– II –
Goethe in Metropolis
„Meine an Zahlen gewöhnte Feder vermag keine Musik zu schaffen aus Assonanzen und Rhythmen.“
D-503
Statt in Tagen und Monaten, in Hell-Dunkel und Jahreszeiten, ist heute alles in acht Stunden Arbeitszeit aufgeteilt oder acht Stunden Schlafenszeit. In Mittagspausen von dreißig Minuten, zu denen Menschen wie die Kühe zum Melken gehen oder wie die Schafe zur Schlachtbank. Alles strömt in die Innenstadt: Essenszeit.
In vorgeschriebenem Ablauf, jede Minute Wartezeit in der Kantinenschlange von Ungeduld geprägt, jeder Handgriff der unterbezahlten Servicekraft im Fischrestaurant muß sitzen, das geht sonst alles von unserer Zeit ab.
Im Roman Wir von Jewgenij Samjatin, einer Art russischem Vorläufer und Gegenstück zu Orwells 1984, hat die herrschende Partei die Stunden-Gesetzestafel ausgehängt, in purpurnen Lettern auf goldenem Grund für alle sicht- und einsehbar. Denn die Wände aller Gebäude sind durchsichtig. Der Einzige Staat beherrscht den Planeten Erde. D-503, Mathematiker und Erbauer des Weltraumschiffes Integral, erzählt uns seine Geschichte und damit auch die Geschichte seit der Großen Revolution vor etwas mehr als einem Jahrhundert seiner Zeitrechnung.
Doch die Lösung ist nicht perfekt, noch nicht. Von 16 bis 17 und 21 bis 22 Uhr spaltet sich der Takt auf, es sind die von der Tafel festgesetzten Persönlichen Stunden. Und nichts wünscht der Protagonist mehr, als das eines Tages Perfektion erreicht sein möge, in der alle 86.400 Sekunden des Tages erfaßt sind von der Tafel der Gesetze, der alle im Takt der Zahnräder und Maschinen folgen.
Samjatins düstere Dystopie, in ihrer stereotypen, durchgeplanten Art ebenso gruselig wie die bereits in vitro konditionierten Alphas, Betas und Gammas in Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“, ist unserer Welt des 21. Jahrhunderts ähnlicher, als man es heute zugeben möchte. Sie ist in ihrer absolut unpersönlichen Tyrannei in gewisser Weise das Gegenteil von Orwells Vision des Totalitären. Hier ist man sich nicht sicher, daß die Gedankenpolizei einen überwacht, hier überwachen sich die Nummern – denn Bürger oder gar Menschen existieren nicht mehr – in ihrer Zuverlässigkeit gegenseitig. Konditioniert, das Funktionieren des Staates, des eigenen alternativlosen Lebenssystems, über alles zu stellen, gibt es hier keine Abweichungen, keine Vorstellungskraft, keine Imagination, die ein „anders“ nur erdenken könnte. In gewisser Weise ist Samjatins „Einziger Staat“ dem Orwellschen Weltsystem, das ja zumindest in der öffentlichen Darstellung noch unterschiedliche Pole bietet mit Ozeanien, Eurasien und Ostasien, eine weitere, grauenvolle Nasenlänge in die Zukunft voraus.
Und es ist, wie gesagt, unserer heutigen Zeit nicht unähnlich. Statt das Maschinen dem Menschen dienen, dienen Menschen Maschinen. Aus einer Befreiung von Feudalherrschaft durch Renaissance, aufkeimenden Kapitalismus und Industrialisierung ist letztlich eine neue Versklavung geworden. Reich zu sein bedeutete plötzlich nicht mehr ausschließlich, sehr viel Geld zu haben und der Besitzer der Fabrik zu sein statt einer der in 14-Stunden-Schichten vor sich hin knechtenden Arbeiter. Reich zu sein bedeutete vor allem, mit seinem Tag, seiner Zeit, in freier Verfügung alles tun zu können, was einem beliebte.
Diese Umdeutung ist bis heute erhalten geblieben. Nicht derjenige ist wirklich superreich über jedes sterbliche Maß hinaus, der sagen kann: „Ich habe jetzt Termine“. Nein, es ist derjenige, der sagen kann:
„Ich habe keine Termine. Man reiche mir meine Golfschläger und tanke den Privatjet auf!“
Freiheit ist die Freiheit, zu tun, was man will. Oder eben auch nichts zu tun. Nichts provoziert in der heutigen Zeit mehr als das.
Zeit zu haben, statt sie für irgendetwas Wichtiges zu verbrauchen, gilt in unserer Gesellschaft als Perversion.
Man kann jede beliebige Party sprengen, wenn man auf die irgendwann ebenso obligatorisch wie beiläufig gestellte Frage: „Und? Was machen Sie so?“ lautstark und vernehmlich antwortet: „Och…eigentlich…mache ich nichts.“
Sofort wird sich um einen herum Stille ausbreiten wie Wellen von einem Stein, den man gerade in den See geworfen hat. Da kann man in einem Raum von Ballsaalgröße stehen mit 300 Leuten drin. Wenn die Stille dann absolut ist, drehen sich alle zu einem um, man kann dabei die Sehnen im Nacken der Anwesenden knirschen hören wie in Filmen über die bald stattfindende Zombie-Apokalypse, und dabei haben alle einen Gesichtausdruck wie Donald Sutherland im Film „Die Körperfresser kommen“. Fast könnte man meinen, man hätte Jehova gesagt.
Übrigens ist der erwähnte Film ein hervorragendes Remake von „Die Dämonischen“ von Don Siegel aus dem Jahr 1956. Tatsächlich gibt es gerade auf diese Szene eine Menge Anspielungen. Wer mir jetzt eine gewisse Schwäche für Science Fiction und alte Gruselfilme unterstellen möchte, hat damit vollkommen recht, aber das ändert nichts an den Fakten.
Mit so einem Spruch, mitten in die zeitsynchronisierten, aufgebrezelten Teilnehmer eines gesellschaftlichen Belanglosigkeitsevents geworfen, macht man sich automatisch zum enfant terrible. „Ich mache nichts“ rangiert in seiner Wirkung noch vor „Ich fresse kleine Kinder“ oder „Ich bin Image-Berater für den IS.“
Die Party ist für einen dann auf jeden Fall erledigt. Was vorteilhaft ist, wenn man den Gastgeber ohnehin nicht mag und in keiner beruflichen Beziehung zu ihm steht. Man kann das ganze Buffet leerräumen, sich an der Bar durch die exotischen Schnapssorten trinken bis zur Flasche mit der Hornisse drin und ruft sich dann ein Taxi, um in Ruhe einen amüsanten Abend mit Leuten – in meinem Falle vorzugsweise weiblichen Leuten – zu verbringen, die intellektuell auch was drauf haben. Vielleicht mit einem guten Qualitätsfilm aus den 50ern oder 70ern, als noch nicht alle drei Sekunden irgendwas explodieren mußte und man nicht immer zwingend Aliens brauchte, wozu hatte man das Knittergesicht von Lino Ventura?
Über seine Zeit beliebig zu verfügen, war und ist weiterhin ein Zeichen, wenn nicht das Zeichen von Reichtum in unserer…nun…unserer Zeit, wie man so sagt.
„Nichts“ zu tun hingegen gilt unserer Gesellschaft als Perversion, denn natürlich käme niemand auf den Gedanken, vom Multimilliardär zu behaupten, er tue ja nichts. Wobei ich mich immer frage, was ein Mark Zuckerberg den ganzen Tag eigentlich so macht? Oder so ein Vorstandschef einer großen Bank?
Man kann finanziell noch so reich sein, alle diese Menschen täuschen hektische Betriebsamkeit vor, selbst wenn sie gemütlich am 19. Loch ihres Golfclubs einen Kaffee trinken. Nur wer gefragt ist, ist auch wichtig. Aber sie setzen eben ihre Zeit selber ein. Diese Menschen vergeben Termine, sie gehen nicht zu welchen. Und natürlich lassen sie andere Menschen gerne eine halbe Stunde warten, wenn diese pünktlich zum Termin erscheinen. Das ist eine schlichte psychologische Machtdemonstration, die täglich millionenfach zelebriert wird. „Sieh her und erblasse, denn ich bin so wichtig und meine Zeit so kostbar, daß du Wurm extra auf mich warten mußtest, damit ich sie nicht verschwende!“
Natürlich wird einem die Personalchefin beim Vorstellungsgespräch trotzdem leutselig lächelnd die Hand schütteln und sich für die Warterei entschuldigen, versteht sich. Das gehört zum Ritual.
Während die bürgerlichen und proletarischen Soldaten im 1. Weltkrieg in nassen Schützengräben und schlammigen Schlachtfeldern von Granaten zerfetzt wurden, nachdem das zeitlich vorher genau bemessene Trommelfeuer des Feindes beendet war und das Signal einer Trillerpfeife sie aus den Stellungen befahl, saßen die preußischen Militäradligen, die Generäle und Oberbefehlshaber, nach geruhsamem Aufstehen morgens gegen 10:00 am Frühstückstisch und planten das weitere Vorgehen. Gelegentlich wurde sich noch darüber aufgeregt, daß wieder einmal ein Lagebericht nicht pünktlich eingetroffen war von der Front. Außerst lästige Sache, wie soll man denn so einen ordentlichen Durchbruch planen?
Bereits in den Anfangstagen dieses ersten industriellen Krieges, dessen Taktiker weiterhin den Methoden der Renaissance verhaftet waren, war nichts wichtiger als minutiös eingehaltene Fahrpläne für die absolut kriegswichtige Eisenbahn, bei den Russen ebenso wie bei den Franzosen und den Deutschen. Die Begegnung mit den Tod mußte pünktlich erfolgen und das tat sie meistens auch. Der so exakt ausgerichtete Sekundenzeiger eines Mr Harrison hatte zu diesem Zeitpunkt ganze Arbeit geleistet.
Aus der anfangs erzwungenen Tyrannei des Rhythmus‘ von Industriemaschinen wurde schließlich Freiwilligkeit. Nicht weniger konditioniert als die Alphas, Betas und Gammas eines Aldous Huxley betreiben Menschen heute „Selbstoptimierung“ und „Selbstvermessung“, erfassen sich selber im Takt von Zehntelsekunden und verwandeln ihre gesamte Belanglosigkeit in einen Datenstrom für die Werbeindustrie. Unzählige Gadgets existieren inzwischen, eine ganze Industrie ist entstanden, die irgendwelchen Menschen maßlos überteuerten technologischen Schnickschnack verkauft, mit dem man noch das Gasvolumen des Furzes auf dem Sofa bestimmen kann. An kaum einem anderen Trend läßt sich der Drang der Menschheit zum Feiern des eigenen Vollidiotentums besser ablesen.
Mensch hat sich dem neuen Regime angepaßt, es akzeptiert, es als unvermeidlich und am Ende sogar vernünftig begrüßt. So lange, bis aus getaktetem Wahnsinn etwas völlig Natürliches geworden ist. Jeder aus meiner Generation, also der Übergangsgeneration vom Analogen zum Digitalen, hat irgendwann einmal eine Armbanduhr zum Geburtstag bekommen und sich darüber auch gefreut, da wette ich drauf. Wir sind die Generation Tick-Tack. Eine eigene Zeit geschenkt zu bekommen war eine Aufnahme ins Erwachsenenleben, lange vor Konfirmationen oder anderen Ritualen.
Mensch hat sich der synchronisierten Zeit völlig unterworfen. Sekundenhektik scheint uns heute völlig normal.
Heute ist alles just in time. Monate vor dem Urlaub wird der Trip geplant, denn schließlich gibt es Frühbucherrabatte. Wer heute noch nicht weiß, wohin ihn in einem Jahr die Skier tragen sollen, ist nicht Teil der Gesellschaft. Lange im Voraus wird festgelegt, wann man mit Sack und Pack und Kind und Kegel an welchem Flughafen stehen wird, um irgendeinen unterbezahlten Sicherheitsbeamten die eigene Achselhöhle nach Terroristen scannen zu lassen. Und wenn man Pech hat, ist das einzige, was sich nicht an den Plan hält, der verdammte Billigflieger.
Das Ritual zu Jahresbeginn in unzähligen Bürolandschaften ist das Ausfüllen des Urlaubskalenders im eMail-Programm. Natürlich muß das dann noch mit dem betriebswirtschaftlichen Begehren des Arbeitgebers synchronisiert werden. Selbstverständlich auch mit dem Urlaub der Kollegen, die unglücklicherweise Kinder haben, die Schulferien, sie wissen schon. Aber mal ernsthaft: Habe ich die ganzen Gören gezeugt? Wäre ja noch schöner, wenn irgendwer einfach dann in den Urlaub geht, wenn er da Bock drauf hat.
Wir leben längst in einem Regime synchronisierter Zeit. Niemand könnte noch so etwas schreiben wie eine „Italienische Reise“. Dazu muß man nämlich auch mal stehenbleiben, um die Dinge um sich herum auf einen wirken zu lassen. Und in einem natürlich auch. Außerdem blieb Goethe damals allein vier Monate in Rom, das kann sich heute ja kein normaler Mensch leisten.
Zerlegt in Milli- und Mikrosekunden wird heute der gesamte Tag durchgetaktet. Wer nichts tut, ist per se verdächtig wie ein Allahu Akbar-Rufer in der Fußgängerzone, und auch nicht weniger ein Terrorist für das Empfinden der meisten Menschen. Immerhin tut man ja nichts, das bedeutet einen generellen Verstoß gegen die Regeln. Schon der Staat findet das höchst verdächtig, denn womöglich haben solche Menschen Zeit für gefährliche Tätigkeiten. Denken, zum Beispiel. Mit nichts erntet man schrägere Blicke, als auf die ebenso beliebte wie belanglose Frage: „Was machst Du am Wochenende?“ zu antworten: „Nichts!“
Es sei denn, man ist gerade auf einer Party, versteht sich.
Die Beauftragten der Zeitbank aus Michael Endes Momo haben gewonnen, auf ganzer Linie. Die Menschen sparen sich mehr und mehr Zeit und stellen am Ende fest, daß sie trotzdem nicht mehr davon haben. Überall eilen humanoide Lebewesen im Takt des Fahrplans zu Zügen, nachdem das Signal ihres Weckers sie aus irgendwelchen Schlafphasen gerissen hat, um in einem 70 km entfernten Büro Dinge an einem Computer zu tun, die sie auch von daheim tun könnten, wenn man sie ließe. Was man meistens nicht läßt, denn schließlich will das Zeitregime ja Kontrolle ausüben.
Gehorsam wird gefordert und er wird gegeben, wir synchronisieren sogar unseren Schlaf und unsere Träume mit den Erfordernissen des allgemeinen Wirtschaftswohls. Man könnte Dinge von daheim tun, aber dazu müßte man natürlich auch wollen.
Genau getaktet wird von BWL-diplomierten Typen mit Bartflaum und schmaler Lederkrawatte das Lebensziel vorgegeben. 100 „Gespräche“ zur Kundenbelästigung, 12 pro Stunde, von denen mindestens 25 Prozent in einem Abschluß enden müssen, wie auch immer der jeweils aussehen mag. Denn ansonsten kann sich der natürlich „international renommierte Arbeitgeber“ den annähernd prekären Lohn seiner teamfähigen und flexiblen Angestellten nicht mehr erlauben. Call Center, die Vorhölle des Turbokapitalismus. Auf die zweite Dezimalstelle genau werden virtuelle Ausnutzungswerte im Vorfeld kalkuliert, sogar die „Haltbarkeit“ von Mitarbeitern wird geschätzt. Man muß ja auf alles vorbereitet sein.
Das alles, ohne daß etwas geschaffen wird, es entsteht nichts Nützliches, nichts Sinnvolles, nichts Physisches. Ganz im Gegenteil besteht die Gefahr, jemandem mit dem exakt bemessenen „Kundengespräch“ ordentlich den Tag zu versauen.
Was Marx noch beschrieb als die Entfremdung des Arbeiters vom hergestellten Produkt, hat in den modernen Zeiten, denen schon ein Charlie Chaplin einen skeptischen Blick zuwarf, ungeahnte Ausmaße angenommen. Selbst die Entfremdung ist ins Exponentielle gesteigert worden durch das oft vollständige Fehlen eines eigentlichen Produkts.
Unter dem peitschenden Sekundengeflimmer digitaler Zeitanzeigen verrichten Menschen unzählige Tätigkeiten, die so recht keinen direkten Sinn zu ergeben scheinen. 1914 lebte ein großer Teil der Amerikaner noch auf dem Land. Ein Besucher in einer Stadt wie New York hätte einem Mitarbeiter in der Werbebranche – die existierte damals schon – auf die Beschreibung seines Berufs hin geantwortet: „Das soll eine Arbeit sein?“
Auf sehr viele Dinge passen diese Ansichten noch heute. Menschen in Wirtschaftsinstituten machen den ganzen Tag nichts anderes, als Zahlen in Excel-Tabellen hin- und herzuschieben, um dann alle vier Wochen zu erklären, warum eine Rente von 43 Prozent des letzten durchschnittlichen Nettobezugs zu hoch ist für den deutschen Durchschnittsarbeitnehmer und warum ein Mindestlohn, vor allem in der ökonomisch geradezu obszönen Höhe von €8,50, binnen kurzer Zeit zum Untergang Europas im Atlantik führen wird.
Auf welcher Realität die Zahlen beruhen, die da jongliert werden, hat uns auch nie jemand verraten. Für sich selbst errechnen die Grauen Herren dabei eine Produktivität, die mit €20.000 pro Monat den Jahresverdienst eines Mindestlohnbeschäftigten deutlich überschreitet. Aus unerfindlichen Gründen erscheint mir all das manchmal wenig überzeugend.
Im Film Metropolis von Fritz Lang ist der Tag für die arbeitenden Massen in zweimal 10 Stunden aufgeteilt, also zwei Schichten. Die herrschende Oberklasse, die fast den gesamten Wohlstand aus der Produktivität zieht, hat einen Tag mit den üblichen 24 Stunden. Unterschiedliche Ebenen der Gesellschaft werden symbolisiert durch unterschiedliche Ebenen der Zeit und der Zeitnutzung.
So wie das Maschinenwesen Maria eine verblüffende Ähnlichkeit mit C3PO aufweist, so ist das düstere Bild der übertechnologisierten Stadt Metropolis ein Vorbild für das Gotham City eines Batman. Lang hat schon damals eine Tendenz treffend dargestellt, die sich bis in unser Jahrtausend nur weiter fortgesetzt und verstärkt hat. Die Entmenschlichung der modernen Industriegesellschaft in Form einer Stadt, die nicht für Menschen gebaut ist, sondern für die Maschinen, die im Takt der Sekunden unablässig bedient werden müssen.
Immer mehr Menschen sind sich – bewußt oder unbewußt – über diese Dinge im Klaren. Man kann es ihnen nämlich ansehen. Kein Land verschreibt so viele Psychopharmaka für seine Bevölkerung wie die USA, denn das Hamsterrad muß sich weiterdrehen. Kinder, die etwas zappelig sind oder die auch mal verträumt aus dem Fenster starren, betäuben wir heute mit Ritalin. Ich wäre heute unter ihnen, denn in manchen Momenten war mir der Blick aus dem Fenster auch interessanter als die Rede des Lehrers.
Aber unter der Diktatur der synchronisierten Zeit bleibt eben keine Zeit, um sich mit solchen Sachen auseinanderzusetzen.
Nur für Brot und Spiele reicht es noch. Nachrichten im per Zwangsgebühr finanzierten Staatsfernsehen statt Proklamationen des Landesfürsten wie in früheren Tagen. Gladiatorenkämpfe im Dschungelcamp, auf dem „Next-Topmodel“-Laufsteg, der nicht umsonst fachsprachlich ja Catwalk heißt, Talentsimulationen im ewigen Superstar-Reigen. Überall prasselt die Botschaft auf uns ein: „Stell keine Fragen. Schon morgen könntest du auf der Bühne stehen.“
Keine Gedenkminuten, kein Durchatmen, kein Erntedank mehr in unserer Zeit. Denn wir gehen davon aus, daß die Ernte immer gut sein wird im Supermarkt. Schon morgen könnte es unsere Bühne sein, unsere 15 Sekunden Ruhm im Applaus des Publikums, das schon auf die Uhr im Smartphone starrt und per whatsapp fragt, wann denn das Taxi kommt. Ja, 15 Sekunden müssen genügen, fünfzehn Minuten kommen planungstechnisch überhaupt nicht in Frage – was für eine absurde Vorstellung der vergessenen 60er Jahre. Ein Andy Warhol würde da heute als hoffnungslos romantischer Optimist ausgelacht.
In Altenheimen bemessen wir die Qualität des Geleisteten nicht am objektiven Wohlbefinden der Bewohner. Menschen werden von Krankenkassen dort hingeschickt und kontrollieren Papierbögen oder Computerdateien, in denen – im wahrsten Sinne des Wortes – minutiös verzeichnet ist, wer wann welchen Handgriff gemacht hat und wie lange die ganze Prozedur dauerte. Aus diesem Zeitaufwand ergibt sich eine Pflegestufe und Qualitätsnoten. Im Namen der zeitlichen Effizienz und Erfassung haben wir den Faktor Menschlichkeit in diesem System völlig aufgegeben, haben ihn als unwichtig verworfen.
Ebenso wie der Friseur Herr Fusi in Michael Endes Geschichte haben wir keine Zeit mehr für Menschlichkeit, für das Gespräch mit der alternden Mutter in ihrem Wohnzimmer, denn Menschlichkeit ist kein Faktor, der sich betriebswirtschaftlich erfassen ließe.
Computeralgorithmen schieben Milliardenwerte um den Planeten, ohne jedes menschliche Urteil, ohne Einflußnahme. High-Speed-Trading spielt sich in Millisekunden ab, und es dauert auch nur deswegen so lange, weil die Peripherie, die an einem Computersystem hängt, einfach so langsam ist. Grafikkartenspeicher oder andere Dinge messen ihre Taktzyklen längst in Nanosekunden.
Wir überlassen den Maschinen, deren Diener wir längst geworden sind, immer größere Teile der Welt, in der wir leben. Immer empfindlichere Teile noch dazu. Vor nicht allzu langer Zeit führte ein Computerfehler an der New Yorker Börse dazu, daß der Dow-Jones, der wohl wichtigste Börsenhandelsindex der Erde, innerhalb kürzester Zeit um mehr als 1000 Punkte nach unten sackte. Grund war ein Fehler innerhalb diverser Computeralgorithmen, die, mit einem festen Grenzwert ausgestattet, an einem bestimmten Punkt begonnen hatten, einfach immer weiter Anteile zu verkaufen. Je mehr Anteile verkauft wurden, desto niedriger notierte der Preis, desto mehr andere Computer stiegen in die Verkaufsspirale mit ein. Eine Art vollautomatisierter Börsenpanik, könnte man sagen.
Computer steuern Luftraumüberwachung und Energieversorgungsnetze. Das Netzwerkzentrum eines großen Internetproviders in Darmstadt oder das der Deutschen Bahn sieht genau so aus, wie man sich das aus einen Science Fiction vorstellt, in dem die Aliens die Erde angreifen und der noch mit Basecap ausgestattete Präsident, direkt vom Golfkurs gepflückt, von Militäruniformen umringt in das topgeheime Lagezentrum unter der Erde gebracht wird, in dem bereits die Nerds aller Fachrichtungen aufgeregt diskutieren und Pläne schmieden. Überall Linien auf gigantischen Monitoren, daneben kryptische Zahlenkürzel, Menschen mit Headsets, die in einer Art mathematischer Stakkatosprache Anweisungen erteilen oder entgegennehmen. Stellwerke für den Schienenverkehr sehen nicht anders aus, Verteilungszentren für die Energieversorgung ebenfalls nicht.
Alle empfindlichen Stellen unserer Zivilisation befinden sich schon lange nicht mehr in menschlicher Hand. Die Lebensformen aus Silizium und Gallium-Arsenid haben uns hier längst den Rang abgelaufen.
Überall beugen sich Menschen über ihre Smartphones und sind dabei wesentlich weniger smart als ihre Kleincomputer, von denen sie weder wissen, wie sie funktionieren, noch wie sie gebaut werden oder nach welchen Prinzipien sie überhaupt arbeiten.
Im Schummerlicht der 5-Zoll-Displays starren Menschen auf ihr verdammtes Telefon, während sie mir auf meinem Radweg in der falschen Richtung entgegenkommen, und nehmen nichts von dem wahr, was um sie herum vorgeht. Vermutlich suchen sie gerade auf Google Maps den Weg nach Hause.
Als wären die fossilen Vollidioten, die ihren Wagen mit einer Telefonzelle verwechseln, nicht schon schlimm genug. Überall piepst es, klingeltönt es, erheben die digitalen Helfershelfer ihre Stimme – und zwar gebieterisch. Nichts ist mehr mit „Ruf! Mich! An!“.
Das Motto heißt längst „RUF! MICH! AB!“. Das zarte Ertönen von Wagners Walkürenritt in einem Waggon voller Menschen genügt, um hektische Aktivität auszulösen in mindestens 25 Mänteln, 12 Jacken und 17 Handtaschen, während die – meist Jüngeren – ohnehin nicht mehr aufhören, die verdammten Zombiekisten zu streicheln beim Wischen durch die Playlist, um sich den neuesten Ghetto-Rap in die Ohren zu fönen. Auf 20 Kilometern Strecke gefühlte einhundert Gespräche des Inhalts: „Bin im Zug. Bin dann gleich zu Hause.“
Als wenn die Geliebte, Frau, Freundin oder sonstwie geistig ausgeklinkte Person das nicht auch in fünf Minuten gemerkt hätte, wenn der Betreffende dann eben zu Hause ankommt. Aber natürlich ist jede Sekunde total überlebenswichtig heutzutage, wahrscheinlich wird sonst das Mikrowellen-Essen kalt.
Einstein, der alte Philo-Physiker, hat vor etwas mehr als 100 Jahren das Weltbild des Menschen vollkommen umgekrempelt. Wissenschaftler haben uns bis in die 10-12 Sekunden erklärt, wie unser Universum seinen Anfang nahm, als Quantenpunkt, als Fluktuation in Quantenschaum, noch bevor die Zeit an sich überhaupt existierte. Wir haben die Bewegung von Galaxien entdeckt und vermessen, die genaue Entfernung bis zum Mond läßt sich heute jederzeit auf den Zentimeter erlasern, nachdem endlich mal einer da war und die entsprechenden Spiegel aufgestellt hat. Ohne Harrisons exakten Sekundenzeiger wäre all das unmöglich gewesen.
Digitalisierung macht gar nicht das Wissen der Welt verfügbar. Nur Informationen, mit denen viele gar nichts anfangen können.
Aber wie hoch ist der Preis, den wir bezahlt haben für diese Dinge?
Das Universum ist erfaßt, unterteilt in Nano-, Femto- und Pikosekunden, mit denen Physiker im CERN noch immer herauszufinden versuchen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Wir haben dadurch nicht mehr Verständnis entwickelt für das, was uns jeden Tag umgibt. Zu meiner Schulzeit war ein Sonnentag 86.400 Sekunden lang. Aber eine Sekunde war definiert als der 86.400te Teil eines mittleren Sonnentages. Was für ein Blödsinn. Noch immer weiß ich nicht, wie lang denn nun eine verdammte Sekunde eigentlich ist. Niemand hat mir darauf jemals geantwortet.
Auch die Smartphone-Zombies mit dem Wissen der Welt unter den Fingerspitzen, die über den kapazitiven Touchscreen gleiten, sind nicht schlauer als meine Generation früher. Alles kann nachgeschlagen werden, die Welt ist immer dabei. Im Live-Ticker wird man mit allen möglichen Neuigkeiten belästigt, vorwiegend solchen, die nicht neu sind oder nicht besonders korrekt – diese Hektik im Onlinejournalismus, siewissenschon – und vor allem meistens auch Neuigkeiten, die einem auch getrost hätten gestohlen bleiben können, bis mal einer die Einzelheiten recherchiert hat. Aber das macht ja heute keiner mehr.
Alles Wissen der Welt mag in Wikipedia stehen, aber es ist fließend, je nachdem, wer gerade wieder an einem Artikel rumgepfuscht hat. Es ist gar kein Wissen. Wissen kann man ohne ein Lehrbuch oder ein Wiki zitieren und darauf zugreifen, denn man trägt es im Kopf mit sich.
Wir haben nicht alles Wissen der Welt digital verfügbar, wir haben nur einen unglaublichen Haufen an Informationsmüll, den wir eigentlich durchsieben müßten, um irgendetwas zu lernen. Aber wir können nicht. Erschreckt zucken wir zurück vor der Möglichkeit oder sogar der dringenden Notwendigkeit des selber-Denkens und beauftragen irgendeinen Algorithmus, uns doch bitte nur Dinge vorzusetzen, die wir für nett und angenehm empfinden. Oder wir fragen gleich Siri, ist ja so eine nette Frau, die da im Telefon wohnt.
Mensch hat sich bereitwillig in einen Gleichschritt begeben, der sich in nichts von dem unterscheidet, was der „Einzige Staat“ in Samjatins Geschichte seinen Nummern als erstrebenswerte Perfektion propagandiert. Genau wie sie begrüßen wir all das, sehnen den Augenblick herbei, wenn jede Sekunde, jeder Moment unserer Existenz erfaßt sein wird, abgespeichert, verarbeitungsbereit, abrufbar.
Wir sind glücklich darüber, nicht darüber nachdenken zu müssen, was als nächstes geschieht. Wir lieben die Planbarkeit, denn sie schenkt uns die Illusion der Sicherheit. Wir wickeln uns in den Takt der Sekunden wie in eine wärmende Decke und fragen nicht mehr, warum uns kalt ist.
Schon der Urlaub des nächsten Jahres setzt uns so unter Streß, daß ich es verwunderlich finde, daß überhaupt noch wer arbeiten geht. Nicht verwunderlich finde ich, daß so viele Menschen mit Depressionen und Burnout in der Gesellschaft herumfallen. Und schließlich auch aus ihr heraus. Unsere Zukunftsplanung ist terminiert und überschaubar, was uns ein Gefühl von Beherrschbarkeit gibt. Der synchronisierte Mensch stirbt mit dem Gedanken: „Das kann nicht sein. Nicht jetzt. Ich habe noch Karten für das Fußballspiel nächste Woche.“
Je genauer, je kleiner wir die Welt einteilten in Zeitabschnitte, desto wahnsinniger und surrealer ist das ganze Gewusel der menschlichen Zivilisation geworden. In einer Art temporaler Impulserhaltung hat sich Mensch immer mehr von sich selbst und seiner Umwelt entfernt, bis wir schließlich den Kontakt verloren haben zu den wirklich wichtigen Dingen. Aus etwas Natürlichem, dem Vergehen von Jahreszeiten und dem Rhythmus von Tagen und Nächten, haben wir einen Bürokalender gemacht, auf den die enthemmt grinsenden Selfiebilder der Urlaubskollegen gepinnt sind. Irgendwo auf der Erde ist ja immer Sommer, auch im November. Aber warum fährt jemand irgendwohin, um sein eigenes Gesicht abzulichten statt des Taj Mahal?
In Samjatins Geschichte wird am Ende der Sitz der Phantasie im menschlichen Gehirn lokalisiert und folgerichtig beseitigt. Nie wieder wird jemand einen Aufstand planen können gegen das Regime der Synchronisierten Zeit. Denn dazu müßte man sich ja etwas anderes vorstellen können. Was in Orwells Variante durch die Vernichtung von Sprache indirekt geschehen soll, nämlich die Unmöglichkeit jeglicher Formulierung einer anderen Art der Existenz und Lebensführung, geschieht bei Samjatin kalt, direkt, mechanisch und höchst wirkungsvoll.
Mit perfekter Effizienz, vollkommen gefühllos und endgültig tragen die Grauen Herren den Sieg davon.