit einem Arsch voll Schulden. Diese Vorhersage gilt sowohl individuell als auch kollektiv, also für das gesamte wurbelige Gebilde aus Primaten mit Raketen, das allgemein so „Zivilisation“ genannt wird.
Während die Folgen der voranschreitenden Klimazerstörung in den Zwanzigern zunehmend unübersehbar werden, wird die Anzahl diejenigen, die sich die Finger in die Ohren stecken und LaLaLa singen, während sie behaupten, an solchen abergläubischen Hokuspokus nicht zu glauben, weiterhin zunehmen. Außerdem werden sie beim Singen immer lauter werden. Und schriller. Gerade eben kann man das wieder erkennen an den Reaktionen auf ein Lied, in dem Omma eine Umweltsau ist. Viele der gemeingefährlichen Idioten, die deshalb Mitarbeiter des ZDF mit Morddrohungen überziehen, werden sich im kommenden Jahrzehnt immer häufiger in ihren eingebildeten Menschenrechten und angeblicher Kultur gefährdet sehen und entsprechend reagieren. In diesem Falle handelt es sich um Primaten, die der eingangs gelieferten Beschreibung auch ohne Alkohol entsprechen und die zwar keine Raketenartillerie besitzen, dafür aber Internetzugang und Twitteraccounts.
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