Zwanzigneunzehn

Das Jahr Zweitausendachtzehn des allgemein benutzten Kalenders ist irgendwie mit einer Art Ruhe zu Ende gegangen, die zwischen drogenbetäubtem Schnarchen auf dem Sofa und paralysierter Hysterie einzuordnen wäre.
In den USA war schon vor Weihnachten alles ruhig. Dank eines erneuten Haushaltsstreits sind wichtige Regierungsinstitutionen und solche, die sich für wichtig halten, gerade geschlossen. Ein Shutdown. Mal wieder. Grund dafür ist die beleidigte allmächtige Leberwurst im Oval Office, die ihren Kongreß nicht mal dazu kriegen kann, ihr die fünf Milliarden Dollar zu genehmigen, die Donald Trump für die größte, schönste und vor allem wichtigste Grenzmauer der Welt braucht.
Abgesehen davon, daß diese Summe nach den ersten vierzig Meilen aufgebraucht sein dürfte, drängt sich mir automatisch die Frage auf, warum denn Mexiko die Mauer nicht einfach bezahlt?
Schließlich war das doch die Ansage der präsidialen Wurst im Wahlkampf vor zwei Jahren. Irgendwie scheint das völlig untergegangen zu sein, habe ich den Eindruck.
Auch seine Fans halten sich auffallend damit zurück, das Weiße Haus mit reichlichen Spenden zu fluten, um die endgültige Übervögelung durch Migrantenfluten biblischen Ausmaßes zu verhindern. Seltsam eigentlich. Wo doch keine Gefahr des Planeten größer ist als abgerissene Gestalten ohne Hab und Gut, die von da, wo sie mal zu Hause waren, einfach deshalb weggegangen sind, weil man an diesen Orten nicht länger das eigene Überleben sichern kann. Fast könnte man sich nach Europa versetzt fühlen, wenn man dem Twittergetöse von Donald Leberwurst zuhört. Unter den Behörden, die aus Geldmangel derzeit stilliegen, ist auch das „Department of Homeland Security“, also die ungeheime Staatspolizei-Schlägertruppe, deren Gründung noch auf George II aus Texas zurückgeht. Aufgabenbereich ist unter anderem der Grenzschutz.

Worüber die Wurst auch nicht twittert, sind die eher verhaltenen Abschlüsse der Börsenkurse für das gerade vergangene Jahr. Erstmals seit der Tulpenhysterie von 1636 hat der Dow Jones es nicht geschafft, seinen völlig überzogenen Wert um weitere absurde Prozentzahlen zu steigern, sondern beendet das Jahr mit einem Minus. Was nichts an der Tatsache ändert, daß die aktuellen Zahlen noch immer jeglichem Realismus Hohn sprechen. So lange diese Kurse dank eines Strohfeuers aus Steuersenkungen und großmäuligen Wirtschaftskriegen in exorbitante Höhen stiegen, war sich Mr. Präsident nicht zu schade, täglich auf allen Kanälen verkünden zu lassen, daß diese Entwicklung selbstverständlich nur seiner groß-ar-ti-gen Führung zu verdanken ist und America sicherlich bald wieder so great sein würde wie seit dem Sieg Washingtons bei Gettysburg nicht mehr. Oder so in der Art.
Dummerweise sagen jetzt aber alle Indices und auch Ökonomen, die diese Dinger benutzen, daß die Weltwirtschaft nicht so wächst, wie sie das erwartet haben. Ein Phänomen übrigens, das nun schon mehrere Jahre anhält. Was einiges über die Erwartungshaltung von Standardökonomen aussagt und noch mehr über den ideologischen Überbau, dem sie normalerweise so folgen.
Ich denke ja, die Standard-BWL-Typen haben schlicht und einfach keine Ahnung von Physik oder Systemtheorie. Außerdem sind sie beschissene Historiker. Diese Nummer mit explodierenden Börsenkursen, die völlig losgelöst und jenseits aller Stromschnellen des Wahnsinns in den gemütlichen Gewässern des totalen Realitätsverlustes ökonomisch vor sich hinwichsen, gab es schon einmal. So um 1929, glaube ich. Continue reading →

Das wahre Morgen

– VII –

Science Fiction…

„Die einzig revolutionäre Kraft ist die
menschliche Kreativität. Die einzig revolutionäre
Kraft ist die Kunst.“

Joseph Beuys

Wenn unsere Kunstformen ein Indiz dafür sind, wohin die Reise unserer Zivilisation geht, dann ist eindeutig Vorsicht geboten. Aber gleichzeitig ist Kunst die einzige Form der Verständigung, die einzige Möglichkeit der Kommunikation, die noch bleibt angesichts der Sprachlosigkeit, die das Ende eines Zeitalters immer zu begleiten scheint. Sie ist auch die einzige Möglichkeit, das andere Symptom zu überwinden: Die gnadenlose Geschwätzigkeit über vollkommen unwichtige, oberflächliche Dinge, diesen verzweifelten Versuch, Dinge, die längst nicht mehr normal sind, dadurch als normal erscheinen zu lassen, daß sie in einer Flut aus Belanglosigkeit ertränkt werden.
Kunst ist die einzige Möglichkeit, noch etwas auszurichten, etwas zu verändern, etwas anzusprechen in Menschen und Einfluß zu nehmen auf die Dinge, die da kommen werden. Alles andere hat versagt.

Eine der am weitesten verbreiteten Kunstformen ist die Literatur. In meinem speziellen Fall natürlich die Literatur aus dem Genre Science Fiction und Fantasy.
Denn die Aufgabe dieser Gattung des Gedruckten war es schon immer, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Natürlich ist auch diese Kunstform nicht immun gegen den Verlauf der Zeit und den Einfluß der realen Welt. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, daß Menschen die derartige Literatur schreiben, völlig weltfremde Spinner sein müssen oder sind, irgendwie abgehoben.
Ganz im Gegenteil waren ein Großteil der erfolgreichsten und einflußreichsten SF-Autoren des 20. Jahrhunderts von ihrer eigentlichen Ausbildung her Naturwissenschaftler oder in Berufen tätig, die eine recht hohe Affinität zur Realität erfordern. Es ist quasi unabdingbar, die Realität der Welt gut einzuschätzen, wenn man eine brauchbare SF-Geschichte schreiben möchte.
Außerdem ist die Gattung „Science Fiction“ deutlich älter als gemeinhin von den Lesern anderer Genres angenommen wird. Oder von denen, die eben nur ins Kino gehen. Heute, nach etwa anderthalb Jahrhunderten der Entwicklung, bietet gerade die Science-Fiction-Literatur eine ganze Menge Zukunftsvisionen, die ganz schön von gestern sind. Ein geradezu perfektes Material für eine Kassandra. Oder Blogger in ihrer Bambushütte am Rande der Gesellschaft. Continue reading →

Verfallende Umlaufbahn

 

„We are entering the Dark Ages, my friend, but
this time there will be lots of neon, and screen savers, and street lighting.”
Edward St. Aubyn, Lost for Words

+++ Missionstag 8064. Eintragskennziffer 45-1798. Finaler Protokolleintrag. +++

Kontinente breiten sich aus unter mir. Im gleichmäßigen Rhythmus von neunzig Minuten gleiten sie vorbei. Erst von hier habe ich erkannt, wie gigantisch riesig die Wasserfläche des Pazifik ist. Das Gegenstück dazu ist Eurasien. Diese gewaltige Scholle aus Erde mit ihren unendlichen Weiten und mehr als der Hälfte der Weltbevölkerung auf ihr. Ein Ozean aus Land und Menschen.

Von hier oben betrachtet wirkt das alles winzig. Bedeutungslos. Spielzeug. Puzzleteile, die auf den Boden gefallen sind und auf die man herunterschaut. Nirgendwo auf dieser Welt unter meinen Füßen – metaphorisch gesprochen – sind Linien zu sehen, die eine Gegend von der anderen trennen.
Linien an sich gibt es jede Menge. Das Glitzern des Amazonas, das größte Süßwassersammelgebiet der Erde. Das Niltal, dieses Band aus Blaugrau und Grün. Wie ein fieser Bluterguß zieht es sich durch die Landschaft. Eine Narbe aus Lebensraum. Schon vor 5.000 Jahren haben hier Menschen gesiedelt und das An- und Abschwellen des Flusses für ihre Zwecke genutzt. Kein Pharao war jemals gottgleicher als ich, wenn ich über diese Region ziehe.

Es gibt eine Menge anderer Linien. Die Reisfelder Südostasiens sehen aus wie ein endloses Schachbrett. Ich muß immer an die Legende denken, die in den Datenbanken als „Indisches Reisbrett“ oder „Schachbrettaufgabe“ gespeichert ist, wenn ich über diese Gegend hinwegziehe.
Der Legende nach wollte sich ein weiser Mann – und Erfinder des Schachspiels – für seinen Rat an den Herrscher nur mit Reis bezahlen lassen. Er verlangte ein Korn auf dem ersten Feld eines Schachbretts. Zwei Körner auf dem zweiten. Vier Körner auf dem dritten. Und so weiter, bis alle 64 Felder des Bretts gefüllt sein sollten.
Der lachende Herrscher gewährte den Wunsch nur zu gern. Doch das Lachen verging ihm, als sich sehr bald herausstellte, daß es im ganzen Land nicht soviel Reis gab, wie er gebraucht hätte, um den Wunsch des weisen Mannes nach Bezahlung zu erfüllen. Auf der ganzen Welt nicht.
Meine persönliche Moral aus der Geschichte war immer, daß weise Männer auch sehr hinterlistige Trickser sein können. Und das diese Exponentialfunktion, denn das ist die mathematische Rechnung dahinter, eine Zahl ergibt, die in die Trillionen geht. 18.446.744.073.709.551.615 Reiskörner, um genau zu sein. In anderen Varianten sind es Weizenkörner. In einer Variante schlägt der Rechenmeister dem Herrscher, der ob seiner Unfähigkeit zu zahlen sehr peinlich berührt ist, dann vor, man möge den Weisen doch die Körner zur Sicherheit selbst zählen lassen. Was für mich wiederum darauf hindeutet, daß auch Mathematiker hinterlistige Kerle sein können.

Würde der weise Mann heute noch einmal auftauchen, er könnte seine Bezahlung bekommen. Die Schachbretter unter mir erstrecken sich über Tausende von Kilometern. Die Zahl der Reiskörner dort unten muß in die Quintillionen gehen.
Aber sie sind trotzdem zu wenige, um den Hunger der größeren Körner zu stillen, die dort unten existieren. Continue reading →

Mythopolis

– II –

Wenn King Kong Meister Yoda trifft

„What is today but yesterday’s tomorrow?“
Eugene Krabs

Nach der festen Überzeugung sehr vieler Menschen, oder besser, nach der Doktrin ihres Glaubens, ist also das, was man allgemein Fortschritt nennt, eine unaufhaltsame Macht, die alle Probleme der Menschheit lösen wird.
Es mag und ab und zu Rückschläge geben, aber am Ende wird die Technologie siegen und die Beherrschung des Universums ein weiteres Stück näher an die Hände dieser Horde aus Primatenabkömmlingen heranrücken, die den dritten Planeten einer durchschnittlichen Sonne in unserer Galaxis bewohnen. Selbst ich schreibe „unsere” Galaxis, ohne zu zögern. So, als hätten wir die ganze Hütte bereits für uns gepachtet.
In dieser Welt kommt die Kavallerie immer rechtzeitig. Das Gute muß das Böse besiegen, ein anderer Ausgang ist nicht denkbar.
King Kong, der Riesengorilla, konnte unmöglich gegen die anfliegenden Helden gewinnen, die hysterisch kreischende Fay Wray womöglich in den Abgrund fallen lassen und danach von der Höhe des Empire State Building seinen Triumph über die Stadt New York hinausschreien. Es ist völlig unmöglich, daß am Ende des Duells mit blitzenden Lichtschwerten Meister Yoda am Boden liegt und seine letzten Worte sind: „Zu langsam ich war.”

Nein, das ist ein Ausgang der Geschichte, der niemals vorkommen kann, denn wir wollen, daß er nicht vorkommen kann.
Der Mythos des Fortschritts hat längst seine Legenden geschaffen und sie schon in die Köpfe unserer Großeltern gesetzt. Ein Charlie Chaplin drehte „Moderne Zeiten”, ein Harold Lloyd einen Film wie „Ausgerechnet Wolkenkratzer“, das ist der mit der berühmten Szene, in der Lloyd von den Zeigern einer Turmuhr herunterbaumelt.
Beide Filme stehen dem Fortschritt in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhundert sehr skeptisch gegenüber. Auch ein Film wie „Metropolis” von Fritz Lang zeigt völlig andere Untertöne des angeblichen Fortschritts als diejenigen, die man üblicherweise so gerne betont.
Aber wie ich schon letzte Woche sagte, braucht jede Religion ihre Ketzer, ihre Häretiker und bringt automatisch ihre Anti-Religion hervor.

Nirgendwo läßt sich das besser sehen als in diesen alten Filmen. Die Religion des Fortschritts hat in Metropolis den Moloch der durchsynchronisierten Gesellschaft  erschaffen. Die Gesellschaft ist geteilt in eine dünne Schicht der Eliten und die große Masse, die alles an Luxus und Wohlstand erschaffen und erarbeiten muß, von dem diese Oberklasse lebt. In Metropolis haben die Reichen und Superreichen ihren 24-Stunden-Tag. Die Zeit der geistlosen Masse, der unermüdlichen Arbeiter im Stock, ist in einen 10-Stunden-Rhythmus unterteilt, eben die Länge einer Schicht.
Wie im 1895 erschienenen Roman „Die Zeitmaschine” von H.G. Wells gibt es auch bei Lang Morlocks und Eloi und die einen fressen die anderen auf. Allerdings leben die Morlocks in Metropolis nicht unter der Erde, sondern in prächtigen Penthouses über der Stadt, weit weg von ihrem Lärm, ihrem Elend und der Sklavenarbeit.
Wells war wenigstens noch so fair, die Bösen unter die Erde zu verbannen und die Eloi ein sorgloses Leben in einem Paradiesgarten führen zu lassen. Continue reading →

Ein Fundament aus Lügen

„Alles Geld ist nur eine Frage des Vertrauens.“
Adam Smith

Ökonomische Aktivität erfordert Geld.
Würden alle Leute ihre Schulden bezahlen, wäre alles in Ordnung.
Endloses Wachstum auf einem endlichen Planeten ist möglich.

Alle diese Annahmen haben eines gemeinsam: Sie werden uns im Laufe eines Lebens immer und immer wieder von verschieden Seiten erzählt. In Zeitungen, im Fernsehen oder online – immer wieder stößt man auf diese Narrative, die geduldig von Menschen in Anzug und Krawatte wiederholt werden wie ein buddhistisches Mantra von murmelnden Mönchen.
Alle diese Annahmen sind ein Teil der Wirtschaftstheorie, die das Fundament unserer globalen Zivilisation bildet, ein fester Teil der Überzeugungen von sehr vielen Menschen. Alle haben einen weiteren Punkt gemeinsam: Sie stimmen nicht.

Angenommen, eine Dorfgemeinschaft aus einigen hundert Menschen möchte dem Dorf ein weiteres Haus hinzufügen, für ein frisch verheiratetes Paar zum Beispiel.
Was passiert?
Nun, die Leute ziehen einfach los, fällen Bäume, bearbeiten sie entsprechend, und beginnen mit der Errichtung eines ordentlichen Holzhauses. Gutes Wetter vorausgesetzt, ist die Arbeit nach einer oder zwei Wochen abgeschlossen. Ein kleines, aber gemütliches und mit allem Komfort ausgestattetes Gebäude steht fertig zum Bezug.
Was dafür gebraucht wurde war Holz, für einen Großteil des Hauses. Glas für seine Fenster, die in diesem Falle mit ihrer größten Fläche südwärts zeigen. Steine für einen gemauerten Kamin und einen möglichen Kellerausbau. Dazu natürlich Arbeitskraft. Von Steinmetzen und Zimmerleuten, von Holzfällern und Schreinern und Bauarbeitern. Geld spielte hier nirgendwo eine Rolle. Continue reading →