Die Leinen los!

Die Hölle ist los. Die Welt geht unter. Spätestens morgen wird das Jüngste Gericht hereinbrechen. Und es wird mit Pfefferminzsauce serviert! Dieser allerletzte Punkt ist allerdings wirklich abscheulich und sollte dringend verhindert werden.

Ein Marcel Fratzscher vom DIW stellt sich hin und beschwört wirtschaftlichen Untergang vom Himmel herab. In das gleiche Horn stoßen auch ein Clemens Fuest vom Münchner ifo-Institut oder der Automobilverband VDA.
Das ist die größte Lobbyistenpapageienzuchtanstalt in Europa, wenn es darum geht, noch mehr Autos auf die verstopften Straßen zu bringen, für die eine deutsche Autoindustrie keine Steuern bezahlt. Hauptsache, die Laster stehen just in time auf dem Hof, um Teile zu liefern.
Kassandra weist darauf hin, daß es sich bei all diesen Verbandssprechern ausnahmslos um Personen handelt, die eine Wirtschaftspolitik propagieren, die exakt zu dem geführt hat, was jetzt alle fürchten: Brexit.
Wenn Leute wie Fuest und Konsorten etwas von „Reform der EU“ erzählen, meinen sie damit die Fortsetzung der Politik, die seit einem halben Jahrhundert von Südamerika bis Nigeria und Bukarest immer dieselben Folgen hatte: Massive Konzerngewinne, verfallende Infrastruktur und miserable Lohnentwicklungen bei steigenden Staatsschulden. Von solchen Nebenwirkungen wie der einen oder anderen Militärdiktatur, gefolterten Regimegegnern oder einem kleinen Massenmord hier und da – aus streng ökonomischen Gründen versteht sich, nichts Persönliches – reden wir da mal gar nicht.
Sie alle folgen der Ideologie der Chicagoer Schule und ignorieren weiterhin tapfer jeden der Beweise, die ihnen die Realität für das Nicht-Funktionieren ihrer ökonomischen Wichsphantasien in den letzten fünfzig Jahren reichlich geliefert hat.

Landauf, landab, ist in deutschen Medien heute zu lesen, daß der Brexit die Gesellschaft gespalten hat und das alles ganz furchtbar ist. Mehr Mitleid geht kaum noch. Wobei es vor allem weinerliches Selbstmitleid ist, fürchten doch alle um wirtschaftliche Konsequenzen für Deutschland. Die wird es auch geben, denn beide Volkswirtschaften sind eng miteinander verflochten, machen wir uns da nichts vor. Deutschland und Europa liegen auf dem Tisch, der Arzt beugt sich gerade über uns und sagt: „Das wird jetzt gleich etwas weh tun.“
Aber ich verstehe nicht, warum sich beispielsweise VW oder BMW darüber aufregen sollten. Da haben sie doch eine prima Ausrede, noch mehr Leute zu entlassen dank ihres Dieselskandals und der Schützenhilfe aus der deutschen Politik. Alles Brexit demnächst. Prima Sache.
Wahrscheinlich muß dann auch unser Finanzminister, der gerne Kanzler wäre, wieder den Sozialstaat kürzen. Der ist so wahnsinnig teuer. Dieses ganze ALG II! Das solche Kleinigkeiten wie Rentenzahlungen oder ALG I oder BAFöG oder Wohngeld oder ABM-Maßnahmen des Arbeitsamts und vieles mehr sich im Bundeshaushaltsposten „Soziales“ befinden, das wollen wir mal nicht so erwähnen. Details können so belastend sein.

Dummerweise ist aber dieses ganze Geschreibsel so faktenfrei wie es jede weitere Diskussion um den Brexit auch wäre. Eine Gesellschaft muß schon lange gespalten sein, bevor sie so etwas wie die Brexit-Frage in einem Referendum überhaupt abstimmt. Ebenso ist es unwahr, wenn immer wieder behauptet wird, Donald Trump habe die US-Gesellschaft gespalten. Trump hat eine gespaltene Gesellschaft vorgefunden und diese Tatsache ausgenutzt, sonst gar nichts.
Es ist die ökonomische Massenpsychose unserer gewählten und ungewählten Führungsetagen und die daraus resultierende Politik, die diese soziale Spaltung herbeigeführt hat. Alle diese ökonomischen Vorstellungen beruhen auf den andauernden Fieberphantasien von menschenförmigen Lebewesen, die immer wieder behaupten, man müsse den Reichen nur die Steuern senken, damit die ganz viele tolle neue Arbeitsplätze schaffen. Global gesehen besitzen die oberen 10 Prozent gute 90 Prozent des Planeten in Vermögenswerten. Ich frage mich ernsthaft, warum diese Leute noch mehr Geld brauchen sollten, um in einer Gesellschaft irgendetwas zu tun oder zu lassen. Das auch diese lächerliche Legende der Standardökonomen offenbar keinen Widerhall in der Realität findet, ist selbstverständlich Schuld der Realität.

So war es auch in Großbritannien. David Cameron gab für jeden Griff ins Klo, den er in seiner Amtszeit produziert hat, immer gerne der EU die Schuld. Schon fingen britische Wähler an, sich zu fragen, warum man denn dann noch einen eigenen Premierminister bezahlen sollte, wo doch alle Politiker Marionetten aus Brüssel zu sein schienen.
Dann kam dieser Mann auf die dümmste Idee seit Erfindung der unzerbrechlichen Hühnereier und versprach ein Referendum über den Verbleib der britischen Inseln in der EU. Alles, um seine eigene Wiederwahl zu sichern, versteht sich. Etwa zwei Wochen vor dem Referendum sprach derselbe Mann plötzlich davon, daß man doch besser in der EU bleiben solle. Also in dem politischen Höllenloch, dem man vorher gerne die Schuld für alles zugeschoben hatte, von sinkenden Fangmengen britischer Fischer bis zu erkälteten Schafen in Schottland wegen zu viel englischem Sommer.
Kaum hatte sich die zur Abstimmung gerufene Volksmenge dazu entschlossen, den Satansanbetern in Brüssel den Stinkefinger zu zeigen, verpisste sich David Cameron schneller als Kakerlaken in der Küche, wenn man das Licht anmacht. Ebenso wie alle lautstarken Brüllaffen der „Take back control!“-Elite wie Nigel Farage oder Boris Johnson.

Die gesamten Verursacher der politischen Desintegration Brexitanniens haben sich inzwischen längst ihre Refugien gesichert, trinken Tee und lachen zwischendurch, wenn sie die Nachrichten sehen. Wobei ich bei einem Typen wie Jacob Rees-Mogg, diesem blutleeren Adligen mit dem ererbten Goldlöffel in seinem dürren Hintern, eher an so ein hysterisches Kichern vor dem Kaminfeuer denke, während er den schottischen 35-Jahre-Whisky schwenkt, cask strength, versteht sich.
Sowohl bei den Politikern als auch den Ökonomen haben wir es durch die Bank mit Leuten zu tun, deren einziges Ziel darin besteht, selber niemals von den Konsequenzen ihres Handelns oder Nicht-Handelns berührt zu werden. Politik ist in den letzten dreißig Jahren zu dem einzigen Zweck verkommen, den eigenen Arsch immer schön bedeckt zu halten. „Cover your ass“ ist inzwischen alles, was von ehemaliger Politik noch übrig ist. Die Konsequenzen dieser zutiefst asozialen und gesellschaftsfeindlichen Politik heißen Brexit, Donald Trump, Bolsonaro oder tragen gelbe Westen.

Europa hat jetzt genug Stärke gezeigt und muß deshalb endlich nachgeben. So zeigt man dann, daß man sich nicht erpressen läßt. Was wird in deutschen Politredaktionen eigentlich geraucht?

Europa muß sich nicht bewegen, ganz im Gegensatz zur Aussage eines völlig realitätsentfremdeten Kommentars in der Berliner Morgenpost. Wobei dessen Erschaffer mit seiner Haltung nicht alleine ist, diese Aussage findet sich auch anderswo.
Dabei ging es nicht darum, an den Briten ein Exempel zu statuieren und Theresa May gegen die Wand zu drücken, um aller Welt zu zeigen, daß man aus der EU nicht austreten darf. Was der Kommentator da verbreitet, ist finsterste Verschwörungstheorie oder zumindest journalistisch unterirdische Realitätsresistenz. Es ist genau das weltfremde Gefasel, mit dem nationalistische Brexit-Fanatiker im britischen Parlament seit Monaten daran arbeiten, ihre Dolchstoßlegende zu erschaffen. Sonst müßte man anerkennen, daß eigenes Handeln womöglich Konsequenzen hat.
Christian Kerl präsentiert dann aber als Konsequenz, daß die Führung der EU jetzt aber über ihren Schatten springen müsse, um der taumelnden Premierministerin zu helfen. Das wiederum ist schon vor der vorherigen Argumentation des Autors absurd. Denn welches Signal sollte von so einer Handlung denn letztlich ausgehen?
„Hah – nimm dies, elendes Austrittsland! Wir tun zwei Jahre so, als wären wir eisenhart, aber dann kriegst du doch alles, was du willst! Erzittere vor unserer Machtdemonstration!“
Dieser Kommentator offenbart also in der Konstruktion seines Privatuniversums eine ähnlich logische Stringenz wie britische Politik. Ich empfehle diese Perle ausdrücklich zur Lesung.

Fakt ist, die EU hat sich in der ganzen Sache so weit bewegt, wie sie nur konnte, ohne dabei die Integrität des Binnenmarktes zu gefährden. Eigentlich sogar weiter, denn immerhin hat man eine Zusicherung abgegeben, daß es auf Irland keine neue Grenze geben werde. Eine Zusicherung außerhalb jeglicher Realitäten, bedauerlicherweise.
Kassandra ist es auch seit Dezember 2017 ein Rätsel, warum man sich von Brüssel aus auf ein solches Versprechen eingelassen hat. Aber so ist das mit einer Politik, die sich mit Konsequenzen in dieser lästigen Realwelt nicht länger auseinandersetzen mag.
Das sich die EU insgesamt wenig bewegen würde, war von Beginn an allen klar. Zumindest hätte es das sein müssen, denn die EU hatte nun einmal wenig Spielraum für sich selbst. Diese Linie wurde aber auch klar angesagt und – sehr zu meinem persönlichen Erstaunen – auch beibehalten.

Aus London wird nichts Neues kommen in Sachen Scheidungsregelung. Seit zweieinhalb Jahren kommt aus London nichts weiter als eine illusorische Wunschliste nach der anderen darüber, wie die Welt zu sein hat. Fast möchte ich glauben, diese Listen wären von Ökonomen geschrieben. Gerade eben erst hat der ehemalige Brexit-Minister Dave Davis, also der Mann, der lieber hingeworfen hat, statt seinen Job zu erledigen, sich weinerlich darüber beschwert, die EU habe den Briten nicht den geringsten Vorteil gewähren wollen bei den Verhandlungen.
Ja…ähmmm…warum sollte sie das auch tun? Oder womöglich tun müssen? Weil die Queen so putzig ist?
In seiner wahnumflorten Paranoia spricht der Mann gar von „feindseligen Aktionen europäischer Staaten„, womit er explizit Deutschland meint. Wie so oft scheint auch hier die EU darüber abgestimmt zu haben, ob sie die Briten rausschmeißen soll oder nicht. Allerdings hat dieses Ereignis auf diesem Planeten hier gar nicht stattgefunden.
Deutsche Medien geben sich inzwischen Mühe, es den Briten nachzutun. Ernsthaft schlägt der Kommentator der Morgenpost vor, Ms May solle halt ihren Vorschlag noch einmal abstimmen lassen und dann noch mal. „Die Chancen stehen nicht schlecht“, schreibt Christian Kerl tatsächlich.

Ich weiß nicht, wo dieser Mann gestern gewesen ist. Oder welche Nebenwirkungen seine Medikamente so haben. Ich hatte auch schon einmal darauf hingewiesen, daß nicht jede weiße, kristalline Substanz in Redaktionsstuben zwingend Zucker für den morgendlichen Kaffee sein muß.
In der wahren Realität haben gestern selbst über hundert Mitglieder der Regierungsfraktion – die nordirischen Fanatiker nicht mitgerechnet – gegen Theresa May gestimmt. Das war keine Niederlage, das war eine nukleare Vernichtung. Es war die allergrößte Abstimmungniederlage, die irgendeine britische Regierung überhaupt jemals erlitten hat im Parlament.
Der angebliche Deal ist etwa so tot, daß der sprichwörtliche Dodo dagegen wie ein Kanarienvogel auf Speed aussieht.
Dabei hatte die Premierministerin die Abstimmung sogar um einen Monat verschoben, um mehr Stimmen zu gewinnen. Vorgestern, einen Tag vor dem Showdown, legte dann der „chief whip“ sein Amt nieder und verkündete, er werde dagegen stimmen. Dieser Posten ist in der angloamerikanischen Politik etwa das Äquivalent zum deutschen „Fraktionszwang“. Den gibt es bei den Briten nicht. Dafür aber einen Chefinquisitor, der alles über einen weiß und dessen Aufgabe es ist, einen Abgeordneten immer schön auf Linie zu zwingen. Irgendwas findet sich da schon. Und dieser Mann hat gesagt, er schmeißt hin. Da bleiben wahrlich keine Fragen offen.

Abschließend ergeht sich Herr Kerl von der Morgenpost in derselben Schlußfolgerung, die in vielen anderen Medien auch immer wieder kommt und ebenfalls völlig falsch ist: Ein ungeregelter Brexit gefährdet unser aller Leben und er steht vor der Tür. Er bringt Chaos, Tod, Vernichtung und die Vier Apokalyptischen Reiter über uns. Beziehungsweise die restlichen drei, denn Tod ist ja einer der Reiter.
Auch hier zeigt sich der Realitätsverlust des Politjournalismus und der Politik in erschütterndem Ausmaß. Denn es gibt gar keinen „ungeregelten Brexit“. Nach der Abstimmung gestern abend ist ein Ausscheiden des Uneinigen Königreichs ohne weitere Absprachen am wahrscheinlichsten.
Theresa May sagte sogar in der vorhergehenden Debatte, ihre Regierung könne auch einen Brexit ohne Vertrag handhaben.

Theresa May, PM von Brexitannien, in ihrer gestrigen Abschlußrede zum Brexit-Deal. Ich frage mich, warum sie uns das erst jetzt sagt. Man hätte sich zwei Jahre Zeit sparen können, um die Fähigkeiten der britischen Regierung im Management selbst erzeugter Krisen zu bewundern.
Screenshot vom Liveblog bei ZEIT online vom 15.01.2019

Was zur Hölle hat daran eigentlich so lange gedauert?
Stellen wir uns mal alle vor, es wird keine weiteren Regelungen geben. Wenn das mal keine klare Aussage ist. Darauf kann man aufbauen. Wenn Europa jetzt einfach erleichtert zur Kenntnis nehmen könnte, daß es keine weiteren Gespräche mit durchgeknallten Premiers aus England geben wird, die zu nichts führen werden, weil die Briten selber nicht wissen, was sie eigentlich wollen, kann man sich exakt darauf vorbereiten.
Genau das sagte übrigens Theresa May gestern abend ebenfalls. Sie sagte, das Votum zeige klar, was das Parlament nicht will, aber niemand hätte eine Idee davon, was es denn will. Diese Aussagen sind insgesamt ebenso korrekt wie stark verspätet im Hirn der Premierministerin eingetroffen. Vermutlich haben sie die British Rail benutzt.

Schon sehen überall Menschen „Chancen auf ein zweites Referendum“. Allerdings entpuppen sich diese angeblichen Menschen bei näherem Hinsehen als Ökonomen.
Damit wäre die Thematik auch schon geklärt, aber schauen wir trotzdem noch einmal auf die Fakten.
Für ein weiteres Referendum bräuchte es Zeit. Nach einer britischen Collegestudie etwa fünf bis sechs Monate mindestens. Außerdem auch nach den Richtlinien der dortigen Wahlkommission. Zudem müßte eine britische Regierung diese Verlängerung beantragen und die EU27 sie genehmigen. Das ergibt aber nur Sinn, wenn es substantiell neue Dinge zu verhandeln gäbe. Ich verweise nach oben.
Im Mai sind aber Europawahlen. Gewährt man den Briten aus Brüssel eine Verlängerung, wäre Brexitannien weiterhin Mitglied der Union und als solches muß es an den Wahlen teilnehmen. Dazu müssen Wahllisten eingereicht sein und Kandidaten bestimmt. Für ein Europa und dessen Parlament, mit dem man nichts mehr zu tun haben will. Außerdem hat man die bisherigen Sitze der Briten, 73 an der Zahl, offenbar schon an andere Länder verteilt. Hätte ich wohl auch gemacht.

Um der Absurdität die Krone aufzusetzen, liest man hier und da auch etwas davon, daß die Briten jetzt ja auf besserer Faktenbasis abstimmen könnten als vor zweieinhalb Jahren. Natürlich. Selbstverständlich würde man beim Tee über die Schlagzeilen der Sun hinweg mit steifer britischer Oberlippe über echte Realitäten diskutieren.
Gäbe es ein zweites Referendum, würden sich beide Seite genau wie 2016 über den Graben hinweg anbrüllen und behaupten, sie hätten recht. Denn auch das ist ein Zeichen der Politik der Zeit. Fakten sind uninteressant geworden, ja, geradezu hinderlich. Stattdessen bezeichnet man die Gegenseite einfach als das satanischste Bösenböse, das überhaupt existiert. Womit man eindeutig der Gute ist und deshalb automatisch recht hat.
Man gewinnt Stimmen also nicht durch Fakten – nachprüfbare womöglich sogar – sondern dadurch, daß man eine Alternative zur evil evilness der anderen darstellt. Nachdem man sich also weitere sechs Monate mit emotionaler Schweinescheiße beworfen hat, würde die noch immer gespaltene britische Gesellschaft ein Referendum abhalten und die Remain-Seite gewänne mit 52 Prozent. Einen Tag später stehen dieselben Demonstranten wie seit zwei Jahren vor dem Parlament, nur mit vertauschten Rollen.
Die Remainer, die seit 2016 sagen, das 52 Prozent nicht überzeugend genug sind, würden behaupten, ihre 52 Prozent seien völlig überzeugend und die Politik müsse das jetzt umsetzen. Die Brexiter hingegen, die seit 2016 behaupten, ihre 52 Prozent seien völlig überzeugend und die Politik müsse das umsetzen, würden behaupten, die 52 Prozent der anderen seien nicht überzeugend genug. Vermutlich würde dann irgendwann jemand vorschlagen, man könne ja drüber abstimmen.

Deutsche Kommentatoren lassen ganz besonders eines außer acht. Es braucht auch eine britische Regierung, die ein weiteres Referendum startet. Die ist jedoch nirgendwo in Sicht.
Das gleiche gilt für die ebenfalls gern angeführte Möglichkeit eines Rückzugs vom Rückzug, dem Brexit-Exit. Nach Einschätzung des EuGH genügte hierzu ein einseitiger Wideruf des Artikels 50 durch die britische Regierung. Nur ist eben diese nirgendwo in Sicht. Auch eine Labour-Regierung würde laut eigener Aussage lediglich versuchen, einen „besseren Deal“ auszuhandeln. Also weitere illusorische Wunschlisten aus London.
Außerdem hat im Vorfeld des Brexit der britische Supreme Court ausdrücklich geurteilt, daß für eine Auslösung des Artikels 50, also dem Beginn des Countdowns, die Zustimmung des Parlaments notwendig ist. Ich schließe daraus, daß auch für einen Stop dieses Vorgangs die Abstimmung des Parlaments unabdingbar sein dürfte. Alles andere wäre juristisch stark inkonsequent. Nun – dazu bräuchte es ein britisches Parlament, das eben über diese Frage positiv entscheidet. Das gibt es aber ebenfalls nicht.

Brexitanniens Innenpolitik ist inzwischen ein einziger gordischer Knoten, und er liegt um den Hals der Nation.

Was sich gestern abend im britischen Parlament abspielte, war tatsächlich ein „Zusammenstoß mit der Realität“, wie es ein Kommentar in einem stark rufgeschädigten Hamburger ehemaligen Nachrichtenmagazin formulierte.
Allerdings war es auch für sehr viele Politjournalisten ein Zusammenstoß mit der Realität, denn anders sind die heutigen Ergüsse auf so mancher Seite nicht zu erklären. Nur ein schwerer Schlag auf den Kopf kann derart viel Verwirrung ausgelöst haben. Ich stelle überall dasselbe Elfenbeinturm-Syndrom fest wie bei einem Paul Krugman von der NYT in der Wahlnacht im November 2016.
Noch immer wird verzweifelt versucht, eine Änderung der Realität herbeizuschreiben, die keine wirklichen Wurzeln im Faktischen hat. Sei es jetzt ein weiteres Referendum oder ein Verbleib der Briten in der EU. Natürlich liegt die Wahrscheinlichkeit beider Ereignisse über Null. Aber eben nur sehr knapp.
Kassandra sagt: Es wird weder ein zweites Referendum geben noch einen Brexit-Exit, geschweige denn ein Referendum, bei dem vorher in der Öffentlichkeit Sachargumente ausgetauscht werden. Auch eine echte Grenze auf Irland wird sich nicht verhindern lassen.

Europa muß jetzt die Axt in die Hand nehmen und die Leinen zerschlagen, die es mit der Inselwelt jenseits des Kanals verbinden. Vom Deck des Kreuzers EU können wir dann der gammeligen britischen Planke mit ihrem zerfetzten Segel und dem kaputten Ruder beherzt nachwinken. Das ist die einzige Art Bewegung, die Europa unternehmen muß. Es gibt keinerlei Verpflichtung, sich von dem im Strudel seiner eigenen Dummheit absaufenden Königreich mit in die Tiefe ziehen zu lassen.
So leid es mir tut, wird das auch Gespräche mit Irland beinhalten müssen, wie man die neue Außengrenze am besten sichern kann. Aber schließlich war es doch das, was die Briten wollten. Kontrolle über ihre Grenzen zurückbekommen. Nun, dafür muß es auch welche geben. Das ist die logische Konsequenz. Was die wirtschaftlichen Folgen angeht, werden sich für die irische Republik schon Lösungen finden. Irland hat den Club ja nicht verlassen.

Wenn die Politik allerdings aufhörte, sich für die Konsequenzen ihres Tuns nicht verantwortlich zu fühlen, dann muß Schottland noch einmal über seine Unabhängigkeit abstimmen. Mit deutlich über 60 Prozent stimmten die Schotten für einen Verbleib in der EU. Das Argument, als Teil des Königreichs in der EU zu verbleiben, ist inzwischen hinfällig. Ein neues Schottland könnte jederzeit Aufnahme in die EU beantragen und würde sie auch bekommen. Natürlich dürfte auch das zwei, drei Jahre dauern. Aber es wäre eine klare Aussicht auf die Zukunft.
Wenn die Politik aufhörte, sich für die Konsequenzen ihres Tuns nicht verantwortlich zu fühlen, dann muß Nordirland mit Dublin über eine Wiedervereinigung reden.  Nordirland hat ebenfalls mehrheitlich für den Verbleib in der EU gestimmt. Wenn das Gerede von wegen „Wir wollen keine Grenze“ also politisch ernst gemeint ist, wären die politischen Konsequenzen recht klar. Die Grenze fiele automatisch weg, die ökonomischen Nachteile für die Republik Irland ebenfalls. Es wäre ohnehin  an der Zeit, der Bedeutung der irischen Flagge gerecht zu werden. Das Orange der Protestanten und das Grün der Katholiken, vereint durch das Weiß des Friedens.
Nur Kleinbritannien stünde zwischen allen Grenzen. Aber über die hätte es dann jede Kontrolle, die es haben wollte.


Das Beitragsbild entstammt dem Twitter-Account von Martin Shovel. Niemand sollte behaupten, daß Briten keinen Humor haben 😉

 

Update 20190118: Offensichtlich sind doch noch andere Leute auf der Suche nach gemeinsamen Ursachen für trumpistische Brexianer aus Brasilien. Das findet Kassandra beruhigend.

7 Comments

  1. Das waren jetzt aber mehr Fakten als ich in den letzten Tagen gelesen habe. Viele der Abstimmungen in letzter Zeit gingen mit knapp über 50 Prozent aus. Das ist eigentlich keine Mehrheit, die fast gleichgroße unterlegene Menge wird solange ningeln, bis Stillstand herrscht. Woran das wohl liegt?

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    1. Ein frohes neues Jahr.

      Das mit den Fakten tut mir leid. Ich werde mich bemühen, das nicht überhand nehmen zu lassen 😀
      Tjaaaaaa….woran das wohl liegen mag? Vermutlich werden wortgewaltige Standardökonomen und ihre finanziellen Stützen auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos wieder Reden halten, in denen sie das alles als total unerklärliches Rätsel bezeichnen.

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  2. Die andere Seite sind Wahlen, bei denen jede Partei ca. 20 Prozent hat. Gibt auch lustige Konstellationen. In Sachsen, z.B., könnten wir Schwarz-Blau-Grün oder sowas bekommen. Oder Lila-Blau, so als links-rechts-Duo. Am besten finde ich, wenn dann die Grünen mit den Wirtschaftsliberalen im Sinne von „Grünem Wachstum“ regieren. War auch noch nie der Brüller.

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    1. Autsch. Das wäre allerdings bitter. Wobei GrünFPD prima zusammenpassen täte. Der Lindner hat ja Jamaika nur nicht gemacht, weil die Grünen die Marktradikalen noch rechts-neoliberal überholt haben in allen Punkten.
      Aber blauschwarzgrün nun nicht. Der Union traue ich ja alles zu, aber die Grünen mit der ArmeeFollDummheit ist dann doch etwas zu unwahrscheinlich 😀

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    1. Wieso? Spielt es denn eine Rolle welche Farbe die Bremsbacken haben? Rein vom Unterhaltungswert her würde ich die grün-braune Variante klar bevorzugen. Und verdient hätten die sich gegenseitig auch.

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      1. Allerdings wäre es unfair. Die Grünen würde mehr von der AfD profitieren als umgekehrt. Wenn die Grünen in Syrien Krieg spielen wollen, kann die AfD dies daheim als Speerfeuer gegen illegale Einwanderung verkaufen.
        Wenn die Grünen hier Verzicht predigen, dann aber zum Wandern nach Südamerika jetten, kann die AfD den Leuten erklären wie wichtig die Tourismusbranche ist.
        Trotzdem würde die AfD dieser Verbindung zustimmen. Die AfD hat einfach mehr Realitätssinn und weiß wo die grünen Wurzeln liegen. Die erste Partei, die sich in Deutschland für Umweltschutz und Krieg stark gemacht hat war die NSDAP – und Adolf war Veganer. Das geht ruck-zuck und die Verschmelzen ins Türkise. In 20 Jahren gibt es sowas.

        Den Laden kannste übrigens schon jetzt dicht machen. Warten lohnt nicht.

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