Das wahre Morgen

– III –

Vorboten

»Insanity is relative. It depends on who has who locked in what cage.«
Ray Bradbury

Ein amerikanischer Professor fragte einmal seine College-Studenten, wie weit sich denn der Mensch in ihrer Lebenszeit von der Erde entfernt hätte. Also etwa seit 1980, das ist schon eine Weile her und auch Studenten werden älter.
Die minimal mögliche Antwort war „600 Kilometer“. Das entspricht etwa einem Zehntel des Erdradius, denn unser Heimatplanet weist einen Äquatorialdurchmesser von 12.756 Kilometern auf und ein Radius ist ein halber Durchmesser.
Diese Zahlen habe ich jetzt nicht nachgeschlagen, die liegen in meinem Kopf rum, seitdem ich irgendwann Anfang der Achtziger begann, jede Menge Zeugs über Astronomie zu lesen, vorwiegend mit unserem Sonnensystem als Hauptdarsteller. Ein paar Dinge sollte man über den eigenen Planeten wissen, beispielsweise die mittlere Dichte von 5,5 Gramm/cm³ oder die Fluchtgeschwindigkeit von 11,18 km/s oder die Schwerebeschleunigung von 9,81 m/s². Ganz besonders, wenn einen der Collegeprofessor schwierige Dinge fragt.

Die weiteren Antworten im Angebot waren 6.000 Kilometer, also ein ganzer Erdradius. Dann 36.000 Kilometer. Das mag seltsam erscheinen, ist aber die gerundete Zahl für einen geosynchronen bzw. geostationären Orbit.
Geosynchron bedeutet lediglich, daß sich der umlaufende Körper exakt so schnell um die Erde bewegt, wie diese selber rotiert. Dabei kann das Objekt auch gegen die Rotationsrichtung der Erde fliegen – das wäre ein gegenläufiger Orbit. Oder es fliegt über die Pole, dann ist das eine Polarbahn.
Der spezielle Spezialfall ist der erwähnte geostationäre Orbit. Die exakte Zahl hierfür ist 35.786 Kilometer. Denn nach den Gesetzen, die der schon einmal erwähnte Herr Kepler im 16. Jahrhundert aufstellte, bewegen sich Dinge, die um andere Dinge kreisen, um so langsamer, je weiter weg sie sind. Oder um so schneller, je näher sie dran sind.
Die Umdrehungsgeschwindigkeit der Erde beträgt 465 Meter pro Sekunde. Was nicht besonders beeindruckend klingt, sich aber auf etwa 1.670 Kilometer pro Stunde summiert, was wiederum eine ganze Menge ist. Nur in dieser einen Entfernung ist ein Satellit also so schnell, daß er immer über dem gleichen Punkt der Erdoberfläche steht. Bei sehr vielen Wetter- und Kommunikationssatelliten ist das der Fall. Ein geostationärer Orbit liegt deshalb auch immer auf Äquatorhöhe.

Die angefragte Höhe von 600 Kilometern läuft astronomisch unter „LEO“, das ist die Abkürzung für Low Earth Orbit. Die Entfernung von 6.000 Kilometern liegt bei „MEO“, was, logisch konsequent, Medium Earth Orbit bedeutet. Er liegt zwischen 2.000 und den besagten 36.000 Kilometern, die der Professor als dritte Möglichkeit anbot.
Die Möglichkeit Nummer Vier lautete dann „385.000 Kilometer“. Ebenfalls eine Zahl, die ich aus Jugendtagen heraus sofort erkennen würde. Sie bezeichnet die mittlere Entfernung von der Erde zum Mond. Möglichkeit Fünf lautete schlicht „Jenseits des Mondes“. Continue reading →

Geistiger Grillanzünder

,,Es ist besser, ein einziges kleines Licht anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen.“

Konfuzius

Eine Zeit, in der aus einer ländlichen Kultur eine städtische wird, aus einer kommunalen eine stark individualistische. Eine Zeit beständiger Kriege und Kleinkriege. Unaufhaltsame technologische Veränderungen drängen in den Alltag. Beängstigende neue Waffen mit vorher nie gesehener Zerstörungskraft. Neue Wege der Kommunikation und des Denkens. Alte Hierarchien, in der Politik und im Religiösen, im weltlichen wie im spirituellen Leben, die nicht mehr in der Lage sind, der sich schnell verändernden Lage Herr zu werden.
Verzweifelung in den Konferenzen der Herrschenden, die nicht so recht zu verstehen scheinen, was um sie herum passiert und warum es passiert. Ein weitverbreitetes Empfinden von Angst und Unsicherheit angesichts einer sich verändernden Welt, deren Wandelgeschwindigkeit kaum noch zu verfolgen ist. Eine Zeit des Zusammenbruchs, aus der neue Sichtweisen der Welt entstehen. Neue Arten, zu leben. Neue Auffassungen darüber, was es bedeutet, Mensch zu sein. Welchen Platz Mensch in der großen Matrix der Dinge einnimmt.

Klingt beängstigend nach unserer heutigen Zeit. Ist aber die Beschreibung der Achsenzeit, wie Karl Jaspers sie verwendet.
Jaspers, seines Zeichens in der Rubrik „Philosoph“ tätig, prägte den Begriff Achsenzeit im Rahmen seiner Arbeit im Jahre 1949. Er bezeichnet damit eine Periode, die sich etwa vom 8. bis zum 3. Jahrhundert vdZ erstreckt.
In dieser Zeit kam es in den beherrschenden Regionen der Erde zu großen Veränderungen in der menschlichen Lebensweise. In den Zivilisationen von China, Persien, Griechenland, Indien und im Nahen Osten breiteten sich ökonomische, technologische und gesellschaftliche Veränderungen aus, die noch nie dagewesen waren.
Die Eisenverarbeitung war eine dieser Veränderungen. Die Entstehung großer Städte, etwas, das wir heute Urbanisierung nennen würden. Mündliche Kulturen verschriftlichten sich, zum Beispiel die griechische, in der ein Dichter namens Homer die Ilias zu Papier oder besser, zu Pergament brachte und somit eine Geschichte festhielt, die schon Jahrhunderte vorher erzählt worden war. Ich hatte das schon mal irgendwo erwähnt, glaube ich.
Marktwirtschaft breitete sich aus. Ja, Marktwirtschaft und Kapitalismus sind tatsächlich Dinge, die nicht deckungsgleich sind, wie es uns heute immer gerne erzählt wird und wie wir das gerne annehmen, sei es aus Ahnungslosigkeit oder Bequemlichkeit.
Nach den Worten von Jaspers wurden in dieser Zeit „die Fundamente gelegt, auf denen die Menschheit noch heute steht“. Und das halte ich als Aussage für vollkommen korrekt.

Geschichte. Das ist einer der Gründe, warum ich hier, in diesem Blog, nicht ausschließlich irgendwas über den Kapitalismus erzähle. Also das, was heute unsere vorherrschende Wirtschaftsform darstellt. Denn diese Art des Wirtschaftens und des Verständnisses von Ökonomie ist noch nicht sonderlich alt. Im besten Falle 250 Jahre. Es ist etwas schwierig, das genau einzuordnen, denn – wer hätte es gedacht – Kapitalismus ist nicht einfach so entstanden, wie er heute ist.
Wir laufen nicht in einer Abstraktion herum, die sich „Kapitalismus“ nennt. Oder „Neoliberalismus“. Oder „Globalisierung“. Diese Dinge, diese Begriffe sind entstanden über einen Zeitraum hinweg. Sie haben also eine Geschichte, sie sind Geschichte und sie erzählen eine.
Innerhalb dieser Geschichte haben sich die Bedeutungen dieser Begriffe auch gewandelt. Das Vorstellungsbild im Kopf von Menschen bei einem Wort verändert sich im Laufe der Zeit. Wie ich auch schon mal hier und da erwähnte, denken wir Menschen in Geschichten. In Erzählungen. In Bildern.
Die Welt des Geistes, der Vorstellung von Menschen – und somit einer menschlichen Gesellschaft – muß sich mit der Wirtschaft und der Technologie weiterentwickeln.
Irgendwann erreicht eine Gesellschaft unweigerlich einen Punkt ihrer Entwicklung, an dem alte Antworten auf wichtige Fragen sich als beklagenswert unzureichend entpuppen. Als nicht länger angemessen. Sogar als schädlich.
In diesem Falle, in einer Gesellschaft im Umbruch, muß man neue Antworten finden. Oder womöglich neue Fragen stellen. Oder beides. Der Zusammenbruch einer Gesellschaft ist nur eine spezielle Form von Umbruch.
Das alles ist keinesfalls Zeitverschwendung. Um die richtigen Fragen zu stellen, muß man vorher über eine Thematik gründlich nachgedacht haben. Um Antworten zu finden, auch. Continue reading →

Mythopolis

– I –

Das Morgen von gestern

„Eine der Definitionen geistiger Gesundheit ist, das Wirkliche vom Unwirklichen unterscheiden zu können. Sehr bald werden wir eine neue Definition brauchen.“
Alvin Toffler

Die Fortschritte der Technik erfolgen in immer kürzeren Abständen. So lautet der Einleitungssatz der Stimme aus dem Off in einer Dokumentation über Nanotechnologie, die ich mir neulich angesehen habe.
Im Bereich der Nanotechnologie geht es, wie der Name schon vermuten läßt, um Größenordnungen kleiner zu als in der Mikrotechnologie, die uns so etwas Großartiges wie den modernen Computer und das Smartphone geschenkt hat. Wobei, geschenkt würde ich jetzt nicht sagen bei den Preisen.
In der Nanotechnologie sind also die Dinge, die woanders in Mikron gemessen werden – das sind Tausendstel eines Millimeters – noch viel kleiner. So klein, daß ein einzelnes Nano sich in einem Mikron vorkäme wie unsereiner alleine im Mittelmeer. Letztlich sind die Ingenieure heute in der Lage, ein einzelnes Atom zu manipulieren oder Maschinen zu bauen, die aus nur wenigen Atomen bestehen. Das ist in der Mikrotechnologie nicht viel anders. Innerhalb einer modernen CPU in einem Computer wie dem, der auf meinem Schreibtisch steht, werden diverse Elemente übereinandergeschichtet. Viele dieser Lagen sind nur wenige Moleküle dick. Aber ein Molekül besteht eben aus mehreren Atomen.
In der Nanotechnologie wäre es möglich, aus beliebigen Atomen beliebige Moleküle zu bauen, sofern deren Zusammensetzung bekannt ist. Allerdings würde es relativ lange dauern, eine Zahnbürste herzustellen, da die etwa 76 Bazillionen Atome enthält. Wenn die alle erst mit einem Kran an die richtige Stelle gebracht werden müßten, könnte das etwas Zeit erfordern. So zwei, drei Jahrtausende.

Eine industrielle Nanoproduktion von irgendwelchen Dingen, so wie der Replikator in Star Trek sie vorführt, steht also eindeutig derzeit nicht zur Debatte.  Mit Hilfe der reichlich vorhandenen Energie des Antimaterie-Reaktors werden hier Moleküle zusammengebastelt, die dann, entsprechend zusammengesetzt, etwas ergeben, das ein bißchen – aber nicht völlig – anders schmeckt als Curryhuhn mit Reis oder Tomatensuppe, für die über 200 Rezepturen vorliegen. Oder Tee. Earl Grey. Heiß.
Wobei das natürlich ein bißchen geschummelt ist, denn irgendwo muß der Replikator eine Quelle für seine Moleküle haben, er arbeitet nicht auf atomarer Ebene. Es muß also an Bord der Enterprise-D eines Captain Picard ein Lager mit Rohmasse geben, mit der die Replikatoren beschickt werden, einen Molekülvorrat sozusagen.
Ich hätte ja gerne so ein System, damit ich nie wieder Abspülen muß. Von allen Haushaltstätigkeiten mag ich diese mit Abstand am wenigsten. Und natürlich ist der Replikator jederzeit in der Lage, die benutzte Teetasse des Captains wieder in ihre Rohform aufzulösen. Wie praktisch ist das denn?

Es sind Serien wie diese und unzählige Filme im SF-Bereich, die uns allen den Basismythos unserer Zivilisation vorgeben. Geschichten, die nur aufgrund dieses Mythos überhaupt erst entstehen konnten. Der Mythos des Fortschritts und der umfassenden Allmacht der Technologie.
Aber was genau ist das eigentlich, Technologie?
Und warum nenne ich Fortschritt einen Mythos, denn das habe ich ja inzwischen in einigen anderen Texten ebenfalls getan?
Nun, ich fürchte, dazu muß ich etwas weiter ausholen. Denn um die Grundannahmen, auf denen unser Alltag beruht, ordentlich zu zertrümmern, muß man eben auch weit ausholen, sonst funktioniert das nicht. Aber es macht unglaublichen Spaß. Continue reading →