Das blinde Bewußtsein

– II –

Verkehrt aufgeklärt

„Logik. Logik ist nur der Anfang aller Weisheit.
Nicht ihr Ende.“
Spock

Einer der zentralen Glaubenssätze der menschlichen Zivilisation, Ausgabe 21. Jahrhundert, ist also die Behauptung, daß nur menschliche Werke diese typische Ausgefuchstheit aufweisen, die uns normalerweise veranlaßt, sie überhaupt als „Werke“ anzuerkennen.
Ich persönlich denke immer gerne daran, daß die in der Bibel erwähnte „babylonische Sprachverwirrung“ frühere Forscher daran glauben ließ, es müsse einmal eine einheitliche Sprache für alle Menschen gegeben haben. Ich weiß nicht, ob schon einmal jemand auf die Idee gekommen ist, daß dieses Ereignis sich möglicherweise auf die Entwicklung des Sprechens an sich beziehen könnte.
Denn die Erfindung und vor allem die heutige Benutzung von Sprache stellt oft eher selbst ein Problem dar, statt zu irgendeiner Verständigung beizutragen. Es gibt Worte, die sollten eigentlich eine klare Bedeutung haben, die für jeden Zuhörer gleich ist, aber das ist überhaupt nicht der Fall. Wir sind inzwischen schon so weit, daß Sprache mehr zu unserer Verwirrung beiträgt als zur Erhellung einer undurchsichtigen Situation. Tatsächlich gehört diese Art des Verständigungsproblems zu den Symptomen eines untergehenden Zeitalters.

„Werk“ ist so ein Wort. Bezogen auf etwas Hergestelltes, etwas Künstlerisches, denken wir automatisch an menschliche Hände, die Leinwand bemalen, oder Michelangelo, der mit Hammer und Meißel auf den Marmor eindrischt, um seinen David zu erschaffen.
Mit derselben Intention benutzen wir das Wort „Sprache“ statt Kommunikation, denn Kommunikation – wie letzte Woche erwähnt – findet eindeutig unter jeder Menge Spezies statt und ist somit keine speziell menschliche Eigenschaft.
Ein Werk ist also etwas, das in unseren Köpfen automatisch von Menschen erschaffen worden sein muß. Diese Zuordnung erfolgt durch Konditionierung von Kindesbeinen an völlig ohne bewußtes Denken. Die Wortkombination „menschliches Werk“ wird üblicherweise nur benutzt, wenn irgendwas, das aus einem Ingenieursbüro stammt, von etwas unterschieden werden soll, das in der Welt rumsteht. Erstens trennen wir auch hier wieder geistig Mensch und diese komische „Natur“ und zweitens ist ansonsten eben jedes „Werk“ automatisch auch menschlich, sonst ist es keins.
Ein Termitenbau ist toll und auch seine Klimatisierung ist toll. Aber er ist kein menschliches Werk, also taugt er nichts. Keine Stadt auf der Erde macht meines Wissens Werbung mit dem Motto: „Wir haben die größten und schönsten Termitenbauten der Welt!“

Aber den Eiffelturm, den kennen alle. Dabei wurde dieses Ding eigentlich nur aufgestellt als eine Machbarkeitsstudie, damals, 1889, zur Weltausstellung in Paris. Im Grunde begann damit das Wettrennen um „schneller, höher, weiter“ bei Gebäuden, das bis heute anhält und mehr und mehr Irrsinn hervorbringt, der als Architektur getarnt wird. Bei seiner Eröffnung im März 1889 war der Turm mit über 300 Metern das mit Abstand höchste Gebäude der Welt. Außerdem betrug die Bauzeit nicht einmal zwei Jahre und das Objekt wurde pünktlich zum gedachten Anlaß fertiggestellt. Da können sich gewisse Flughäfen, Konzertgebäude und Bahnhöfe mal eine ganz dicke Scheibe abschneiden von dieser Leistung. Aber auch das ist nur ein Symptom des bereits mehr als einmal angeführten Gesetzes vom Abnehmenden Ertrag.

Zu den größten Sehenswürdigkeiten der Weltausstellung gehörte damals die frisch aufkommende Elektrizität. Erst 1881 hatte die Erste Internationale Elektrizitätsausstellung stattgefunden, ebenfalls in Paris. Edisons Glühbirne war gerade erst patentiert worden. Werner von Siemens richtete eine erste elektrische Straßenbahn ein. Acht Jahre später dann, bei der Weltausstellung, war eine der größten Attraktionen der Palais des Industries, ein Gebäude mit in großen Stückzahlen angebrachter elektrischer Beleuchtung, in dem das neue Maschinenzeitalter quasi ins rechte Licht gerückt wurde. Nur ein Jahr danach brach der berühmt gewordene Streit zwischen Edison und einem Mann namens Nicola Tesla aus, in dem es darum ging, ob jetzt ein Netz mit Wechselstrom oder Gleichstrom für eine großflächige Versorgung besser geeignet wäre. Wir wissen zumindest alle, wer diesen Kampf um die Marktanteile gewonnen hat.

Diese Sache mit der Elektrizität und eben der Stahlbau waren damals das, was bei uns gerne als „das nächste große Ding“ vermarktet wird. Mit dem Unterschied, daß diese Behauptung zur damaligen Zeit tatsächlich sogar richtig war.
Also ballerte Gustave Eiffel lauter Metallstreben kaltvernietet zusammen, die vorher im Baukastensystem woanders angefertigt wurden – übrigens aus einem sehr kohlenstoffarmen Schmiedeeisen, das im Puddelverfahren hergestellt wurde und somit auf lange Haltbarkeit ausgelegt war. Dafür, daß Herr Eiffel eigentlich nur eine Nutzungskonzession für zwanzig Jahre hatte, eine erstaunlich vorausschauende Wahl.
Um die Sache besonders aufregend zu gestalten, wurden noch überall Glühbirnen drangeschraubt – et voilà – der heute allgemein bekannte Anblick war fertig. Die vorher durchaus heftigen Kritiken aus der Presse- und Kunstwelt verstummten nach der Fertigstellung sehr schnell und schließlich war man allgemein so begeistert, daß das Dingsbums nach dem Ende der Weltausstellung einfach nicht mehr abgebaut wurde. So kam Paris zu seinem heutigen Wahrzeichen.

Stahl und Strom – so weit dann zu den menschlichen Vorstellungen von der Welt, die man ja damals auszustellen vorgab. Noch heute muß der verdammte Eisenturm regelmäßig gestrichen werden, damit er im Pariser Regen nicht wegrostet, allem niedrigen Kohlenstoffgehalt zum Trotz.
Termitenbauten haben so etwas nicht nötig, die rosten nicht und sind so ziemlich selbstpflegend, wenn nicht gerade ein Ameisenbär zu Besuch vorbeikommt. Gut, Termitenbauten haben keine elektrische Beleuchtung, zugegeben.
Was also genau unterscheidet ein „Werk“ aus Schmiedeeisen von einer Bude aus Schlamm, der mit Speichel durchgekaut und in der Sonne gehärtet worden ist?
Ein Zitat:

Within material reality, only human artifacts possess intelligent form and intelligent functionality or purpose. Measurable biological patterns lack intelligibility in themselves. Similarly, biological functionality is not truly functionality, but merely resembles the functionality of human engineering.

Innerhalb der materiellen Realität besitzen nur menschliche Werke intelligente Form und intelligente Funktionalität oder Zweck. Meßbaren biologischen Mustern mangelt es an Sinnhaftigkeit an sich. Ebenso ist biologische Funktionalität keine wirkliche Funktionalität, sondern weist lediglich eine Ähnlichkeit mit der Funktionalität menschlicher Ingenieurskunst auf.

Aha. Da haben wir es also schriftlich. Menschliche Werke sind Dingen in der Natur grundsätzlich überlegen, da nur menschliche Werke einen Zweck haben. Was Menschen errichten oder tun, folgt einem Zweck, ist das Ergebnis einer Entscheidung, die wiederum nur von Menschen getroffen werden kann.
Anders gesagt: Werke sind verbunden mit menschlichem Bewußtsein. Deshalb hat menschliche Architektur einen Zweck, termitische oder ameisige hingegen nicht. Denn die handeln ja nicht bewußt. Kein Termiteningenieur denkt in seinem Baubüro über Förderanträge nach oder über die Materialauswahl für die Wände des Baus.
Alles, was diese komische Natur also zu bieten hat, ist lediglich eine Widerspiegelung menschlichen Erfindungsgeistes und hat auch keine Funktionalität. Denn Funktionalität setzt Absicht voraus.

Bewußte Planung mag menschlich sein, begründet aber keinesfalls Einzigartigkeit. Ein Zweck entsteht durch Funktion, nicht Vorsatz.

Ich verweise ausdrücklich auf den Kontext und halte dem Autor zugute, daß es ihm um Evolutionstheorie und Schöpfungslehre geht, in diesem Falle getarnt als „intelligent design“. In diesem Zusammenhang weist er – zu Recht – darauf hin, daß Evolution eben nichts Gesteuertes ist, daß sie keinen Zweck verfolgt und deshalb auch keinen lenkenden und vorherbestimmenden Schöpfer benötigt.
Eine Tatsache übrigens, die Darwin bereits in seiner ersten Auflage von „On the origin of species“ klar zum Ausdruck gebracht hat, denn da ist weder im Vorwort noch sonst irgendwo die Rede von einem Schöpfergott, einer Göttin oder einem Ensemble dieser Gestalten. Hinweise in dieser Richtung tauchen erst in späteren Auflagen auf. Aber wie kann man in der Schlußfolgerung auf die Idee kommen, den von ungerichteter Evolution erzeugten biologischen Mustern eine Funktionalität abzusprechen oder einem Termitenbau seinen Zweck?
Der Autor des Textes sagt hier im Grunde, daß man die Natur nicht anthropozentrisch betrachten darf, da es ansonsten nur ein kleiner Schritt ist bis zur – eindeutig antiwissenschaftlichen – Schöpfungslehre der Theologie. Aber wenn etwas Biologisches in einer Pflanze gleich oder ähnlich funktioniert wie ein Nervensystem in Tieren – und somit auch Menschen – warum sollte man es dann nicht ein Nervensystem nennen?
Natürlich besteht die Gefahr, daß irgendwelche religiös Verwirrten das als Beweis für eine Existenz Gottes anführen, aber man muß diesen Blödsinn ja nicht mitmachen. Solche Menschen sehen auch Jesus auf ihrem Toastbrot und erklären das zum Gottesbeweis.
Wenn Evolution ungerichtet Dinge hervorbringt mit zwecklosem Experimentieren, kann dabei doch sehr wohl etwas herauskommen, daß eine Funktionalität hat und auch einem Zweck dient. Da kann man mal jede Blütenpflanze fragen, was sie denn so von Insekten hält. Wobei wir die Antwort dann wieder nicht verstehen würden.

Der Autor läuft hier in eine sprachliche Falle, da er weiterhin zwanghaft unterscheiden will zwischen „Hier Mensch – da Natur“. Wäre er in der Lage, diese künstliche Trennung geistig zu überwinden, hätte er einfach gesagt: „Evolution ist.“
Auch das mit der Widerspiegelung des menschlichen Erfindungsgeist finde ich, gelinde gesagt, amüsant.
Ich hatte immer den Eindruck, es wäre anders herum. Es gibt einen ganzen Zweig menschlicher Wissenschaften, der sich mit nichts anderem beschäftigt als der Frage, wie diese komische Natur da draußen vor den Laborfenstern ihre Sachen eigentlich regelt. Oder wie immer man das nennen will, denn Regularien setzen ja wieder Absicht voraus. Kreativ sein kann Natur dann auch nicht, denn auch Kreativität setzt ein Bewußtsein voraus.
Diese Natur, mit der sich studierte und studierende Ingenieure, Architekten, Biologen, Mediziner und anderes Volk auseinandersetzen, kann also nichts, sie ist nicht kreativ und überhaupt hat all das keine Bedeutung, weil sie eben nicht kreativ ist. Bedeutung wird einer Sache nur von Menschenhand verliehen. Auf diese Geschichte mit der logischen Tautologie hatte ich letzte Woche ja bereits hingewiesen.

Die Wissenschaft, die sich also mit dieser kompletten Bedeutungslosigkeit von Natur und Umwelt beschäftigt, die nur dazu da ist, menschliche Genialität widerzuspiegeln, heißt Bionik. Sie nennt sich so, weil sie sich irgendwie von der Mechanik unterscheiden mußte, denn die gab es ja bereits.
Und so stehen also heute Wissenschaftler in Laboren und versuchen herauszufinden, wie der Hai so schnell schwimmen kann. Dann macht man aus dem Schuppenmuster Badeanzüge, damit olympische Schwimmer fünf Tausendstel Sekunden schneller sein können als die Konkurrenz. Bis die dann dieselben Anzüge trägt. Der Hai wäre noch schneller, dem paßt das Muster einfach besser. Die Schwimmer wären auch schneller, wenn man bei einer Olympiade einfach noch einen Hai mit ins Becken werfen würde. Aber das wollen die Schwimmer dann wieder nicht. Spaßbremsen, allesamt.

Sehr oft sehen die Nerds im Labor bei einer neuen Erkenntnis vermutlich aus, als hätte ihnen jemand gerade in die Eier getreten. Das liegt im Falle der Haifischhaut zum Beispiel daran, daß durch diese rauhe Oberfläche mit ihren Mikroschuppen eigentlich Turbulenzen entstehen sollten. Und Turbulenzen, also in diesem Falle Verwirbelungen des Wassers rund um ein getauchtes, sich bewegendes Objekt, bremsen das jeweilige Objekt ab.
Das Prinzip ist ähnlich dem an der Flügelkante von Flugzeugen. Man brauchte in den 50er und 60er Jahren eine ganze Weile, um ein Tragflächenprofil zu finden, mit dem ein Düsenflieger auch die Schallmauer durchbrechen konnte, ohne daß dabei katastophale Kräfte entstehen. Ist die Turbulenz stark genug, kann sie ein fliegendes Objekt sogar vom Himmel holen, weil entweder der Auftrieb abreißt oder die Tragfläche den widersprüchlichen Kräften nicht mehr standhält – und ebenfalls abreißt, was für die Flugfähigkeit eines Jets eindeutig negativ ist.
Die Haifischhaut interessiert das alles nicht. Nach 200 Millionen Jahren Optimierung in den Ozeanen der Erde – eigentlich sogar den Ozeanen mehrerer Erden, wenn man es genau nimmt – hat sich hier ein Muster ergeben, dessen einziger Zweck es ist, Turbulenzen eben auf ein Minimum zu reduzieren. Oder besser, das ist es halt einfach, was dieses Muster tut, denn einen Zweck haben kann es ja nicht.
Der Zweig der Physik, der an solchen Dingen wie tropfenden Wasserhähnen oder Turbulenzen herumrechnet, nennt sich Chaostheorie und ist selbst erst ein knappes halbes Jahrhundert alt.

Bild 1: Dieser Typ ist schuld
Einer muß ja schuld sein. René Descartes (1596-1650). Von ihm stammt der Spruch „Cogito ergo sum“, übersetzt „Ich denke, also bin ich.“ Aber nur die Tatsache des Denkens bedeutet eben nicht, daß man einzigartig ist. Die von Descartes und anderen vertretene, rein mechanistische Auffassung des Universums ist nicht korrekt.

Die völlig unwichtige „Natur“ und substanzlose Welt hat Mensch eine ganze Menge zu bieten. Ingenieure studieren den genauen Kraftverlauf in Astgabeln von Bäumen, um daraus anschließend eine optimierte Form für die Pfeiler großer Talbrücken zu entwickeln.
Das funktioniert alles durchaus. Trotzdem bezweifle ich persönlich sehr stark, daß diese Vorgehensweise auf Dauer von Erfolg gekrönt sein wird, von High-Tech-Badeanzügen einmal abgesehen. Denn eine menschliche Brücke besteht üblicherweise aus Spannbeton oder so etwas. Astgabeln bestehen aus Zellulose.
Zumindest ist aber das Haifischmuster eine Möglichkeit für große Fluggesellschaften, um Sprit zu sparen. Was aber nicht das Geringste an der Tatsache ändert, daß Fliegen eine ökologische Vollkatastrophe ist und auch allgemein auf Dauer nicht machbar sein wird, auch wenn wir irgendwo hinter dem Komma etwas Kerosin einsparen pro Passagier.
Denn die Industrie möchte natürlich jedes Jahr mehr Passagiere durch die Luft befördern, was unter dem Strich wieder zu einem Mehrverbrauch an Sprit führt. Die kommerzielle Luftfahrt ist eine sterbende Industrie, aber sie wird sich bis zu ihrem Ende weigern, das auch mal einzusehen. Mehr Öl haben wir jedenfalls nicht dadurch, daran ändert auch ein noch so stömungseffizientes Haifischmuster nichts.
Ich erlaube mir an dieser Stelle den Hinweis, daß alle Menschen, die sich in irgendeiner Form ausführlicher mit Erdöl beschäftigen, immer von Erdöl„produktion“ sprechen. Dabei produzieren Menschen gar kein Erdöl. Es ist da und wird irgendwann gefunden, was ja auch passiert ist. Aber hergestellt hat es die Welt. Wobei das nicht korrekt ist. Im Sinne des bisher Gesagten ist dieses Zeug einfach entstanden. Und Nein – auch das Vorhandensein von so etwas unglaublich Nützlichem wie Erdöl ist kein Beweis für einen Schöpfergott. Ansonsten würde es nämlich nach Erdbeeren riechen.

Insgesamt ist Bionik nichts anderes als der Versuch, diese seltsame „Natur“, auseinanderzunehmen, zu verstehen und anschließend in eine Maschine zu verwandeln. Nichts könnte die fundamental falsche Auffassung unserer Wissenschaften von der Welt besser illustrieren als diese moderne Variante des mechanistischen Denkens der Aufklärung.
Die Welt wird erst dann in irgendeiner Form real, wenn man sie in ein mechanisches Dingsbums verwandelt, auf das dann auch noch irgendwer Patente bekommen kann.
Deshalb können auch Gene patentiert werden. Zwar sind diese Dinger gar keine Erfindung, die von Menschen erdacht wurde, aber die Welt hat eben kein Interesse an Patenten. Also hat Mensch ein Gen genommen und es woanders eingebaut. Das nennen wir dann Kreativität.
Was nach menschlichen Begriffen einfach nur geklaut wäre, ist in diesem Falle bewundernswert und nobelpreisverdächtig, denn der Natur kann man ja nichts klauen, da sie keine Rechte hat. Der Diebstahl ist hier also voll kreativ und selbstverständlich legal. Durch dieses Herumpfuschen wird das Gen dann auch zum „Produkt“, denn ein Produkt setzt absichtliches Handeln voraus. Ein Produkt dient einem Zweck. Ergo kann die Welt nichts produzieren. Das ist exakt die gleiche Denkweise wie beim Erdöl auch.
In Hunderten von Pharmazeutika oder Kosmetika finden sich Dinge, die schlicht irgendwo wachsen und die eine bestimmte Wirkung haben. Aber es ist erst dann ein Kosmetikprodukt, wenn man es getrocknet, zerrieben und in einer wässrigen oder alkoholischen Lösung aufgeschwemmt hat. Vorher sind es einfach nur Pflanzen.

Die Ursache für diese seltsame Auffassung der Welt liegt etwa 450 Jahre zurück. Im Jahre 1561 wurde ein Mann namens Franz Schinken geboren, da er aber Engländer war, kennt man ihn heute besser als Francis Bacon.
Bacon gilt als einer der Begründer der heutigen wissenschaftlichen Methodik.
In dieser Übergangszeit vom 16. ins 17. Jahrhundert verwandelte sich die Renaissancezeit eines Leonardo da Vinci – der große Meister war zum Zeitpunkt von Bacons Geburt gerade etwas über vier Jahrzehnte tot – in das, was man später dann die Aufklärung nennen sollte.
Bacon forderte in seinen Schriften, daß Wissenschaften nur dann solche sein sollten, wenn sie auch eine Nutzanwendung haben. Wobei man hier „Nutzen“ auch mit „Profit“ gleichsetzen kann. Nach seiner Auffassung sollte es das einzige Ziel der Wissenschaft sein, die Natur zu beherrschen, im Interesse des Fortschritts. Irgendwoher kommt mir diese Haltung sehr bekannt vor. In modernen Klamotten würde ein Typ wie Bacon im Vorstand eines heutigen transnationalen Ausbeuterkonzerns kein bißchen auffallen. Bacon wird folgendes Zitat zugeschrieben:

„The mechanical inventions of recent years do not merely exert a gentle guidance over Nature’s course, they have the power to conquer and subdue her, to shake her to her foundations.“

Das Zitat entstammt wohl dem Essay „Cogitata et visa“ von 1607, der allerdings erst 1653 veröffentlicht wurde, das war lange nach Bacons Tod.
Es wird heute gerne als Beleg für Bacons feindselige Haltung gegenüber der Natur angeführt. Zur Ehrenrettung muß ich anführen, daß die „mechanischen Erfindungen“, von denen hier die Rede ist, die Kompaßnadel, das Schießulver und der Buchdruck sind, die als Beispiel angeführt werden für Entwicklungen, welche tatsächlich geeignet seien, die „Natur in ihren Grundfesten zu erschüttern“. Insgesamt liest sich die Sache also schon wesentlich weniger feindselig.
Trotzdem hätte einem Mann wie Francis Bacon die heute vorherrschende, strikt reduktionistische und mechanistische Auffassung der Welt gefallen. Zu seiner Zeit und in den Jahren danach kam immer mehr die Metapher von der Welt als ein Uhrwerk auf. Eine für die Zeitgenossen naheliegende Analogie, wurde doch die Zeitmessung in diesen Jahrzehnten immer wichtiger, schon für die Lösung des Längengradproblems. Gleichzeitig konnten Menschen wie Bacon dabei die religiösen Gefühler ihrer Person oder Mitmenschen schonen, denn wenn die Welt eine Uhr ist, muß sie ja auch einen Uhrmacher haben.
Ein weiterer Mann, der ähnliche Auffassungen vertrat wie Bacon, sollte als Begründer des Rationalismus in die Geschichte eingehen: René Descartes.

Die Aufklärung ist fehlerhaft. Die Welt ist gar kein Uhrwerk, das vom Menschen absolut kontrolliert werden kann. Sie war es nie.

Dieser Kerl, im Gegensatz zu Bacon ein Franzose, wurde 1596 geboren, da war Bacon bereits Mitte Dreißig und somit für sein Zeitalter bereits ein Mann in den mittleren Jahren.
Ich habe Descartes im Mathematikunterricht kennengelernt, als mein Lehrer uns etwas vorschwärmte von der analytischen Geometrie, die es ja ermöglicht, ein geometrisches Problem mit Berechnung zu lösen. Außer man hat mein mathematisches Talent, versteht sich.
Auch das Koordinatensystem, das zur Darstellung von Kurven aller Art benutzt wird, heißt nach ihm kartesisches System. Allerdings hat es wohl nichts mit ihm zu tun, sondern geht eher auf einen dieser nobelpreisverdächtigen alten Griechen zurück, in diesem Falle einen Herrn namens Appolonios von Perge, der im dritten Jahrhundert ndZ lebte. Vermutlich, jedenfalls.
In seinen anderen Arbeiten beschäftigte sich Descartes unter anderem auch mit Physik, die aber erst später von Newton erfunden werden sollte.
Unter anderem ersann Descartes das, was er „Stoßgesetze“ nannte und was man in der modernen Physik unter Energieerhaltung oder Impulserhaltung suchen muß. Witzigerweise verließ sich der offiziell so rationalistische Descartes hierbei auf sein Denken, was stellenweise zu grob falschen Annahmen über die Natur der Dinge führte.
Descartes beschreibt an einer Stelle zum Beispiel, daß ein Objekt C „wenn es nur etwas größer als B ist und vollständig ruht, von B niemals in Bewegung versetzt werden kann, ganz gleich, welche Geschwindigkeit dieses hat, sondern von ihm in entgegengesetzter Richtung zurückgestoßen würde.“
Unweigerlich taucht in meinem Kopf ein Billardtisch auf bei einem derartigen Satz. Oder ein Boule-Spiel. Aber womöglich waren Descartes solche Spiele nicht vertraut. In den Schlußbemerkungen baut der große Denker auch gleich noch ein Sicherheitsventil ein:

„Auch bedarf es für diese Bestimmungen keiner Beweise, weil sie sich von selbst verstehen, und selbst wenn uns die Erfahrung das Gegenteil zu zeigen schiene, würden wir trotzdem genötigt sein, unserer Vernunft mehr als unseren Sinnen zu vertrauen.“

Heißt übersetzt: Beobachtungen sind egal, wenn mein Denken was anderes will. Eine natürlich vollkommen antiwissenschaftliche Haltung, die wir heute als „alternative Fakten“ kennen.
Sowohl Bacon als auch Descartes gelten als Philosophen oder Wissenschaftsphilosophen. Was erstaunlich ist, bedenkt man, daß es heute offenbar Wissenschaftler gibt, die anderen vorwerfen, sie würden zu viel Herumprobieren oder womöglich philosophieren. Zum Beispiel über die Art und Weise, wie Pflanzen empfinden oder kommunizieren oder lernen.
In so einem Fall ist Philosophie völlig verwerflich. Nimmt man diese Vorwürfe und stellt der sogenannten etablierten Wissenschaft dieselben Fragen, kommt man verwundert zu der Erkenntnis, daß genau das – nämlich Fragen zu stellen, Experimente zu machen, sie zu deuten und darüber nachzudenken – exakt der Kern dessen ist, was man „wissenschaftliche Methodik“ nennt. Aber offensichtlich nur dann, wenn die Fragen die Grundannahmen der Wissenschaften nicht in Frage stellen. Wie beispielsweise den Mythos menschlicher Einzigartigkeit.
Beschäftigt man sich also damit, die Natur foltern zu wollen, um ihr ihre Geheimnisse zu entreißen, oder damit, zu behaupten, daß Pflanzen nicht lernen können, weil sie eben nicht lernen können, dann ist Philosophieren völlig in Ordnung und unbedenklich.
Denn ich nehme an, daß der Wissenschaftsphilosoph Bacon gelegentlich auch philosophiert haben muß, das gehört ja quasi zur Jobbeschreibung. Das „Foltern der Natur“ stammt übrigens von ihm.

Was sind Wissenschaften eigentlich anderes als oft blindes Herumprobieren? Ob das jetzt die Erfindung des Schwarzpulvers oder des Porzellans sein mag. In den allermeisten Fällen beginnen wissenschaftliche Entdeckungen nicht mit dem Ausruf „Heureka!“
Sehr oft lauten die einleitenden Worte eher: „Das ist ja jetzt mal komisch…“

Bild 2: Menschmaschinen und Maschinenmenschen
Ein fundamentaler Denkfehler beeinträchtigt bis heute die menschliche Wahrnehmung der Welt, auf der wir leben. Die Folgen haben sich über zweihundert Jahre aufgehäuft und werden mit der alten Weltsicht nicht zu korrigieren sein.

Descartes und auch Bacon lebten in einer Zeit, in der es nicht einfach war für einen normalen Menschen, seinen Platz im Universum zu finden. Jahrhundertelang hatte man erzählt bekommen, daß Gott den Menschen geschaffen und ihm die Erde geschenkt hatte. Also mußte unsere Erde der Mittelpunkt des Universums sein. Dann kamen Kopernikus, Kepler und Galilei und stellten klar, daß die Sonne sich nicht um die Erde bewegte, sondern umgekehrt. Und Flecken hatte diese Sonne auch noch.
Was soll ich da erst sagen. Im 20. Jahrhundert stellte sich heraus, daß das Sonnensystem auch nicht im Zentrum der Galaxis liegt und das es außerdem noch ein paar zig Millionen andere Galaxien gibt. Herzlichen Dank an Herrn Hubble an dieser Stelle.
Aber zumindest die göttliche Schöpfung blieb dem Menschen ja übrig. Bis dann eben dieser Rationalismus aufkam und später die Aufklärung. Plötzlich war das mit der Göttlichkeit nicht mehr so gegeben. Charles Lyell argumentierte, daß geologische Veränderungen problemlos mit Vulkanen und anderen Dingen erklärt werden konnten, wenn man nur die Zeitskala von 6.000 Jahren seit der Schöpfung außer acht ließ. Lyell wurde später ein Freund Darwins.

Im Endergebnis führte die Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts zu einer Art Entgöttlichung, die sich durch Forscher wie Alexander von Humboldt, Charles Lyell oder Darwin im 19. Jahrhundert in eine zunehmende Verwissenschaftlichung entwickelte.
Im Grunde genommen durchaus begrüßenswert, hätte Mensch seine Überzeugungen nicht trotzdem weiter beibehalten, nämlich den Mythos der Trennung von Natur und Mensch selbst. Statt die menschliche Weltsicht zu erweitern, die bis dahin stark spiritualistisch gewesen war, schlug die Aufklärung direkt ins andere Extrem um.
Die narzißtische Sicht der Welt wurde lediglich wissenschaftlich verbrämt. Aus dem biblischen „Macht euch die Erde untertan“ oder „Nunmehr wird ihnen nichts unmöglich sein, was immer sie sich vornehmen“ wurde ein naturwissenschaftlich gestütztes Bild der Welt als ein Uhrwerk.
Der Planet als rein mechanisches Monster, bei dem Mensch nur herausfinden mußte, wo die richtigen Hebel und Knöpfe sitzen, an denen man ziehen kann und auf die man drücken muß. Die Natur foltern, um ihr ihre Geheimnisse zu entreißen. Stahl und Elektrizität als Wunder der neuen, entgöttlichten Zeit. Wissenschaften als Ersatz für die verlorengegangene Religion.
Die Nachfolger des Denkens eines Descartes formulieren dann 350 Jahre nach ihm in Laborprotokollen: „Das Subjekt zeigte auf den Stimulus eine Schmerzreaktion.“ Aber auf keinem Fall haben wir ihm weh getan.

In unserer angenommenen Einzigartigkeit sind wir dabei, alles zu verwüsten, was unser Überleben erst ermöglicht. Das ist allerhöchstens einzigartig idiotisch.

Es wird dringend Zeit für eine neue, eine Zweite Renaissance. Denn in der ersten Renaissance wurde nicht nur altes Wissen wiederentdeckt. Es wurde kritisch begutachtet, neu bewertet. Schließlich wurde es teilweise rezipiert und dann benutzt, um etwas Neues zu erschaffen. Unsere heutige Zeit beruht nicht auf blinder Übernahme antiker Dinge, sondern ihrer Weiterentwicklung. Ein großer Teil antiken Wissens steht heute im Museum, und das zu Recht.
Die in unserer industriellen Zivilisation immer noch aktuelle Auffassung einer Trennung von Mensch und Natur gehört ebenfalls ins Museum der Geschichte. Eigentlich sogar auf den Scheiterhaufen.
Die Aufklärung hat den Fehler gemacht, ihre eigenen fundamentalen Denkmuster nicht kritisch zu hinterfragen. Aus einem eigentlich lobenswerten Rationalismus, einer durchaus brauchbaren Logik, ist so etwas entstanden, daß nichts weiter bedeutet als eine Fortsetzung der alten Politik mit neuen Mitteln. Wir machen uns noch immer die Erde untertan, aber benutzen Schaufelbagger dafür und Sprengstoffe und Nuklearenergie und Chemie und Satelliten.
Unsere reduktionistischen Wissenschaften sind hervorragend in der Lage, Dinge zu demontieren, sie in Teile zu zerlegen und jedes einzelne davon zu betrachten. Das ist als Methode auch durchaus zulässig. Aber nur zu oft vergessen die Hohepriester des Fortschritts und der Forschung, die Dinge auch wieder zusammenzusetzen.
Eine Lösung, die für einen Teil eines vorher zerlegten Problems funktioniert, hat womöglich  im Gesamtkonzept keinerlei Wirkung. Im schlimmsten Fall wirkt sie sogar schädlich.

Wir, die technologische Menschheit des 21. Jahrhunderts, dürfen diesen fundamentalen Denkfehler alter Jahrhunderte nicht länger mit uns herumtragen. Trotz aller Mobiltelefone, so smart sie auch sein mögen, trotz aller computerisierten Steuerungstechnik, trotz der Erkenntnisgewinne in Biologie und Medizin, wird es uns unmöglich sein, die Natur zu beherrschen. Es war immer unmöglich.
Dieser Planet ist keine Maschine, die wir nur lange genug studieren müssen, um all ihre Geheimnisse zu verstehen. Es gibt zu viele Wechselwirkungen, zu viele Regelkreisläufe, zu viele Dinge, die wir nicht nachvollziehen können. Wer weiß schon, was in der Tiefsee vor sich geht, das wiederum für die Dynamik der fortschreitenden Klimazerstörung wichtig sein könnte?
Wie wollen wir Dinge begreifen, die sechs, sieben oder mehr Jahrzehnte benötigen, bevor wir sie überhaupt in irgendeiner Form das erste Mal messen können, in Daten verwandeln? Bevor wir überhaupt erst darauf aufmerksam werden, daß in irgendeinem der Regelsysteme etwas nicht stimmt?
Wir Menschen haben kein wirkliches Kollektivgedächtnis, das über die Generationen hinwegreicht. Unsere Lebenserwartung ist zu gering. Würden Menschen im Durchschnitt dreihundert Jahre alt – die Leute, die die fossile Revolution angeleiert haben, könnten heute die Konsequenzen ihres Handelns betrachten.
Mensch ist nur eine von Millionen Spezies auf der Erde. Und – um es mal ganz offen zu sagen – keine besonders erfolgreiche. Von allen Arten der Gattung Homo hat nur eine einzige überlebt. Dabei sind wir im optimistischen Falle gerade einmal sieben Millionen Jahre da.

Wir Menschen existieren somit wesentlich weniger lang als Ameisen. Oder Pflanzen. Oder Wespen. Oder Bienen. Übrigens haben deswegen weder die Chinesen noch wir im Westen die Papierherstellung erfunden – Wespen waren schneller.
Nur, da wir nicht verstehen, was diese Lebewesen sich untereinander mitteilen, weil wir ein paar hunderttausend Jahre lang nicht darauf geachtet haben, können die nicht miteinander reden? Oder ein Nervenssystem besitzen? Oder andere Dinge tun, die wir für typisch menschlich halten in typisch menschlicher Arroganz?
Es ist an der Zeit, sich den logischen Konsequenzen unseres Wissens zu stellen. Die Daten sind eindeutig. Es gibt keine Trennung zwischen „Umwelt“ und „Mensch“. Es gibt nur Welt.


Das Beitragsbild ist von Mario Sanchéz Nevado, einem spanischen freiberuflichen Grafiker. Die Seite des Künstlers im Netz findet man hier. Auf Facebook kann man Mario hier finden und ihn kontaktieren. Er entwirft unter vielen anderen Dingen auch Cover für Bücher

8 Comments

  1. Nice! Ich mag das Schlusswort.

    Literaturempfehlung der Woche: The Baroque Cycle von Neal Stephenson (Quicksilver, Confusion, The System of the World).

    Zugegeben, ist eher eine Literaturempfehlung des Vierteljahrs. Drunter kriegt man die Türstopper kaum verdaut… 😀

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    1. Also, ich habe noch etwa 3000 Seiten auf meinem Küchentisch, noch einmal dasselbe im Wohnzimmer und etwa 6000 im Schlafzimmer. Die müssen erst noch weg 😀
      Aber ich werde gelegentlich daran denken. Wenn mir der nächste Teil von Ralp Meimas „Inter States“-Reihe nicht dazwischenkommt. „Harrows of Spring“ ist auch erst noch vorher dran. Ach, so viele Bücher…

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  2. Ich schließe mich an, lasse aber ein „i“ bei Seite: Brillant! Wirklich. Vielen, vielen Dank. Es ist immer wieder ein Genuss und eine Bereicherung diesen Blog zu lesen.

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    1. Vielleicht sollte ich doch noch ein Buch schreiben und damit reich werden 😀
      Besten Dank.

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