Das Zerbrechen der Welt

„Jetzt bin ich der Tod geworden, der
Zerstörer von Welten.“
Bhagavad Gita

Strahlender Sonnenschein. Blauer Himmel. Um die 20 Grad. Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs an diesem Tag. Dutzende Menschen stehen Schlange vor den Eisdielen. Morgen ist ein Feiertag, viele haben über die Brückentage freigenommen. Ein prächtiges langes Wochenende steht bevor. Deutschland im Frühling. Die Bonner Republik im Frühling, um exakt zu sein, denn es ist das Jahr 1986.

Vier Tage zuvor
Morgens gegen 01:20 befiehlt Chefingenieur Anatoli Stepanowitsch Djatlow, in dieser Nacht in einem Atomkraftwerk in der Sowjetunion der Oberbefehlshaber im Kontrollraum, seinem Schichtleiter, einem Mann namens Alexander Fjodorowitsch Akimow, den seit einiger Zeit angesetzten Sicherheitstest im Block 4 des Kraftwerks programmgemäß durchzuführen. Akimow hat bis dahin bereits mehrfach Bedenken aufgrund des Reaktorzustandes geäußert, der unerklärlich niedrige Leistungswerte aufweist. Djatlow will davon nichts wissen, mit der ihm wohl eigenen Bissigkeit verteidigt er seine Position. Eingebunden in das politische System der Sowjetunion, hat er sich von einem Niemand, der von Daheim weglief, zu einem Nuklearingenieur in angesehener Stellung hochgearbeitet.

Schon die ganze Zeit läuft bei den Vorbereitungen nichts wirklich rund. Erst die niedrige Reaktorleistung, dann sinkt auch noch der Wasserstand in den Dampfabscheidern gefährlich ab, was einen Alarm auslöst. Doch bereits das Anfahren des Tests hätte nicht stattfinden dürfen. Denn dafür ist die Leistungsabgabe zu niedrig und dieser Reaktortyp hat bei unterwertigem Energieausstoß einige Tücken. All das steht irgendwo in den Handbüchern, die aber ignoriert werden. Um mehr Energie zu erzeugen, machen die Ingenieure das, was jede andere Mannschaft auch tut in einem Kernkraftwerk: die Steuerstäbe werden herausgezogen, es fließen mehr Neutronen, die Kettenreaktionen nehmen an Zahl zu. Der Reaktor erhöht seinen Ausstoß.

Was die Bediener im Kontrollzentrum nicht wissen: Der Reaktor leidet in diesem Moment unter dem, was in der Fachsprache Xenonvergiftung heißt. Im Normalbetrieb eines Reaktors entsteht das Produkt 135Iod. Dieses wiederum zerfällt mit einer Halbwertszeit von etwa sieben Stunden in ein anderes radioaktives Isotop, eben 135Xenon. Xenon ist ein Neutronengift, was bedeutet, daß es freie Neutronen einfängt und somit die Reaktionsrate in einem nuklearen Spaltprozeß senkt. Exakt das ist im Vorfeld passiert. Die vorhergehenden Schichten haben den Reaktor weit unter seiner zulässigen Leistung gefahren, im Reaktorkern hat sich zuviel Xenon angesammelt. Bei einem normalen Betrieb hätten sich Erzeugungs- und Zerfallsrate etwa die Waage gehalten, aber das ist nicht der Fall. Eigentlich müßte der Reaktor abgeschaltet werden, bis das überschüssige 135Xenon zerfallen ist.
Stattdessen werden die Steuerstäbe herausgezogen, um die Leistung hochzufahren. Trotzdem sackt die Leistung weiter ab, bis auf etwa 200 Megawatt. Für den geplanten Versuch sind mindestens 700 Megawatt vorgeschrieben.

Djatlow erteilt Anweisung, etwas gegen den Alarm wegen des niedrigen Wasserstands zu unternehmen und ignoriert Akimovs fortgesetzte Bedenken aufgrund der Leistung. Es ist der letzte falsche Befehl, der in dieser Nacht gegeben wird. Akimow und ein Kollege folgen der Anweisung und drehen den Hahn weiter auf, der Reaktorkern wird besser bewässert. Er erreicht aber trotzdem nur zwei Drittel des vorgeschriebenen Pegels. Der Alarm stoppt aber, denn das liegt oberhalb der Warnschwelle.
Dann beginnt der eigentliche Test. Die Bedienmannschaft unterbricht die Wärmeabfuhr aus dem Reaktorkern, die Kühlmitteltemperatur beginnt zu steigen, die Zerfallsrate des überschüssigen Xenons erhöht sich.
Die Katastrophe im Inneren der von Menschengeist erdachten und von  Menschenhand gebauten Maschine nimmt ihren Lauf. Die automatische Steuerung versucht, den Leistungsanstieg mit dem Einfahren der Steuerstäbe zu drosseln, ganz nach Programm. Aber sie fährt die Stäbe nur langsam ein, was auch seinen Grund hat.
Doch das reicht nicht. Der Neutronenfluß im Reaktor wird stärker, die Leistung steigt unkontrolliert. Hierdurch erhöht sich die Zerfallsrate des 135Xenon im Reaktorkern weiter, wodurch die bisherige Dämpfung der Reaktion massiv abgebaut wird. Der starke Energieanstieg erzeugt immer mehr Dampfblasen, was wiederum die Kühlung verschlechtert und ebenfalls die Leistungsabgabe erhöht. In diesem Moment ist aus dem Sicherheitstest für den eigentlich recht neuwertigen Kernreaktor bereits eine Katastrophe geworden. Die gezähmte Atomenergie hat sich in ein Monstrum verwandelt, das längst außer Kontrolle ist. Continue reading →

Der Sieg der Grauen Herren

– II –

Goethe in Metropolis

„Meine an Zahlen gewöhnte Feder vermag keine Musik zu schaffen aus Assonanzen und Rhythmen.“
D-503

Statt in Tagen und Monaten, in Hell-Dunkel und Jahreszeiten, ist heute alles in acht Stunden Arbeitszeit aufgeteilt oder acht Stunden Schlafenszeit. In Mittagspausen von dreißig Minuten, zu denen Menschen wie die Kühe zum Melken gehen oder wie die Schafe zur Schlachtbank. Alles strömt in die Innenstadt: Essenszeit.
In vorgeschriebenem Ablauf, jede Minute Wartezeit in der Kantinenschlange von Ungeduld geprägt, jeder Handgriff der unterbezahlten Servicekraft im Fischrestaurant muß sitzen, das geht sonst alles von unserer Zeit ab.

Im Roman Wir von Jewgenij Samjatin, einer Art russischem Vorläufer und Gegenstück zu Orwells 1984, hat die herrschende Partei die Stunden-Gesetzestafel ausgehängt, in purpurnen Lettern auf goldenem Grund für alle sicht- und einsehbar. Denn die Wände aller Gebäude sind durchsichtig. Der Einzige Staat beherrscht den Planeten Erde. D-503, Mathematiker und Erbauer des Weltraumschiffes Integral, erzählt uns seine Geschichte und damit auch die Geschichte seit der Großen Revolution vor etwas mehr als einem Jahrhundert seiner Zeitrechnung.
Doch die Lösung ist nicht perfekt, noch nicht. Von 16 bis 17 und 21 bis 22 Uhr spaltet sich der Takt auf, es sind die von der Tafel festgesetzten Persönlichen Stunden. Und nichts wünscht der Protagonist mehr, als das eines Tages Perfektion erreicht sein möge, in der alle 86.400 Sekunden des Tages erfaßt sind von der Tafel der Gesetze, der alle im Takt der Zahnräder und Maschinen folgen.

Samjatins düstere Dystopie, in ihrer stereotypen, durchgeplanten Art ebenso gruselig wie die bereits in vitro konditionierten Alphas, Betas und Gammas in Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“, ist unserer Welt des 21. Jahrhunderts ähnlicher, als man es heute zugeben möchte. Sie ist in ihrer absolut unpersönlichen Tyrannei in gewisser Weise das Gegenteil von Orwells Vision des Totalitären. Hier ist man sich nicht sicher, daß die Gedankenpolizei einen überwacht, hier überwachen sich die Nummern – denn Bürger oder gar Menschen existieren nicht mehr – in ihrer Zuverlässigkeit gegenseitig. Konditioniert, das Funktionieren des Staates, des eigenen alternativlosen Lebenssystems, über alles zu stellen, gibt es hier keine Abweichungen, keine Vorstellungskraft, keine Imagination, die ein „anders“ nur erdenken könnte. In gewisser Weise ist Samjatins „Einziger Staat“ dem Orwellschen Weltsystem, das ja zumindest in der öffentlichen Darstellung noch unterschiedliche Pole bietet mit Ozeanien, Eurasien und Ostasien, eine weitere, grauenvolle Nasenlänge in die Zukunft voraus. Continue reading →

Der Sieg der Grauen Herren

– I –

Die neue Zeit

„Wer hat an der Uhr gedreht?
Ist es wirklich schon so spät?“
Paulchen Panther

Erde, Beginn des 16. Jahrhunderts ndZ. Ein Mann namens Peter Henlein verbindet in Nürnberg den Federantrieb mit einer sogenannten Federbremse und baut das ganze Konstrukt in ein Gehäuse ein, das klein genug ist, um in eine Tasche gesteckt zu werden. Die erste echte Taschenuhr hat das Licht der Welt erblickt. Wenn sie nicht in der dunklen Tasche verschwindet, natürlich.
Das Werk ist noch immer recht ungenau, die Uhr erhält deswegen nur einen Stundenzeiger. Erst deutlich später, etwa anderthalb Jahrhunderte nach Henlein, um genau zu sein, wird die Spindelhemmung in Uhren eingebaut und diese erhalten einen Minutenzeiger, da sie sich jetzt nicht mehr dafür schämen müssen, einen zu haben.
Mit der weiteren Entwicklung werden die neuen Zeitmesser genauer, kleiner, flacher und die Uhrmacherkunst zu einem Beruf, der dem des Neurochirurgen an nötiger Präzision in nichts nachsteht. 1600 ndZ setzt der spanische König einen Preis für denjenigen aus, der eine Uhr erfindet, mit der man das Längenproblem lösen kann. Was heutzutage keinerlei Problem darstellt, war nämlich zu der Zeit sehr wohl eines.
Für die Bestimmung der exakten Position auf der Erdoberfläche benötigt man den Breiten- und Längengrad. Die Bestimmung der Breite erfolgt bereits seit langer Zeit über den Polarstern. Bei den Griechen hieß der Stern Phoenice, was wiederum „der Phönizische“ bedeutet, also noch weiter in die Vergangenheit weist. Astronomisch ist das α Ursae Minoris und ein Trinär-System aus einer F7 Ib, einer F6 V und einer F3 V – das sind die Spektralklassen dieser Sterne. Unsere Sonne sieht daneben etwa wie das Streichholz vor dem Waldbrand aus. Oder vor dem Plasmaschweißbrenner.

Das Sternbild selbst ist der Kleine Bär, im Deutschen ist das der Kleine Wagen. Wir Deutschen hatten es ja schon immer mehr mit Autos als mit Bären, deswegen finden wir die am Himmel leichter. Im Gegensatz zu manchen Geschichten, die mir schon zu Ohren gekommen sind, findet man Polaris nicht, indem man die Achse des Großen Wagens verlängert, sondern das Hinterteil, also sozusagen den Kasten des Wagens.
Wenn man den Abstand zwischen den beiden hinteren Sternen am Großen Wagen um das etwa Fünffache nach „oben“ verlängert, landet man beim Polarstern. Um Fehler zu vermeiden, sollte man einmal kurz hinschauen, ob sich um diesen hellen Punkt noch andere befinden. Wenn ober- und unterhalb nichts ist, hat man den richtigen gefunden. Ansonsten hat man vermutlich die Deichsel des Kleinen Wagens an einer anderen Stelle erwischt.
Heutige Astronomen mogeln natürlich, die richten einfach große Kameras auf den Himmel und lassen die lange belichtete Fotos machen. Der Stern, dessen Bewegung keinen Kreis auf das Bild zeichnet, ist der Polarstern. Der wiederum steht am Äquator über dem Horizont, in unseren Breiten – wie man so sagt – rückt er immer näher zum Zenit des Himmels auf. Die Winkelhöhe dieses Sterns, um den sich alle anderen am Himmel zu drehen scheinen, gibt einem den Breitengrad an und diese Winkelhöhe ließ sich schon vor Urzeiten recht zuverlässig messen. Nicht zu verwechseln mit den Uhrzeiten, um die es im Folgenden gehen soll. Continue reading →