Die unerträgliche Nachhaltigkeit des Seins

– IV –

Zahlen, bitte!

„Sie dürfen nicht alles glauben, was Sie denken.“
Heinz Erhardt

Trotz aller zur Schau getragenen Modernität und Aufgeschlossenheit gegenüber einer irgendwie anderen, freundlicheren, grüneren Zukunft verbirgt sich hinter all diesen Konzepten noch immer dieselbe hirnlose Annahme wie schon seit Jahrzehnten: Das Mensch eine Spezies ist, die von ihren Handlungen keinerlei Konsequenzen zu befürchten hat.
Wir wollen nicht, daß unser Handeln Konsequenzen hat. Obwohl das ein Punkt ist, den unsere Eltern meiner Generation noch beibrachten.
„Aus Fehlern wird man klug“, sagte Mutter, als das Kind auf der drei Meter hohen Mauer balancierte. Heute würden atemlose Bruterzeuger sofort zum Smartphone greifen, um die Armee anzufordern, damit sie Matratzen abwirft und danach eine Bürgerinitiative gründen, um die brandgefährliche Steinmauer auf der Stelle mit Seilen, Brücken und Polstern an allen Ecken und Kanten ausstatten zu lassen. Natürlich von öffentlichen Geldern.
Wir sind damals auf die Fresse gefallen, wenn wir nicht aufgepaßt haben. Was einen nicht davon abhielt, nochmal auf der Mauerkrone zu balancieren. Nur hat man beim zweiten Mal eben besser darauf geachtet, wo man gerade hintritt. Handlungen haben Konsequenzen. Lernen ist eine davon.

Menschen als Individuen sind zu Lernprozessen durchaus fähig. Im Grunde genommen sind sie nur dann lebensfähig, wenn das der Fall ist. Es gibt eine Handvoll Ausnahmen, aber die werden dann amerikanische Präsidenten, Standard-Ökonomen oder Alexander Dobrindt, fallen also für die kulturelle und intellektuelle Entwicklung der Zukunft der industriellen Zivilisation nicht ins Gewicht.
Das ist eines der Mißverständnisse, mit denen unsere untergehende Kultur im zunehmenden Maße ringt. In heutigen Schulen und an heutigen Universitäten werden Lebewesen mit mehr oder weniger menschlichen Ansätzen in recht effektive Prüfungsbestehmaschinen verwandelt. Denn die nächste Barcelona-Prüfung, der nächste PISA-Test, sie kommen bestimmt.
Macht das jeweilige Lerninstitut nicht genug Punkte, streicht es die Bundesregierung womöglich von der Liste seiner Exzellenz-Unis, was weniger Geld bedeutet. Also müssen Klausuren per Ankreuzverfahren bestanden werden und so austariert, daß nicht zu viele durchfallen. Aber auch nicht zu wenige, denn man hat ja nur begrenzt Platz. Sorgfältig wird hier der universitäre Lernprozeß angepaßt an die ökonomischen Notwendigkeiten, die erfüllt sein müssen, damit die jeweilige Bildungseinrichtung auch im nächsten Haushaltsjahr kraftvoll zubeißen…nein, mit beiden Händen tief in den aufgestellten Topf mit Regierungsgold greifen kann.

Das gesamte Lernen ist inzwischen einem System aus Zahlen unterworfen worden. So und so viele Tests über diese und jene Themen, mit diesen und jenen Bewertungen führen zu dem und dem Abschluß als Bachelor oder Master.
Diese Idee wurde von Ökonomen erschaffen, die Ende der 70er Jahre Politikern erzählten, daß man die alte, ineffiziente Lernbürokratie, oder überhaupt die ganze Verwaltung der Gesellschaft, am besten von Zahlen bestimmen läßt. Zahlen haben keine Meinung. Zahlen sind objektiv.
Schon hier zeigt sich der eklatante Mangel an Gehirnen von Standard-Ökonomen sehr deutlich: Natürlich ist eine Zahl an sich objektiv. Aber was ist mit denjenigen, die diese Zahlen erfassen?
Irgendwer muß doch in im Vorfeld eine Liste erstellen von Dingen, die bewertet werden sollen. Ein Raster, in das man Werte eintragen muß.

Wenig überraschend stellten also Ökonomen eben solche Listen und Tabellen auf. Sie stellten sie auf unter der Annahme, daß das bisherige System ineffektiv und zu bürokratisch unflexibel sei und die Leistungsfähigkeit gesteigert werden müsse. Womit die Objektivität auch schon wieder den Bach runter ist.
Aber Maggie Thatcher war begeistert.
Und so wurde der NHS, der National Health Service der Briten, komplett umgebaut. Heute rangiert er von der Leistungsfähigkeit irgendwo zwischen Südost-Nepal und der Westantarktis, wobei allerdings in der Westantarktis der Anteil echter Wissenschaftler deutlich höher liegen dürfte. Zum Ausgleich kostet das System so viel Geld, daß man damit ein oder zwei Dutzend neuer Universitäten bauen und das dazugehörige Personal einstellen könnte. Amerikaner würden sich in dieser Umgebung wie zu Hause fühlen.
Weil diese Reform so unglaublich erfolgreich war, daß die Briten wieder dazu übergingen, Druiden und Schamanen aufzusuchen, führte man sie gleich mehrfach durch. Das kennen wir aus Deutschland ja auch nur zu gut. Heute ist der NHS wesentlich leistungsfähiger als zu Beginn der 80er Jahre. Die Wartelisten sind kürzer, die verfügbaren Methoden hochmodern, das Personal auch auf Pflegeebene universitär ausgebildet.

Anweisungen sind das eine. Die richtigen Fragen zu stellen ist das andere. Und die wichtigste Frage überhaupt steht hier direkt an der Wand. Einfach nur Zahlen hinzunehmen oder etwas für Fakten zu halten, weil hundertausend Leute das auf Facebook geteilt haben oder eine Petition unterschrieben, führt die Zivilisation zu immer größerer Dummheit.

Die Wartelisten sind deshalb kürzer, weil die marktbefreienden Kräfte, an welche die Ökonomen der Thatcher-Regierung glaubten, den Krankenhäusern keine Vorschriften mehr machten. Man definierte einfach, daß Wartelisten zu verkürzen seien. Wie das gemacht wird, ist egal. Diese Methode kennt man auch heute noch aus der freien Wirtschaft. Man definiert eine Zielvorgabe, wie diese erreicht wird von den jeweils Beauftragten, ist egal. Auf der einen Seite erspart das eine Menge Bürokratie. Auf der anderen Seite ist es die größte Ausgeburt des Vollidiotentums, die man sich vorstellen kann, das kommt auf das Anwendungsgebiet an. Denn niemand stellt in diesem Prozeß die Frage, ob eine Zieldefinition überhaupt Sinn ergibt.
Die wichtige Frage wäre die älteste der Menschheit. Also Warum.
„Warum sind die Wartezeiten so lang?“
Die Antwort wäre vermutlich: „Weil wir zu wenig Personal haben und zu wenig Betten.“
Es könnte auch etwas komplizierter sein, versteht sich. Beispielsweise: „Wir haben zu wenig Hausärzte, darum kommen alle Leute zu uns.“
Oder: „Wir haben zu wenig Hausärzte, weil sich das für die Mediziner nicht lohnt vor lauter Bürokratie. Außerdem spielen die Mittwoch nachmittags alle Golf.“
All diese Dinge wären möglich und sind es meistens auch. In Deutschland gehen alle am Wochenende in die Notaufnahme, weil sonst keiner da ist und man ausnahmsweise auch Zeit hat, denn man muß ja nicht arbeiten.
Aber das interessiert eben niemanden.
Bereits mit der Zieldfinition „Verkürzen der Wartelisten“ ist bereits die Annahme eingebaut, daß mit Personalstärken, Ausstattung, Art und Anzahl von Behandlungsplätzen eben alles in Ordnung ist. Daran kann es nicht liegen. Die einzige Option, die ein Krankenhausdirektor also nicht hat, nachdem dieses völlig objektive, leistungsfördernde Konzept implementiert worden ist, ist es, eine Bestellung an den Staat abzuschicken, in der ein paar neue Krankenhäuser geordert werden. Oder mehr Personal. Oder mehr Hausärzte. Oder eine andere Organisation von Notdiensten. Zahlen sind objektiv. Aber nur die, nach denen auch einer gefragt hat.

Der nächste Schritt in die allumfassende Katastrophe ist dann, daß die politische Konkurrenz diese wunderbaren Konzepte übernimmt. Man verspricht den Wählern die Befreiung von lastender Staatsbürokratie. Ronald Reagan hat das getan und gesagt: „Government is the problem“. Die Eiserne Lady hat das ebenfalls getan. Und weil die anderen auch mal wieder Wahlen gewinnen wollten, sagten sie etwas später genau dieselben Dinge. Die Betonung der Freiheit des Individuums von Bevormundung durch den Staat wurde zum Mantra der amerikanischen Demokraten, der britischen Labours und ebenso der deutschen Sozialdemokraten.
Nach dem Sturz Thatchers kamen also die anderen an die Macht, John Major und Tony Blair regierten den Inselstaat und versprachen Befreiung, Auflösung von Klassengesellschaft und überhaupt das soziale Paradies für alle. Das wiederum war so ziemlich das Gleiche, was ein Bill Clinton auf der anderen Seite des Atlantik ebenfalls versprach, abzüglich Klassengesellschaft allerdings, denn Amerikaner gehen noch immer davon aus, daß es so etwas bei ihnen gar nicht gab oder gibt. Es ist undiskutierbarer Kernpunkt des Amerikanischen Traums, daß die Gesellschaft für jeden nach überall hin durchlässig ist. Natürlich ist das Blödsinn.

Kaum war Labour also an der Macht, wandten sie die Macht der objektiven Zahlen auf das britische Bildungswesen an. Leistungen wurden gemessen, kategorisiert, katalogisiert. Gleichzeitig zeigte sich, daß die wunderbaren Reformen des NHS seltsamerweise nicht zu einem besseren System geführt hatten.
Da gab es beispielsweise den Beruf der „Hello“-Nurse. Diese Damen begrüßten wartende Patienten im Wartebereich. Das wiederum bedeutete, daß jemand den Patienten gesehen hatte, woraufhin er von der Warteliste gestrichen wurde. So sanken im NHS die durchschnittlichen Wartezeiten in Krankenhäusern auf immer neue Tiefstwerte.
Woanders führten Chirurgen die einfachen Operationen zuerst durch. Denn hier war wenig Aufwand erforderlich, also gab es mehr Operationen pro Tag, was das Krankenhaus im Leistungsindex noch oben beförderte. Wen interessiert die Herztransplantation, wenn man statt dessen den eingewachsenen Nagel freischneiden kann.
Überall zeigte sich dasselbe Phänomen, daß auch schon die kommunistische „Planwirtschaft“ geplagt hatte: Wenn niemand nachsieht und es um Geld geht, erfinden Menschen wahnsinnig kreative Methoden, die Zahlen aufzuhübschen, die ihren eigenen Bereich betreffen. Ich setze den „Plan“ ausdrücklich in Anführungszeichen, weil ich der Meinung bin, daß eine echte Planwirtschaft noch niemals auf diesem Planeten versucht worden ist. Den Kommunisten hinterm Eisernen Vorhang ging es niemals darum, eine Wirtschaft zu planen. Es ging darum, das eigene ideologische System möglichst schick aussehen zu lassen auf dem Papier.

John Major und auch sein Nachfolger Blair verbuchten all diese Betrügereien und Fälschungen unter der Rubrik „bedauerliche Einzelfälle“. Trotzdem erließ die Labour-Regierung jede Menge Vorschriften, die sicherstellen sollten, daß die Menschen in Krankenhäusern und anderswo ihre Arbeit auch wirklich ordenlich erledigten. Anders gesagt: das Personal war sehr bald so sehr mit Dokumentieren seiner Arbeit beschäftigt, daß es kaum noch dazu kam, seinen Job zu machen. Ähnlichkeiten mit aktuellen Pflegesystemen anderer Länder sind hierbei ausdrücklich nicht zufällig.
Und so wurde die Diktatur der Bürokratie durch die Diktatur der Bürokratie ersetzt. Diesmal allerdings beruhte die Bürokratie darauf, daß Zahlen natürlich die einzig objektive Methode sind, etwas zu messen.

Zahlen an sich eignen sich durchaus zur umfassenden Beschreibung der Welt. Werden sie aber zur einzigen Beschreibung der Welt erklärt, ist die Katastrophe unvermeidlich.

Der Mindestlohn in Deutschland ist ebenfalls auf demselben Mist gewachsen. Offiziell existiert er, wird aber recht häufig kreativ umgangen. Wie häufig, weiß aber keiner so genau. Denn in einem ganz cleveren Zug hat man die Überwachung der Einhaltung dem Zoll übertragen, nicht etwa dem zuständigen Finanzamt. Um sicher zu sein, daß das Instrument recht wirkungslos ist, hat man auch weder bei Zoll noch beim Finanzamt neues Personal eingestellt.
In Großbritannien führte Labour derweil das schon beschriebene System im Bildungswesen ein. Unis bekamen Bewertungen. Professorenbekamen Bewertungen. Die Qualität der Lehre wurde in objektiven Zahlen gemessen, um so jedem Briten, der seine Kinder mit einer guten Ausbildung bedenken wollte, die Möglichkeit der besten Wahl zu geben.
Was die Briten dann auch ausnutzten. In der Umgebung der besten Universitäten kauften die gut Betuchten Häuser. So eine Elite-Uni ist ja nicht billig, da kann man wenigstens um die Ecke wohnen. Natürlich stiegen damit die Immobilienpreise ins Unermeßliche. Das machte es dann einfacher für die reichen Eliten, unter sich zu bleiben. Statt die Flexibilität der Gesellschaft zu erhöhen und die Durchlässigkeit zwischen den sozialen Schichten zu verbessern, erreichte die Politik exakt das Gegenteil. Während die Reichen weiter reicher und die Armen ärmer wurden, wurden die Armen gleichzeitig auch noch dümmer.
Völlig begeistert von diesem unerwarteten Erfolg, den Labour auf Nachfrage vehement abstritt, übernahm Gerhard Schröder auch diese Ideen und baute sie in Deutschland ein. Die „bildungsfernen Schichten“, entdeckt von irgendwelchen Soziologen in einer von der Zivilisation abgeschnittenen Rheinaue bei Düsseldorf, hielten Einzug in die euphemistische Politpropaganda.

Niemand stellte die Frage, ob man Krankenpfleger mit Uni-Ausbildung eigentlich braucht. Ganz besonders, wenn diese die Ausbildung selber bezahlen müssen und hinterher Schulden in sechsstelliger Höhe abstottern. Wem das übertrieben erscheint, der sei auf die USA verwiesen. Dutzende, sogar Hunderte von Berufsbildern, die man vor dreißig oder vierzig Jahren als Ausbildungsberuf eingestuft hätte – oder hat, falls sie damals schon existierten – erfordern heute auf jeden Fall einen Abschluß auf Höhe des Bachelors. Also etwa eines Vordiploms einer deutschen Uni, das es ja in manchen Fächern gab.
Niemand stellte die Frage, ob es überhaupt machbar ist oder sinnvoll, so etwas wie Pflege oder Erziehung in Hunderten von Zahlenkolonnen zu messen. Es ist einfach nur so, daß unser Wirtschaftssystem mit anderen Dingen eben nichts anfangen kann. Diese ganzen Ideen mit der Abschaffung staatlicher Bürokratie, die dann durch das freiheitliche Bestreben der einzelnen Beteiligten ersetzt wird, entstammt, wie man unschwer erkennen kann, der ökonomischen Lehre der Chicagoer Schule. Denn die Berater der Thatcher-Regierung, der Reagan-Regierung, der Kohl-Regierung, waren allesamt Anhänger exakt dieser Ausrichtung kapitalistischer Wirtschaftstheorie, also dessen, was man heute mit dem Etikett „Neoliberalismus“ bedenkt.

Nachhaltigkeit bedeutet für heutige Großbanken, darüber nachzudenken, ob das Heilen von Patienten ein Geschäftsmodell bleiben kann.
Was aus menschlicher Sicht zynisch erscheint, ist aus der Sicht unserer Ökonomie verantwortungsbewußt gegenüber den Shareholdern und liegt im Eigeninteresse der Vorstände dieser Scheißbank, deren Ideologie den Planeten verseucht hat wie Ratten eine Kloake.
Die Abgesandten der Hölle, die den Agrarökonomen besuchen, sorgen für Wirtschaftswachstum, alles in Zahlen meßbar. Sogar in objektiven Zahlen in so einem Moment. Aber das Mensch damit seinem eigenen Wasser auf die Eier geht, wird ausgeblendet. Externalisierung ist das, was die Bilanzen unserer heutigen Welt ins Unendliche schönt.
Das gut die Hälfte der Weltbevölkerung keinen ausreichenden Zugang zu ordentlichem Wasser hat beziehungsweise haben wird, wenn die Dinge so weitergehen wie bisher, ist uns ziemlich egal. Außer vielleicht, wenn die Westküste der USA endlich vertrocknet. Dann werden in Europa die Mandeln teurer zu Weihnachten. Katastrophe!
Das Plastik inzwischen zur echten Bedrohung zu werden scheint, interessiert uns auch erst dann, wenn wir ihm nicht mehr ausweichen können. Und die Konzerne interessiert es erst, wenn dadurch ihre Umsätze bedroht sein könnten.
Wenn zum Beispiel in den Wasserflaschen, die von den nachhaltigen, selbstverantwortlichen Konsumenten in meiner Umgebung palettenweise im Supermarkt gekauft werden, so viel mikroskopisch zerstäubtes Plastik zu finden ist, daß es unter dem Mikroskop schon aussieht wie ein Tropfen aus dem Gartenteich. Nur mit weniger Biologie. Die miesesten Werte im zitierten Artikel erreicht übrigens Nestlé. Das ist meine Art von Humor.

Noch immer glauben wir Menschen an die Meßbarkeit der Welt in allen Facetten. Zumindest glauben es diejenigen, die unsere Gesellschaft politisch und wirtschaftlich lenken. Man kann nicht messen, ob sich ein Mensch um einen anderen gekümmert hat. Aber aus Gewohnheit tun wir weiter so, als ginge es trotzdem.
Doch sie haben keine andere Wahl, als das zu glauben, denn ansonsten müßten sie ihr eigenes Weltbild in Trümmer legen. Sie müßten zugeben, sich über diverse Jahrzehnte immer wieder geirrt zu haben. Nicht nur das, sie hätten jeglichen Irrtum auch immer wieder abgestritten.
Lernen bedeutet nicht, etwas auswendig wiedergeben zu können. Lernen bedeutet, daß man eine grundlegende Struktur so verstanden hat, daß man damit eigene Arbeiten im Kopf verrichten kann.
Es bedeutet auch, Dinge miteinander in Verbindung zu setzen, dies nicht nur zu können, sondern auch zu wollen. Lernen bedeutet auch die Erkenntnis, daß dieser Prozeß im Laufe eines Lebens niemals erfolgreich abgeschlossen sein wird. Ich könnte dreihundert Jahre alt werden bei guter geistiger und körperlicher Gesundheit, und trotzdem würde ich niemals behaupten, daß es für mich nichts mehr zu lernen gäbe.

Noch immer ist der Glaube an die Zahl, an das Objektive in Prozenten und Mathematik, in unserem Alltag tief verankert.
Echte Nachhaltigkeit wird in unserer Gesellschaft schon dadurch geradezu unmöglich gemacht. Alle Probleme werden auf Klimazerstörung rediziert. Wenn wir nur das CO2 runterbekommen, diesen in Teilen pro Million gemessenen Wert – der aktuell übrigens bei etwa 405 ppm liegt – dann wird alles gut werden. Die definierte Zielvorgabe ist es, 100% erneuerbare Energien zu erreichen bis zum Jahr X.
Stellt man die Frage, ob das physikalisch überhaupt möglich ist oder überhaupt sinnvoll in einer Industriegesellschaft, zum Beispiel bezüglich der dazu notwendigen Infrastruktur, wird man ausgebuht, ignoriert oder erhält von den bewegten grünen Weltenrettern einen ebenso glasigen Blick wie vom Abgesandten der Hölle, der dem Milchbauern seinen zahlenreichen Vortrag hält.

Wenn 90% aller Fischbestände gefährlich überfischt sind, dann fangen wir eben weniger und züchten dafür mehr Fisch in Aquafarmen. Auf der einen Seite zeigt sich hier, daß Zahlenwerte durchaus objektiv sein können. Denn die Menge an gefangenem Fisch wird aus ökonomischen Gründen erfaßt. Auch Gewicht und Größe der Exemplare sind dabei.
Es ist das gleiche Spiel wie beim Erdöl. Niemand weiß, wie viel Öl die Saudis noch im Boden haben. Mit Ausnahme eines Personenkreises, den ich auf nicht mehr als ein halbes Dutzend schätze, sind diese Zahlen Staatsgeheimnis. Das hat vor allem den Grund, daß die OPEC in den 80er Jahren Förderquoten für ihre Mitglieder festlegte, die wiederum auf der Menge der Reserven beruhten. Urplötzlich verdoppelten sich die Vorräte an Erdöl, weil jeder noch so hypothetische Tropfen als „Reserve“ deklariert wurde. Denn Öl zu verkaufen bedeutet Geld für den Staat und wer will da schon weniger verkaufen, als er kann?
Das hat dazu geführt, daß Saudi-Arabien heute noch genauso viel Öl im Boden hat wie vor etwa fünfunddreißig Jahren, jedenfalls nach den offiziellen Zahlen. Einer der saudischen Ölminister erklärte das einmal recht unverblümt in einem Interview: „Wir nehmen das, was wir gefördert haben, und zählen es zu den Reserven dazu.“
Eine interessante Mathematik, wie mein Mathelehrer gesagt hätte. Meistens bei der Rückgabe einer meiner Klausuren. Ganz offensichtlich sind also die offiziellen Reserven der Saudis ein Zahlenwert, dem man nicht trauen kann.
Was man aber recht gut kennt, ist die Menge an Öl, die das Land fördert und verkauft. Denn dieses Öl landet in Tankern großer Konzerne und die müssen das bezahlen, weshalb sie ein sehr starkes Interesse daran haben, genau zu wissen, wieviel Öl jetzt gerade an Bord gepumpt wurde.
Man könnte also diese Mengen von den einmal verkündeten Reserven schlicht subtrahieren, denn das ist hier die einzig korrekte mathematische Operation. Aber sehr viele Politiker und Ökonomen weigern sich einfach, das auch zu tun. Auch die OPEC weigert sich. Denn natürlich machen alle ihre Mitglieder so ziemlich dasselbe wie die Saudis, da wird man sich nicht ins eigene Bein schießen.
Was den Fisch betrifft: Man weise einmal darauf hin, daß Aquafarmen lokale Probleme mit der Überdüngung des Meeres auslösen. Oder darauf, daß sehr viele Farmfische sehr viel Futter benötigen. Das wiederum besteht gerne aus…Fischmehl. Der steigende Prozentsatz von Fischen aus Aquafarming sagt also erst einmal nichts über eine höhere Nachhaltigkeit der Produktion aus.

Echtes Lernen ist Voraussetzung für den wirklich wichtigen Schritt. Aus echtem Lernen entsteht im Idealfall Verstehen. Aus Verstehen erwächst Erkenntnis.

Echtes Lernen setzt auch voraus, daß man verschiedene Faktoren miteinander in Bezug setzt. Dann stellt sich oft sehr schnell heraus, wie objektiv irgendwelche Zahlen tatsächlich sind oder überhaupt sein können. Die meisten Menschen waren noch nie wirklich gut darin, vernetzt zu denken. Unser Bildungssystem hat diese Sache in den letzten dreißig Jahren nicht verbessert. Das Problem des wissenschaftlichen Reduktionismus zeigt sich auch hier sehr deutlich. Natürlich kann man eine komplexe Geschichte wie Klimazerstörung in einzelne Teilbereiche und -probleme auflösen und versuchen, hier irgendwo anzusetzen. Das ist sogar bei komplexen Dingen erforderlich. Wenn ich eine Mondrakete bauen will, muß ich bestimmt auch ein paar Fragen bezüglich Metallurgie klären. Oder herausfinden, wie lange eigentlich so ein betanktes Shuttle auf der Startrampe stehen kann, bevor es Gefahr läuft, allen um die Ohren zu fliegen.
Nur muß man all diese Dinge auch wieder zusammensetzen am Ende und sie in ihrer Gesamtheit betrachten. Tut man das nicht oder nicht gründlich genug, erreicht man den Mond niemals.
Hier zeigt sich ein weiterer Punkt: Eine Mondrakete bauen ist ein beeindruckendes Projekt. Aber es ist auch kurzfristig. Es ist sehr konkret. Es ist greifbar. Es ist aus menschlicher Perspektive zeitlich überschaubar.

Für die Lange Dämmerung trifft das oftmals nicht zu. Mensch steht vor einem Flaschenhals in der Entwicklung seiner Zivilisation, den er selber über mindestens ein oder zwei Jahrhunderte selbst verursacht hat. Dinge sind in Bewegung gesetzt worden, die nicht zu stoppen sein werden. Jedenfalls nicht innerhalb einer menschlichen Lebensspanne. Der Zeitfaktor spielt eine sehr entscheidende Rolle.
Das Erfassen des Szenarios, seine Entwicklung, die dazugehörigen Zahlen und das Verständnis derselben erfordern in vielen Fällen Jahrzehnte an Arbeit. An die Stelle von konkreter Greifbarkeit tritt oft diffuser Nebel.
Doch alles ist denkbar, alles wird überschaubar und auch begreifbar, wenn man ein Prinzip nicht vergißt. Menschliches Handeln hat immer Konsequenzen.

19 Comments

  1. „… Freiheit des Individuums von Bevormundung durch den Staat …“ ist erstmal keine schlechte Sache, zumindest nicht solange wir „… die Diktatur der Bürokratie …“ als reales Problem vor uns haben.
    Ich habe schon meine Gründe, warum ich das Beamtentum abschaffen will.
    Latürnich ist es damit allein nicht getan, aber es gehört unbedingt zum erforderlichen Gesamtpaket.

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    1. Die Zahlen, nach denen alles bemessen werden sollte, ebenso die grundlegenden Ideen der wunderbaren Befreiung, kamen in den 80ern von Ökonomen, nicht Beamten.

      Die hat man durch unterbezahlte Angestellte ersetzt. Und die durften sich dann später unter Labour um die neue Bürokratie kümmern, die man erfand, um all das zu dokumentieren, was vorher so eigenverantwortlich frei war – und eben korrupt und dysfunktional.

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      1. Die Beamten sind die Gehilfen der Ökonomen. Und sie sind korrupt und dysfunktional. Das sieht man immer dann, wenn mal jemand von außerhalb in ihren Reihen mitmischt. Es sind die Leiharbeiter und städtischen Angestellten, die heute Korruption und Schlendrian innerhalb des Beamtenapparates aufdecken.
        https://www.bitchute.com/video/9WJJxYlQ5xfp/
        Um Korruption zu verhindern wurde einst eine privilegierte Parallelgesellschaft geschaffen – die Beamten. Das hat mal gut funktioniert. Heute haben wir aber sehr viel bessere Methoden um Korruption zu verhindern. Und wir könnten noch wesentlich bessere haben, wenn es so etwas wie Geheimnisse innerhalb der Demokratie gar nicht gäbe. Der Beamtenstatus ist obsolet, und verträgt sich auch nicht mit dem Grundgesetz, wenn Du mich fragst.
        Das mit der Dokumentation ist so eine Sache. Letztlich geht es immer um die Schuldfrage, im Falle das was schief geht. Da dürfen wir uns wohl eher bei den Anwälten bedanken, als bei den Ökonomen. Dass die Anzahl der zugelassenen Anwälte in Deutschland sich seit den 50er Jahren verhundertfacht hat, habe ich bestimmt schon mal erwähnt.
        Das eigentlich Problem ist halt, dass es nur sehr wenig gute Leute gibt. Die Masse will kontrolliert werden, sonst bauen die nur Scheiße.

      2. Die Beamten sind die Gehilfen der Ökonomen. Und sie sind korrupt und dysfunktional

        Gut, da kann man sich drauf einigen. Byzantinische Verhältnisse halt 😀

        Das eigentlich Problem ist halt, dass es nur sehr wenig gute Leute gibt. Die Masse will kontrolliert werden, sonst bauen die nur Scheiße.

        Das Problem ist, das man der Masse Dinge auch vorleben müßte, und nicht ständig Wasser predigen, aber dann den Wein vor lauter Koks unter den Nutten gar nicht mehr finden.

  2. Die ganze Sache hat aber wirklich auch einen gesellschaftlichen Aspekt: Bekommt jeder die gleiche teure medizinische Behandlung? Mit 90? Ein schwerbehindertes Kind? Ist alles medizinisch mögliche (meist teuer) auch notwendig und gesellschaftlich sinnvoll? Da wird man vielleicht beim Schlaganfall gerettet und braucht danach 20 Jahre lang einen Pfleger. Oder ich habe „irgendwie Rückenschmerzen“ und komme ins CTG (Kostet sicher 1000 Euro pro Anwendung mit Auswertung) und danach heißt es „sie müssen sich mehr bewegen“.
    Ich finde das alles gar nicht so einfach, auch dass viele Menschen das System immer ganz schnell ausnutzen. Also zum Arzt gehen, wenn sie mal Ansprache brauchen oder ein paar Tage zu Hause bleiben wollen.

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    1. Da hast du sauber die Wunde in den Finger…ähmmm…umgedreht.
      Das ist ein weiterer Aspekt der Externalisierung: Man erfinde supertolle und -teure Techniken, die aber nur einem winzigen Bruchteil an Menschen nützlich sind. Idealerweise denen, die es sich leisten können.

      Ist alles medizinisch mögliche (meist teuer) auch notwendig und gesellschaftlich sinnvoll?

      Klare Antwort: Nein.
      Da stehen unserer Gesellschaft noch einige unangenehme Diskussionen bevor. Falls wir dafür Zeit haben.

      Ich finde das alles gar nicht so einfach, auch dass viele Menschen das System immer ganz schnell ausnutzen. Also zum Arzt gehen, wenn sie mal Ansprache brauchen oder ein paar Tage zu Hause bleiben wollen.

      Tjaaaaa…Rückkopplungen aus der Arbeitswelt? 😉

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      1. Man muss da immer aufpassen nicht zynisch zu werden. Beispiel: eine Freundin erzählte mir von ihrer Krankenschwesterzeit in Uganda vor 15 Jahren. Viele Kinder litten unter Würmern, Behandlung kostet 50 cent pro Halbjahr. Ernährungs- und Allgemeinzustand würden sich schlagartig verbessern, mit allen Folgen: Lernfähigkeit und -wille sind wieder da, Überleben und Gesundheitszustand im Erwachsenenalter erheblich verbessert. Und da denkt man so, aha, mit so wenig Geld könnte man das Leben Tausender Kinder verbessern. Und der Teufel auf der Schulter sagt: „Willst du das, noch mehr Menschen auf dieser Erde?“ Aber hier bekommen 80-jährige eine komplette Krebstherapie…..

      2. Nach der Logik der „Techies“ leben wir ja in einer „Übergangsphase“, die ich an meinen Großeltern sehen konnte. Schlaganfälle, Hautkrebs, Darmkrebs, Staphylokokken & Co. überstanden um dann vor sich hinvegetierend an der „nächsten Stufe“ zu krepieren. Aber diese „Stufe“ wird die Technik auch noch nehmen und dann werden wir alle topfit mit 120 in die Kiste hüpfen! Juhu!

      3. Wenn unsere Politik Entwicklungsländer hätte entwickeln wollen, es gäbe schon keine mehr. Witzigerweise hätte Afrika dann nicht nur einen deutlich höheren HDI, sondern wir auch deutlich weniger Weltbevölkerung. Denn höhere Bildung+höherer Lebensstandard=niedrigere Geburtenrate. Wissen wir. Längst.
        Aber niemand wolte solche Länder entwickeln. Wir wollten die ausbeuten.

    1. Das gleiche dachte ich auch, was soll denn der Pfleger mit einmal 3000 Euro alles tolles anfangen? Vielleicht sind sogar noch Sozialabgaben zu zahlen? Das entpricht noch nicht einmal einem Monatsgehalt eines Bundestagsabgeordneten! Noch nicht mal eins!!!!!!
      Der Pfleger kann sich also folgendes (einmalig!!!) leisten:
      – einen großen Bildschirm um abend in die Illusion abzutauchen (Strom ist aber selber zu zahlen, nörgel, nörgel…..)
      – eine uralte Fiesta-Hippe um zu seinem 30 km entferntem Arbeitsplatz zu gelangen (Benzin muss er aber selber zahlen….)
      – er könnte einmal eine Fernreise unternehmen (vielleicht die einzige in seinem Leben, ist ja eh klimaschädlich)
      – der Betrag entspricht so in etwa den jährlichen Betreuungskosten eines Kita-Kindes (die anderen Jahre muss das Kind dann in den Schrank gesperrt werden)
      – vielleicht ein Fahrrad? Fahrradfahren hält gesund und ist ein guter Ausgleich gegen den Stress auf Arbeit

      Also, ich sehe es wie mein Vorredner: ein großes „Häh?“

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      1. In diesem Vorhaben sieht man die ganze Abkopplung der „Berliner Blase“ von den Lebensrealitäten im Land. Was da manche für sinnvoll erachten, treibt mir den Angstschweiß auf die Stirn.

      2. Ist doch logisch, wenn so ein Einfall von einem „Experten“ kommt, der auch noch „irgendwas mit Wirtschaft“ gemacht hat.

        Das sind die Leute, die die Leute beraten, die noch zwanzig Jahre älter sind als ich und mit Denken von vorgestern die Lösungen für die Probleme von morgen verkünden.

        Noch irgendwelche Fragen?

      3. O doch. Du hast noch viele Fragen. Du solltest mal drüber bloggen.
        Womit ich Kassandras Lesern empfehlen möchte, auch mal bei hysterix cristata vorbeizuschauen 😉

  3. Oha, eine kritische Betrachtung zur Zahl: So was liest man selten. Hier geht’s offenbar ans Eingemachte. Ja, Zahlen sind gefährlich. Zahlen lösen das an sich Unteilbare, das Individuelle, in Teilchen auf und fassen das Einzigartige zu Massen zusammen. Am deutlichsten sichtbar in der Quantenphysik, wo die Zahlen sich hemmungslos in immer kompliziertere Formeln ergießen. Was bleibt von den Sternen, den Planeten, den Meeren, den Wäldern, von dir und mir zuletzt übrig: nichts als eine Masse ununterscheidbarer Teilchen, deren Zustände sich überlagern, sodass der Physiker nicht mal sagen kann, ob wir nun tot oder lebendig sind.

    Unterschiede garantieren nicht nur Vielfalt, sondern auch Struktur und Form. Zahlen vernichten Unterschiede. Sofiechen und Emil werden zu Kindern, die, sobald sie zusammengezählt werden, sich nicht mehr voneinander unterscheiden.

    Objektiv bedeutet nicht etwa, Sofiechen als Sofiechen und Emil als Emil zu sehen, sondern Sofiechen und Emil als Zahl zu sehen und damit berechen- und manipulierbar zu machen. Dadurch erst wird das Feld bereitet für die, die Zahlen erfassen und ihre Zahlenspielchen treiben.

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    1. Was bleibt von den Sternen, den Planeten, den Meeren, den Wäldern, von dir und mir zuletzt übrig: nichts als eine Masse ununterscheidbarer Teilchen, deren Zustände sich überlagern, sodass der Physiker nicht mal sagen kann, ob wir nun tot oder lebendig sind.

      Nun ja, rein quantenmechanisch betrachtet sind wir alle Zusammenbrüche der Wellenfunktion 😀

      ondern Sofiechen und Emil als Zahl zu sehen und damit berechen- und manipulierbar zu machen

      Kontrolle. Es geht immer irgendwo um Kontrolle.

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