Mythopolis

– IX –

Das Knirschen von Sand

„Ihr glaubt bereitwillig an alles Unsichtbare. Aber was euch direkt ins Gesicht springt, wollt ihr nicht sehen. Es gibt dafür eine wissenschaftliche Erklärung:
Ihr seid doof.“
Doctor Who

Nicht immer sind negative Seiten der technologischen Entwicklung so offensichtlich wie bei der Verwendung von Kernenergie, deren Rückbau und Ende den Steuerzahler mindestens soviel Geld kosten werden wie die ganzen staatlichen Subventionen, die in den letzten 45 Jahren an diesen Industriezweig geflossen sind. Trotzdem gibt es immer noch Menschen, die die Mär vom billigen Atomstrom papageienmäßig wiederholen. Weil sie daran glauben wollen. Denn ansonsten müßten sie sich eingestehen, jahrzehntelang wie die Idioten an eine Lüge geglaubt zu haben. Menschen tun so etwas sehr ungern.
Stattdessen glaubt man lieber weiter an die Dinge, die man kennt und die einem von den Priestern der Fortschrittsreligion so angepriesen werden.
Deswegen heißen Priester eben so, zumindest vermute ich das. Weil sie anpreisen, was der jeweilige Gott so alles drauf hat und was für ein toller Hecht er doch ist. Oder was für eine zarte Forelle, falls es sich um eine Göttin handeln sollte. Die Religion von Fortschritt und Technologie bringt auch besonders sehenswerte technologische Tempel hervor. Außerdem natürlich „Wunder“, die sehr wohl funktionieren. Zumindest für eine Weile. Wenn das Wartungsbudget nicht gekürzt wird. Oder die Garantie abgelaufen ist.
Gute Werbung ist also offenbar sehr nützlich, wenn man anderen etwas als unverzichtbar und besonders großartige Errungenschaft verkaufen möchte. Wenn es dann auch noch einen handfesten Charakter hat, also ein irgendwie greifbares Dingsbums ist, werden die Kriterien schon etwas klarer. Wenn man Menschen heute fragt, worauf sie nicht mehr verzichten können im Alltag – die berühmte „einsame Insel“-Frage, bekommt man in den Antworten eine Auflistung von allem möglichen Mist geliefert, der nicht den geringsten Wert hat. Ich würde auf die einsame Insel jedenfalls eher eine Axt mitnehmen als ein Smartphone.

„Technologie“ oder – in meinen Begriffen hier in diesem Blog – die genaue Ausformung der Technosphäre ist immer auch eine Entscheidung der Gesellschaft.
Zumindest wird uns das eingeredet. In Wahrheit funken einem die Kräfte der viel gepriesenen freien Marktwirtschaft natürlich ständig dazwischen.
Es gab nie eine Entscheidung der Gesellschaft für die vorgeblich zivile Nutzung der Kernenergie. Es gab eine politische Entscheidung, denn mit Reaktoren hat man die Hand eben auch irgendwo immer auf dem Stoff, aus dem die Bomben sind. Die Tatsache, daß Nationen wie Japan oder Deutschland über keine eigenen A-Waffen verfügen, ist ja nun nicht etwa technologischem Unvermögen geschuldet, sondern der Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Der freie Markt ist an solchen Stellen also normalerweise eben kein Markt. Und frei ist er auch nicht, denn der freie Markt ist auch einer dieser Mythen, an die unsere Gesellschaft so gerne glauben möchte. Er funktioniert hier schlicht kommandowirtschaftlich. Hitler konnte in Hydrierwerken aus Braun- und Steinkohle Sprit für Flugzeuge und Panzer gewinnen lassen, weil es geht. Nicht etwa, weil das Verfahren ökonomisch Sinn ergibt. Es ist nämlich bei weitem zu teuer. Würde man Benzin heute aus deutscher Steinkohle herstellen wollen, kostete der Liter Sprit vermutlich irgendwas um die acht Euro. Dann mal Prost.
Mit Atomkraft war es ähnlich. Die Franzosen reihten sich als Atommacht Nr. 4 in den Reigen ein, weil Charles de Gaulle die Bombe haben wollte und dazu brauchte man eigene Reaktoren. Da die Kolonialgebiete Uran liefern konnten, hat man die Reaktoren gebaut. Darum hat Deutschland auch keine eigenen Bomben, denn damit konnte Frankreich sicher sein, nicht noch einmal von deutschen Truppen überfallen zu werden. Deutschland hätte wiederum auch gerne die Bombe gehabt, Old Adenauer war jedenfalls sehr dafür, soweit ich das weiß. Nur gab es eben keine. Dafür stehen die Franzosen heute da und erzeugen siebzig Prozent ihrer Elektrizität aus Kernmeilern. Da fragt sich nur noch, wem zuerst das Licht ausgeht. Uns oder den westlichen Nachbarn. Sollte einer der Schrottmeiler an der deutschen Grenze wie Cattenom vorher noch platzen, werden womöglich doch deutsche Truppen noch einmal Frankreich überfallen. Wer weiß? Continue reading →

Mythopolis

– VIII –

Internet, AD 4000

„When you want to know how things really work, study them when they’re coming apart.”
William Gibson, Zero History

Die Bibliothek von Alexandria soll über zweihunderttausend Schriftrollen enthalten haben, gefüllt mit dem Wissen ihrer Zeit. Philosophie, Astronomie, Mathematik, dazu Dinge, die wir heute Anthropologie und Soziologie nennen würden.
Im Jahre 331 vdZ von dem Alexander gegründet, den heute noch alle kennen, wuchs die Siedlung rasch an, und etwa ein Jahrhundert später wurde dann die Bibliothek gegründet. Die Große Bibliothek, wie sie heute noch genannt wird.
Von ihrer Gründung an war dieser Ort ein Hort des Wissens, alles wurde hier gelagert. Menschen aus allen Ländern der damaligen Welt, also vorwiegend den Mittelmeerländern, kamen nach Alexandria, um bestimmte Dinge zu erfahren. Aber auch, um selber Werke zu schreiben und dazu eben Informationen aus der Bibliothek zu benutzen.
Alexandria wurde im Laufe der Jahrhunderte zu einem Leuchtturm des Wissens, dessen Licht weitaus heller und weiter strahlte als das des anderen, sehr berühmten Leuchtturms, der sich im Hafen der Stadt befand, des Pharos. Ebenso wie die Bibliothek eines der Sieben Weltwunder der Antike und ebenso wie fünf andere davon nicht mehr vorhanden in unserer Zeit.

Unzählige Rollen aus diversen Jahrhunderten waren hier gelagert. Alleine die Bibliothekare müssen über eine Kenntnis verfügt haben, die heutigen Kunsthistorikern in nichts nachstand. Denn sie waren es, die das Pergament oder Papyrus für den Zugriff durch andere verwalten mußten. Aber dazu braucht es ein System und das dürfte damals recht kompliziert gewesen sein.
Wir wissen heute nicht mehr, aus wie vielen Jahrhunderten die Geschichten auf den Rollen stammten und vor allem, was uns die Buchstaben so erzählt hätten. Denn bedauerlicherweise ging diese Ansammlung von Gelehrsamkeit, dieses geistige Leuchtfeuer, irgendwann im 3. Jahrhundert ndZ unter. Ein Brand fraß das sorgfältig gelagerte Wissen auf. Allerdings sind sowohl Art als auch Zeitpunkt dieses Verlustes nicht mehr genau bestimmbar. Da sich heute an dieser Stelle das moderne Alexandria erhebt, die zweitgrößte Stadt Ägyptens, sind Grabungen schwierig und bisher hat man von der Bibliothek keine Spuren gefunden.

Trotzdem wissen wir heute sowohl von der Bibliothek als auch von ihren Inhalten noch einiges. Denn natürlich kamen auch jede Menge Menschen nach Alexandria, um ein ganz bestimmtes Exemplar einer ganz bestimmten Schrift zu suchen. Und vor allem, um es mitzunehmen. Allerdings war die Bibliothek von Alexandria natürlich eine Präsenzbiblothek. Wirklich ausleihen konnte man sich da nichts.
Da sowohl der Buchdruck als auch der Fotokopierer damals noch ihrer Erfindung harrten, mußte man also eine Abschrift anfertigen lassen und von denen sind zum Glück wenigstens ein paar erhalten geblieben. Der Fotokopierer ist übrigens eine amerikanisch-österreichische Erfindung, keine japanische, ganz am Rande bemerkt. Ganz im Gegensatz zum Buchdruck mit beweglichen Lettern, den dürfen wir in unserem Kulturkreis sehr wohl als deutsche Erfindung vereinnahmen. Continue reading →

Mythopolis

– V –

Tess zwischen Tiefkühltruhen

„Civilizations die from suicide, not by murder.”
Arnold J. Toynbee

Etwas weiter weg befand sich ein weiterer unscharfer Umriß; dieser hier schwarz, mit einem anhaltenden Zischen, welches von großer, sich zurückhaltender Stärke kündete. Der lange Schornstein neben einer Esche und die Wärme, die von dem Punkt ausstrahlte, erklärte ohne die Notwendigkeit von viel Tageslicht, daß hier eine Maschine stand, die der Erste Beweger dieser kleinen Welt sein würde.
Neben der Maschine stand eine dunkle, bewegungslose Gestalt, eine verrußte und verschmutzte Verkörperung von Größe, in einer Art Trance, mit einem Haufen Kohlen an ihrer Seite. Solche Abgrenzung durch sein Auftreten und seine Farbe verlieh ihm den Eindruck einer Kreatur aus dem Tophet, abgeirrt in die durchsichtige Rauchlosigkeit dieser Gegend aus gelbem Weizen und blasser Erde, mit der er nichts gemein hatte, um ihre Eingeborenen in Erstaunen und Aufregung zu versetzen.

Wie er aussah, fühlte er auch. Er befand sich in der landwirtschaftlichen Welt, aber er war nicht Teil davon. Er diente dem Feuer und dem Rauch; diese Bewohner der Felder dienten der Vegetation, dem Wetter, dem Frost und der Sonne.

Thomas Hardy, Tess of the d’Urbervilles, XLVII, eigene Übersetzung

Tess, ihr Geist erschöpft von seelenzerfressender Arbeit, eine ruinierte, innerlich verwüstete Frau, findet sich im gleichnamigen Roman von Thomas Hardy konfrontiert mit dem dampfgetriebenen Rhythmus der neuen Dreschmaschine, die von einem „Ingenieur“ geführt wird. Einem Exemplar einer neuen Klasse von Mensch. Losgelöst von den ihn umgebenden anderen Menschen erscheint er als Vertreter einer völlig fremden Art.
Das Tophet, das Hardy erwähnt, ist in der hebräischen Bibel ein Ort in Jerusalem, an dem Verehrer der alten kanaanitischen Religion Kinder bei lebendigem Leibe verbrennen, als Opfergabe an die Götter Moloch und Baal. Das Tophet wurde so zu einem theologischen Synonym für die Hölle innerhalb des Christentums. Der angebetete Baal, ursprünglich ein Import aus syrischen Landen und für Wetter und Fruchtbarkeit zuständig – in etwa wie der römische Kollege Saturn – verwandelte sich dann auch konsequent in einen Dämon innerhalb der christlichen Historie.
Auch das Primum Mobile im Originaltext ist eine theologische und astronomische Anspielung. Denn dies war in Zeiten des geozentrischen Weltbildes die äußerste der Himmelssphären, die mit ihren Sternen um die Erde rotierten und hinter der das Göttliche wohnte. Aristoteles, der berühmte alte Grieche, sprach in seiner „Physik“ bereits von einem „Unbewegten Beweger“ weil er in naturphilosophischer Denkweise davon ausging, daß es etwas gegeben haben muß, das alle andere Bewegung im Universum verursacht hat.

Die von der zurückgehaltenen Kraft des Dampfes getriebene Maschine ist also so etwas wie ein Ausdruck des Göttlichen in ihrer maschinellen Macht, wohingegen ihr Operateur eher aus der Hölle entsprungen scheint. So sind auch die Auswirkungen nicht zwingend erfreulich. Tess wird mit dem Rhythmus der Maschine konkurrieren müssen, um als menschliches Wesen weiter Bestand haben zu können in ihrer Welt.

Ein anderer Romancharakter, von Rußlands großem Schreiber Lev Tolstoi in Anna Karenina auf die Felder Rußlands gestellt, kehrt ebenfalls in einer Ernteszene wiederum zurück zum „Allerheiligsten des Menschen, die Tiefe des Landes“. Er nimmt teil am gleichmäßigem Schwung der Sensenblätter in den Feldern und stellt sich dabei die existentiellen Fragen: „Wer bin ich? Warum bin ich hier?“
Ein Bauer sagt zu Ljewin, daß es zwei Sorten von Männern gäbe: „Der eine lebt nur für sich und stopft sich voll. Der andere lebt für die Seele. Er erinnert sich an Gott.“

Über das Feld hinter dem Haus rumpelt und dröhnt der Mähdrescher, wirbelt Staub auf und verbrennt Diesel. Nachdem es in den Monaten von März bis Juni in unserer Gegend mehr geregnet hat als in den ganzen zwölf Monaten vorher, von März bis März, ist es jetzt wieder trocken. Mit unglaublicher Bullenhitze hat sich der Sommer zurückgemeldet in diesen Tagen, Luft wie aus einer Esse strömt mir entgegen, wenn ich morgens die Balkontür öffne.
Das Technikmonstrum rumpelt über den Hektar industriell zum Ackerland erklärten Drecks und befördert ermordeten Weizen in sein Inneres. Hier wird geschnitten, transportiert, gedroschen, eingesammelt und fusselige Halmreste wieder ausgestoßen. Alles in einem Arbeitsgang. Kein Sensenblatt bewegt sich von links nach rechts, keine Dampfmaschine, kein zugerußter Mann. Der Ingenieur mit dem Bauerndiplom sitzt in seiner gläsernen Kabine über den Dingen, vermutlich klimatisiert.
Heutige Maschinenmänner sind nicht mehr rußig. Sie sind klinisch sauber. Steril. Noch viel unbeteiligter an den Dingen, als es ein Thomas Hardy und seine Tess jemals erahnen konnten. Dieser Knöpfchendrücker und Hebelberührer hinter seinem Glas hätte Tess unendlichen Schrecken verheißen. Continue reading →

Mythopolis

– IV –

Elegie auf das 21. Jahrhundert

„Discontent arises from the knowledge of the possible, as contrasted with the actual.“
Aneurin Bevan

Es ist ein trüber Aprilmorgen und eigentlich noch viel zu früh, als ich mich aus den Federn erhebe und auf den Weg mache. Aber diesen Moment werde ich mir nicht entgehen lassen. Ich bringe mich also in Form und schwinge mich auf mein nichtfossiles Transportmittel, um an den Fluß zu fahren.
Gestern schon habe ich mir eine gute Stelle ausgesucht, um einen Blick auf das zu werfen, was da heute transportiert werden wird. Man hört alles bereits, bevor das Objekt in Sicht kommt. Die Motoren des Pontonschiffes laufen unter hoher Last, im nebligen Dunst über dem Fluß trägt das Geräusch weit.
Dann schält sich der Umriß aus der diesigen Luft. Auf dem Schiff festgemacht, wird die Silhouette mit den kurzen Tragflächen sichtbar.
Die stumpfe Nase, die eher stummeligen Flügel, bei denen mir der Ausspruch eines amerikanischen Astronauten in den Sinn kommt, das „verdammte Ding“ habe die Segeleigenschaften eines Ziegelsteins. Der Rumpf ist nicht vollständig, hinter den Tragflächen fehlt das Heckteil mitsamt Leitwerk, es ist zum Transport demontiert worden.
Einige Tausend Leute stehen mit mir hier am Ufer des Rheins, als die Raumfähre Buran, das russische Gegenstück zum amerikanischen Space Shuttle, auf dem Schiff langsam an uns vorüber gleitet. Eine Raumfähre auf einem Schiff. Diese Fähre, eigentlich dafür gebaut, sich auf einem gigantischem Feuerstrahl aus Wasserstoff und Sauerstoff in den Orbit zu erheben und ins All vorzustoßen, fliegt nirgendwohin. Sie ist auf dem Weg ins Museum, ohne jemals ihren eigentlichen Zweck erfüllt zu haben. Ich weiß nicht, ob die anderen hier so denken wie ich. Ich vermute, sie tun es nicht.

Sowieso war das Buran-Programm der Russen bereits 1993 eingestellt worden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es kein Geld mehr für derartige Unternehmungen. Nur ein einziges Mal, im November 1988, war eine Buran in den Orbit gestartet, huckepack auf dem Rücken der extra dafür entwickelten Energija-Rakete. Der Gründer des Programms und treibende Kraft hinter der Konkurrenzentwicklung der Russen, der Ukrainer Walentin Petrowitsch Gluschko, in der damaligen Sowjetunion zum Chefkontrukteur für Raketenmotoren avanciert, starb nur wenig später, im Januar 1989.
Die sowjetische Konstruktion war keine vollständige Kopie des amerikanischen Designs, bei den Hitzeschilden war das Buran-Programm der UdSSR seinem amerikanischen Bruder wohl materialtechnisch voraus, was Stabilität und Belastbarkeit anging. Aber auch auf Seiten der Amerikaner interessierte das nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs niemanden mehr.
Eventuell könnte die Besatzung der Columbia noch leben, hätte sich damals irgend jemand um solche Details gekümmert. In dieser vergessenen Katastrophe starben alle Crewmitglieder der Mission STS-107, als ihr Shuttle beim Wiedereintritt in die Atmosphäre auseinanderbrach. Ein Stück Isolierung des Treibstofftanks war beim Startvorgang auf die Backbord-Tragfläche geprallt und hatte den Hitzeschild beschädigt. Aber man kümmerte sich nicht weiter darum. Continue reading →

Eintagsmenschen

„Welcome! Sulphur dioxide
Hello! Carbon monoxide
The air, the air is everywhere.“
Hair

Wieder einmal nähert sich unsere Reise auf diesem Steinbrocken, der eine kleine, gelbe, völlig aus der Mode gekommene Sonne in der äußeren Westside der Galaxis umkreist, einem zyklischen Endpunkt. Das Jahresende naht, also der Punkt, den die hier vorherrschende Spezies auf ihrem vorherrschenden Kalendersystem willkürlich als Schluß auf einer mehr oder weniger kreisförmigen und somit eigentlich unendlichen Bahn markiert hat. Vorher haben wir noch die Wintersonnenwende, danach werden die Tage wieder langsam etwas länger, am 3. Januar wird die Erde dann ihr Perihel durchlaufen, also den sonnennächsten Punkt der Umlaufbahn um besagte gelbe Sonne. Rein astronomisch eine G2 V übrigens.
Ja, wir haben zwar Winter, aber trotzdem befindet sich die Erde hier am sonnennächsten Punkt. Es gibt Menschen, die irrtümlich annehmen, die Entfernung von der Sonne habe etwas mit den Jahreszeiten zu tun, und die deshalb glauben, wir wären im Winter weiter weg von der Sonne. Schon bei kurzer Überlegung entpuppt sich das natürlich als unlogisch, denn während hier auf der Nordhemisphäre Winter ist, ist ja auf der anderen Seite des Planeten Sommer. Über den Daumen gepeilt dürften aber beide Hälften des Planeten etwa gleich weit von der Sonne entfernt sein. Oder gleich nah dran, wie auch immer. Wie kann es also hier kalt sein und im Süden warm, wenn das an der Entfernung zwischen Erde und Sol liegen soll?
Logische Antwort: Es kann nicht daran liegen.

Der etwas schlauere Mensch weiß natürlich, daß die Jahreszeiten dadurch entstehen, daß die Erdachse geneigt ist und nicht senkrecht auf der Ekliptik steht. Das ist die Ebene, in der alle Planeten die Sonne umkreisen. Der Neigungswinkel zur Senkrechten liegt im Falle der Erde bei etwa 23,4 Grad – das beschert uns die Jahreszeiten auf unserer Welt. Denn durch diese Neigung hat ein- und derselbe Ort im Laufe eines Jahres unterschiedliche Sonnenhöhen über dem Horizont und somit mehr Sonnenlicht, das auch noch in steilerem Winkel auftrifft. Oder eben weniger Licht in flachem Winkel. Hat man da, wo ich so rumwohne, im Winter mit Glück sieben Stunden Tageslicht, so kommt man im Sommer manchmal auf mehr als sechzehn Stunden, also locker das Doppelte. Dazu kommt noch die Erhöhung des Einfallswinkels von vielleicht 15 Grad auf 50 Grad. Die Sommersonne läßt also eindeutig mehr Energie an meinem Wohnort zurück als die Wintersonne. Deswegen ist es eben heiß oder kalt.

Während wir also auf einem Stein um die Sonne kreisen, oder besser, ellipten, pendelt die Erdachse hin und her, sie zeigt nicht stabil in eine Richtung. Würde man aktuell die Erdachse in einer Grafik nach rechts geneigt einzeichnen, müßten Astronomen der Zukunft das nach links tun, denn im Laufe der sogenannten Präzessionsbewegung durchwandert die Achsneigung einmal die 360° eines Vollkreises, sie schwankt also von ganz rechts rüber nach ganz links.
Aktuell ist unsere Nordhalbkugel von der Sonne weg geneigt und es ist Winter. In etwa 13.000 Jahren wird sie der Sonne zugeneigt und im Dezember dann Sommersonnenwende sein. Glücklicherweise berücksichtigt unser Kalendersystem das durchaus, sodaß der Sommeranfang des Jahres 15015 ndZ trotzdem im Juni liegen wird. Das heute klassische Wintersternbild des Orion wird dann allerdings ein Sommersternbild sein. Auch wird es nicht mehr vollständig an unserem Himmel sichtbar sein, wie das heute der Fall ist. Nicht einmal der Polarstern wird um diese Zeit noch derselbe sein, denn bis dahin hat die Wanderung der Achse den Zielpunkt am Himmel auf die Wega verschoben. Ist aber kein Grund zur Panik, denn nach weiteren dreizehn Jahrtausenden ist dann alles wieder so wie heute, zumindest fast. Diese komplette Bewegung der Erdachse umfaßt also 26.000 Jahre, man nennt das Zyklus der Präzession oder auch Platonisches Jahr. Continue reading →

Der Sieg der Grauen Herren

– II –

Goethe in Metropolis

„Meine an Zahlen gewöhnte Feder vermag keine Musik zu schaffen aus Assonanzen und Rhythmen.“
D-503

Statt in Tagen und Monaten, in Hell-Dunkel und Jahreszeiten, ist heute alles in acht Stunden Arbeitszeit aufgeteilt oder acht Stunden Schlafenszeit. In Mittagspausen von dreißig Minuten, zu denen Menschen wie die Kühe zum Melken gehen oder wie die Schafe zur Schlachtbank. Alles strömt in die Innenstadt: Essenszeit.
In vorgeschriebenem Ablauf, jede Minute Wartezeit in der Kantinenschlange von Ungeduld geprägt, jeder Handgriff der unterbezahlten Servicekraft im Fischrestaurant muß sitzen, das geht sonst alles von unserer Zeit ab.

Im Roman Wir von Jewgenij Samjatin, einer Art russischem Vorläufer und Gegenstück zu Orwells 1984, hat die herrschende Partei die Stunden-Gesetzestafel ausgehängt, in purpurnen Lettern auf goldenem Grund für alle sicht- und einsehbar. Denn die Wände aller Gebäude sind durchsichtig. Der Einzige Staat beherrscht den Planeten Erde. D-503, Mathematiker und Erbauer des Weltraumschiffes Integral, erzählt uns seine Geschichte und damit auch die Geschichte seit der Großen Revolution vor etwas mehr als einem Jahrhundert seiner Zeitrechnung.
Doch die Lösung ist nicht perfekt, noch nicht. Von 16 bis 17 und 21 bis 22 Uhr spaltet sich der Takt auf, es sind die von der Tafel festgesetzten Persönlichen Stunden. Und nichts wünscht der Protagonist mehr, als das eines Tages Perfektion erreicht sein möge, in der alle 86.400 Sekunden des Tages erfaßt sind von der Tafel der Gesetze, der alle im Takt der Zahnräder und Maschinen folgen.

Samjatins düstere Dystopie, in ihrer stereotypen, durchgeplanten Art ebenso gruselig wie die bereits in vitro konditionierten Alphas, Betas und Gammas in Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“, ist unserer Welt des 21. Jahrhunderts ähnlicher, als man es heute zugeben möchte. Sie ist in ihrer absolut unpersönlichen Tyrannei in gewisser Weise das Gegenteil von Orwells Vision des Totalitären. Hier ist man sich nicht sicher, daß die Gedankenpolizei einen überwacht, hier überwachen sich die Nummern – denn Bürger oder gar Menschen existieren nicht mehr – in ihrer Zuverlässigkeit gegenseitig. Konditioniert, das Funktionieren des Staates, des eigenen alternativlosen Lebenssystems, über alles zu stellen, gibt es hier keine Abweichungen, keine Vorstellungskraft, keine Imagination, die ein „anders“ nur erdenken könnte. In gewisser Weise ist Samjatins „Einziger Staat“ dem Orwellschen Weltsystem, das ja zumindest in der öffentlichen Darstellung noch unterschiedliche Pole bietet mit Ozeanien, Eurasien und Ostasien, eine weitere, grauenvolle Nasenlänge in die Zukunft voraus. Continue reading →

Das falsche Morgen (I)

„The future will be better tomorrow.“
Dan Quayle

Tä-TäTä TäTäTäTä-Täää-TäTää…das Weltall, unendliche Weiten.

Wir befinden uns im Jahr 2057.
Ihre Krankenkasse überwacht morgens beim Pinkeln ihren Urin und erstellt daraufhin direkt einen Ernährungsplan, weil sie am Vorabend gesoffen haben.
Ihr smartes Haus sagt ihnen, wie das Wetter ist, während sie vor dem Badezimmerspiegel stehen, dabei verdunkelt es gleichzeitig die Fenster, damit sie von der tiefstehenden Morgensonne nicht geblendet werden.
Ihre Kaffeemaschine – Entschuldigung – ihr vollvernetzter Fair-Trade-Handelsgut-Zubereiter läßt derweil dreifach entkalktes Wasser über handgestreichelte und bei Neumond geerntete Bohnen laufen und bestellt selbständig den Mechaniker, weil mit dem Mahlwerk was nicht stimmt. Oder er bestellt gleich einen neuen, noch smarteren FTHGZ, denn immerhin ist ihr eigenes Exemplar schon elf Monate alt, da gibt es natürlich längst was Besseres.

Von der Bestellung merken sie auch überhaupt nichts, jedenfalls nicht, bis ihr Kreditchip im Handgelenk sie mit einem orangenem Leuchten daran erinnert, daß sein Wert nicht mehr ganz so hoch ist, wie er vielleicht sein sollte, und sie auf der Arbeit ein automatisches Schreiben ihrer Hausbank – oder besser, ihres Bankcomputers – erhalten, in dem die ganzen Zahlen aufgelistet sind, die da so aufgelaufen sind in den letzten zehn Tagen.
Da können sie dann auch gleich die Sonderabbuchung ihrer Krankenkasse finden, wegen der schlechten Werte im Urin. Ihr Konsumindex ist trotzdem zu niedrig, die Mail erinnert sie höflich daran, daß sie ihre staatsbürgerliche Durchschnittsverschuldungsquote noch immer nicht voll ausgeschöpft haben. Continue reading →