Das wahre Morgen

– IV –

Die Trägheit der Masse

»Politics is the entertainment branch of industry.«
Frank Zappa

Die Liste der beliebtesten deutschen Kindernamen wird aktuell von Mia, Emma, Sofia, Ben, Paul und Jonas angeführt. Früher, zu anderen Zeiten, waren es Friedrich, Helga, Hans, Horst und Günter. Aber tatsächlich ist das alles gelogen. Die liebsten Kindernamen der Deutschen sind Volkswagen, Audi, Mercedes, Porsche und BMW.
Das und nichts anderes ist die Wahrheit.

Seitdem ein Herr namens Gottlieb Daimler 1885 den Verbrennungsmotor erfand, ist dieses Ereignis aus der deutschen Geschichte nicht mehr wegzudenken.
Drei Jahre später raffte eine wagemutige Frau ihre Reifröcke zusammen, lud sich selbst nebst ihren zwei Söhnen auf die pferdelose Kutsche, die ihr Mann zusammengezimmert hatte, und ließ diese von Pforzheim nach Mannheim galoppieren. Oder traben, viel mehr war da noch nicht zu erwarten.
Unterwegs mußte sie einmal eine verstopfte Benzinleitung reparieren und ein anderes mal die kaputte Zündung. Hutnadel und Strumpfband halfen da weiter. So steht es geschrieben und ich will es nicht in Zweifel ziehen, obwohl ich mir beileibe nicht vorstellen kann, was ein Strumpfband mit einer Zündung zu tun hat. Auf dem Weg mußte die Dame nachtanken und dazu kaufte sie „Ligroin” in einer Apotheke. So hieß damals das Benzin, denn Ligroin ist Leichtbenzin.
Die Firma ihres Mannes Carl, gegründet mit der vorzeitig ausgezahlten Mitgift von Berta Benz, wäre ohne diese 104 Kilometer lange Fahrt wohl kein Erfolg geworden. Die erste erfolgreiche Fernfahrt räumte dem „Patent-Motorwagen Nr. 3” wie das damalige Flaggschiff des späteren Weltkonzerns Daimler-Benz hieß, den Weg frei. Was Autos angeht, könnte man also durchaus zu recht sagen, daß an allem mal wieder die Frauen schuld sind.

Nach und nach wurden aus zusammengedengelten Tuckermonstern echte Autos, als Entwickler auf die Idee kamen, daß eben eine Kutsche ohne Pferde nicht aussehen muß wie eine mit Pferden.
Ganz allmählich konnte man Benzin auch woanders kaufen als in Apotheken oder im Drogeriefachhandel. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt das 20. Jahrhundert bereits angebrochen. Der Verbrennungsmotor ermöglichte es dem Menschen, sich erstmals gesteuert in die Lüfte zu erheben und war im Ersten Weltkrieg bereits zu einem leistungsfähigen Gerät herangereift. Hatte die modernste Version des Benz-Motorwagens Nr. 3 aus dem letzten Produktionsjahr 1896 bei zwei Litern Hubraum noch drei Pferdestärken, flog der als „Roter Baron“ berühmt gewordene Freiherr Manfred von Richthofen im Jahre 1917 mit einem Fokker-Dreidecker Dr. 1 durch die Gegend, der schon satte 110 Pferdestärken aufwies, allerdings auch 15 Liter Hubraum hatte. Das würde sich heute nicht mal mehr der Porschefahrer trauen. Continue reading →

Das Rasiermesser des Fortschritts

„Our 21st century economy may focus
on agriculture, not information.“
James Howard Kunstler

Fortschritt ist etwas, das genauer betrachtet werden muß. Fragt man ein Dutzend Menschen, was genau er denn sein soll, dieser Fortschritt, bekommt man ungefähr zwei Dutzend Antworten. Selbst dann, wenn sich unter den Befragten kein einziger Arzt oder Anwalt befindet.

Viele Antworten laufen darauf hinaus, daß früher – wann immer genau dieses früher jeweils stattgefunden haben soll – ja alles viel mühsamer gewesen ist.
Da mußten Menschen auf Feldern arbeiten, um irgendwie Nahrung für andere zu erzeugen. Oder es gab keinen elektrischen Strom, geschweige denn in jedem Haus oder jeder Wohnung ein Badezimmer. Menschen starben an Krankheiten, die heutige Ärzte nicht mal mehr richtig diagnostizieren könnten, weil sie die niemals in ihrem Leben zu Gesicht bekommen.
Mühselig mußte man mit der Hand Wäsche waschen, den Boden kehren statt staubsaugen oder in heutigen Zeiten von einem dieser idiotischen Staubsaugerroboter saugen zu lassen.
Ausnahmslos alle diese Antworten zielen ein wenig am Kern der Sache vorbei, was aber auch kein einziger der Antworter bemerkt hat.
Alle diese Antworten beantworten die Frage: „Glaubst du daran, daß es Fortschritt gibt?“
Diese Frage habe ich aber nie gestellt. Meine Frage lautete „Was ist Fortschritt?“

Natürlich gibt es Fortschritt, wenn man diesen Begriff als Entwicklung von einer Technologie zur nächsten auffaßt. Wer vorher nur Holzspeere benutzt hat, wird ein Speerblatt aus Stein großartig finden. Wer vorher nur eine Steinaxt hatte, der wird von einer Bronzeaxt geradezu begeistert sein. Und dieses Eisen erst, unglaubliches Metall!
Genau so verstehen die Menschen heutzutage „Fortschritt“. Als lineare Entwicklung von etwas, das irgendwie weiter unten steht, zu etwas, das irgendwie besser sein soll. Vor dem Dampfschiff gab es Segelschiffe und davor mußte man halt Rudern. So ungefähr läuft der Gedankengang im Kopf der Menschen ab.

In Wirklichkeit ist Fortschritt eher etwas Abstraktes. Niemand – oder zumindest nur sehr wenige Menschen – scheinen die Frage zu stellen, wer denn eigentlich bestimmt, daß etwas Technologisches jetzt so klar und eindeutig  besser ist. Nach welchen Kriterien wird das beurteilt und von wem? Continue reading →