Das blinde Bewußtsein

– II –

Verkehrt aufgeklärt

„Logik. Logik ist nur der Anfang aller Weisheit.
Nicht ihr Ende.“
Spock

Einer der zentralen Glaubenssätze der menschlichen Zivilisation, Ausgabe 21. Jahrhundert, ist also die Behauptung, daß nur menschliche Werke diese typische Ausgefuchstheit aufweisen, die uns normalerweise veranlaßt, sie überhaupt als „Werke“ anzuerkennen.
Ich persönlich denke immer gerne daran, daß die in der Bibel erwähnte „babylonische Sprachverwirrung“ frühere Forscher daran glauben ließ, es müsse einmal eine einheitliche Sprache für alle Menschen gegeben haben. Ich weiß nicht, ob schon einmal jemand auf die Idee gekommen ist, daß dieses Ereignis sich möglicherweise auf die Entwicklung des Sprechens an sich beziehen könnte.
Denn die Erfindung und vor allem die heutige Benutzung von Sprache stellt oft eher selbst ein Problem dar, statt zu irgendeiner Verständigung beizutragen. Es gibt Worte, die sollten eigentlich eine klare Bedeutung haben, die für jeden Zuhörer gleich ist, aber das ist überhaupt nicht der Fall. Wir sind inzwischen schon so weit, daß Sprache mehr zu unserer Verwirrung beiträgt als zur Erhellung einer undurchsichtigen Situation. Tatsächlich gehört diese Art des Verständigungsproblems zu den Symptomen eines untergehenden Zeitalters.

„Werk“ ist so ein Wort. Bezogen auf etwas Hergestelltes, etwas Künstlerisches, denken wir automatisch an menschliche Hände, die Leinwand bemalen, oder Michelangelo, der mit Hammer und Meißel auf den Marmor eindrischt, um seinen David zu erschaffen.
Mit derselben Intention benutzen wir das Wort „Sprache“ statt Kommunikation, denn Kommunikation – wie letzte Woche erwähnt – findet eindeutig unter jeder Menge Spezies statt und ist somit keine speziell menschliche Eigenschaft.
Ein Werk ist also etwas, das in unseren Köpfen automatisch von Menschen erschaffen worden sein muß. Diese Zuordnung erfolgt durch Konditionierung von Kindesbeinen an völlig ohne bewußtes Denken. Die Wortkombination „menschliches Werk“ wird üblicherweise nur benutzt, wenn irgendwas, das aus einem Ingenieursbüro stammt, von etwas unterschieden werden soll, das in der Welt rumsteht. Erstens trennen wir auch hier wieder geistig Mensch und diese komische „Natur“ und zweitens ist ansonsten eben jedes „Werk“ automatisch auch menschlich, sonst ist es keins.
Ein Termitenbau ist toll und auch seine Klimatisierung ist toll. Aber er ist kein menschliches Werk, also taugt er nichts. Keine Stadt auf der Erde macht meines Wissens Werbung mit dem Motto: „Wir haben die größten und schönsten Termitenbauten der Welt!“

Aber den Eiffelturm, den kennen alle. Dabei wurde dieses Ding eigentlich nur aufgestellt als eine Machbarkeitsstudie, damals, 1889, zur Weltausstellung in Paris. Im Grunde begann damit das Wettrennen um „schneller, höher, weiter“ bei Gebäuden, das bis heute anhält und mehr und mehr Irrsinn hervorbringt, der als Architektur getarnt wird. Bei seiner Eröffnung im März 1889 war der Turm mit über 300 Metern das mit Abstand höchste Gebäude der Welt. Außerdem betrug die Bauzeit nicht einmal zwei Jahre und das Objekt wurde pünktlich zum gedachten Anlaß fertiggestellt. Da können sich gewisse Flughäfen, Konzertgebäude und Bahnhöfe mal eine ganz dicke Scheibe abschneiden von dieser Leistung. Aber auch das ist nur ein Symptom des bereits mehr als einmal angeführten Gesetzes vom Abnehmenden Ertrag. Continue reading →

Hau ab, Mephistopheles!

„Was eine lange Reihe von Generationen aufgebaut hat, das zerschlägt
und zerstreut ein einziger Tag.“
Lucius Annaeus Seneca, Briefe an Lucilius, 91

Als der Mann den Gerichtssaal der Inquisition verläßt, ist er geschlagen.
Man hatte ihn zu dem öffentlichen Geständnis gezwungen, in seinem Buch geirrt zu haben, er mußte seine Fehler verfluchen und verabscheuen – ein Teil des Widerrufungsrituals – und schaffte es nur dadurch, dem drohenden Scheiterhaufen zu entkommen. Das Urteil lautet auf lebenslange Kerkerhaft. Für einen Mann im Alter des Angeklagten – 68 Jahre – im Grunde ein Todesurteil auf Raten.
Schließlich bleibt der Verurteilte in der Botschaft der Toskana und kann, da der Herzog der Toskana ein großer Bewunderer seiner Arbeiten ist, schließlich doch nach Hause zurückkehren, wo er allerdings für den Rest seines Lebens in Arrest verbleibt und mit einem lebenslangen Lehrverbot belegt wird.

Aber Galilei hatte sein Leben gerettet, das nach diesem Prozeß immerhin noch ein Jahrzehnt andauern sollte und es ihm ermöglichte, einen ausgedehnten Briefwechsel mit befreundeten Gelehrten im In- und Ausland zu führen, von denen einige deutlich weiter vom Einflußbereich des Papstes in Rom entfernt waren als er selber. Und die Verkündungsfreude bezüglich des neuen Weltbildes, das Galileo in seinem beanstandeten Buch diskutiert hatte, nahm mit der Entfernung vom Papstthron deutlich zu. Die Tatsache, daß Galilei seinen „Dialog über die zwei Weltsysteme“ in der Volkssprache verfaßt hatte, also Italienisch statt des wissenschaftlichen Latein, half der inzwischen mehrere Jahrzehnte alten „neuen“ Idee, die ein Herr Kopernikus in die Welt gesetzt hatte, ebenfalls zu einer deutlichen Steigerung ihrer Popularität.
Galilei wurde angefeindet, weil er, oder besser, diese neue Idee, die Erde aus dem Mittelpunkt des Sonnensystems verbannte. Als einer der Jünger des kopernikanischen Weltbildes und eigener Beobachter des Sternenhimmels mittels der gerade erfundenen Teleskope war er schon früher der Inquisition unangenehm aufgefallen, sprach er doch offen darüber, auf der Sonne Flecken entdeckt zu haben. Zur damaligen Zeit natürlich ein schwerer Angriff auf die Dogmen der Kirche, denn die himmlischen Sphären waren von Gott geschaffen, wie alles andere, aber eben auch direkter Wohnort des Heiligen und somit Perfekten. Wie konnte also die Sonne Flecken haben?

Damals, 1623, hatten Freunde Galileis in der und um die Kurie die Anschuldigungen gegen ihn versanden lassen. Jetzt war er ein Jahrzehnt danach ein weiteres Mal in den Fokus der Inquisitoren geraten und damit einmal zu oft.
Aber ein weiterer Schritt war getan worden, um die Rätsel des Universums zu klären. Wieder einmal trug die Wissenschaft den Sieg davon. Was die Kirche mit ihrer in religiöser Dogmatik erstarrten Weltsicht in den kommenden Jahrhunderten lieferte, waren Rückzugsgefechte. Den eigentlichen Krieg hatte sie zu diesem Zeitpunkt bereits verloren. Continue reading →

Das falsche Morgen (II)

„Fundamentaler Fortschritt hängt zusammen mit der Neuinterpretation grundlegender Ideen.“
Alfred North Whitehead

Letzte Woche hatte ich an dieser Stelle Herrn Kepler erwähnt, den Mann, der die Erde endgültig aus dem Zentrum des Universums in eine Umlaufbahn um die Sonne gerückt hat.
Gegen diese Vorstellung gab es durchaus Widerstand, der vor allem aus den Reihen des Klerus kam. Trotz aller gegenteiligen Indizien beschloß die Kirche, am Dogma der Unveränderlichkeit eines von Gott geschaffenen Himmels festzuhalten.
Ebenso wie früher aber war dieser Widerstand nicht nur darauf begründet, daß die beobachtbaren Fakten dem Glauben und seiner Auslegung durch eine hierarchische Amtskirche widersprachen.
Bereits Anfang des 16. Jahrhunderts hatte die römisch-katholische Kirche mit der Reformation durch Martin Luther eine schwere Niederlage hinnehmen müssen, aber der schwerste Schlag, den dieser Mann der Kirche versetzte, war nicht sein Protest gegen den Ablaßhandel oder seine Thesen.
Der schwerste Schlag Luthers gegen die Fundamente der damaligen Kirchenwelt war seine Übersetzung der Bibel ins Deutsche.
Erstmals seit Entstehung des christlichen Glaubens und seiner Ausformung ab dem 3. Jahrhundert ndZ verlor der Klerus damit etwas, das für mächtige Institutionen damals genau so wichtig war wie heute auch: das Informationsmonopol.

Plötzlich konnten sich Menschen auf Dorfplätze stellen und anderen aus der Bibel vorlesen – ein damals völlig normaler Vorgang, denn natürlich waren in dieser Zeit noch sehr viele einfache Menschen völlig unbewandert in der Kunst des Lesens und Schreibens. Aber das Bildungswesen war hinreichend fortgeschritten, um dafür zu sorgen, daß in einer Dorfgemeinschaft aus mehreren hundert Personen sicherlich einer dabei war, der halbwegs lesen konnte und kein Priester war.
Die Erfindung des Buchdrucks etwa ein halbes Jahrhundert vor Luthers Auftreten tat sein übriges dazu. Luthers Bibelübersetzung kam zu einer Zeit, in der die Anzahl an Druckereien und Verlagen in Europa geradezu explosionsartig anstieg. Das vorher in Klöstern gelagerte Wissen verbreitete sich in einer Geschwindigkeit, die vorher undenkbar gewesen war.
Und da es natürlich mehr zu lesen gab, wollten die Leute auch mehr lesen und dazu mußte man es lernen. Diejenigen, die es ohnehin konnten, kamen plötzlich  exponentiell mit neuem Wissen in Kontakt, was zu neuen Gedankengängen führte, darunter zwangsläufig auch einige, die den damaligen Inhabern von Macht und Einfluß ungelegen kommen mußten. Continue reading →