– VI –
Im Spinnennetz
„Werde ich träumen?“
HAL 9000
Einer der großen Über-Propheten der Technologiereligion ist ein Mann namens Raymond Kurzweil. Geschulten Nerds ist dieser Mann bekannt als der „Director of Engineering“ bei einer obskuren, kleinen Firma im Silicon Valley in den USA. Google oder so heißt der Laden, man hat den Namen vielleicht schon mal gehört.
Wer in einem Konglomerat aus digitalem Wahnsinn wie Google der Leiter der Abteilung „Technologische Entwicklung“ ist, gehört eindeutig zu den Leuten, deren Bücher über die Zukunft und die Entwicklung unserer Gesellschaft von jeder Menge Leute nicht nur gelesen werden. Sie werden anschließend auf Veranstaltungen geschwenkt und in heiliges Laserlicht gehalten, um den Worten des Propheten mehr Nachdruck zu verleihen. Solche Menschen haben keine Leser. Sie haben Jünger. Begeisterte Jünger.
Kurzweil gilt unter anderem als Futurologe. Das sind die Leute, die über eine Zukunft schreiben, die zum Mythos des ewigen Fortschritts paßt, wofür sie dann von der Fachpresse frenetisch bejubelt werden. Insofern bin ich also ein Anti-Futurologe, obwohl ich mich ja auch sehr wohl mit der Zukunft auseinandersetze.
Außerdem ist der Kerl von niemand Geringerem als Bill Gates schon einmal als führender Experte im Bereich der Künstlichen Intelligenz bezeichnet worden.
Witzigerweise ist das derselbe Bill Gates, der sich gemeinsam mit Menschen wie Stephen Hawking und dem ebenfalls in Kalifornien hausenden Propheten Elon Musk, dem Chef von Tesla, sehr besorgt über die mögliche Entwicklung einer echten Künstlichen Intelligenz geäußert hat.
Es ist übrigens auch derselbe Stephen Hawking, der zusammen mit dem russischen Milliardär Juri Millner einen Plan ersonnen hat, der sich „Breakthrough Starshot“ nennt und der es ermöglichen soll, andere Sonnensysteme zu erforschen. Nicht durch Hingucken, sondern durch Hinfliegen. Nicht in riesigen Schüsseln mit Warpantrieb, sondern mit eher kleinen Raumschiffen, etwa in Größe einer Postkarte oder so.
Klingt irre, würde aber gleich mehrere Probleme interstellarer Raumfahrt auf einen Schlag logisch angehen. Den enormen Energieaufwand, der im Zusammenhang mit der Raumschiffmasse steht. Und die Reisedauer, die wiederum mit der Beschleunigung zusammenhängt, die wiederum eine Funktion der Schiffsmasse ist.
Anders gesagt: Kleine Roboter kann man eben mit einem Affenzahn beschleunigen. Schiffe mit einer menschlichen Besatzung eher nicht. Außerdem brauchen Menschen so lästige Sachen wie Luft, Wasser und Nahrung, also eine Lebenserhaltung an Bord. Da wollen wir von den allseits berühmten Kälteschlafkammern gar nicht reden, denn im wachen Zustand unternimmt niemand so eine Reise, die nach dem derzeitigen Stand der Dinge dann etwa 10.000 Jahre dauern würde. Vor 10.000 Jahren haben wir hier auf dem Planeten die Landwirtschaft erdacht.
Das ist die optimistische Schätzung. Zehn Jahrtausende bis zum nächsten Sonnensystem, das wäre Alpha Centauri in einer Entfernung von 4,3 Lichtjahren.
Da liegen übrigens auch die Baupläne aus, nach denen die Erde demnächst für eine Hyperraumumgehungsstraße gesprengt werden soll, aber das wissen wir ja inzwischen. Vielleicht könnten die Raumschiffe dann gleich unsere Beschwerde bei der galaktischen Bauaufsichtsbehörde überbringen.
Dieses Beispiel zeigt sehr schön, daß selbst hochintelligente Menschen wie ein Hawking oder Gates sich dem Mythos des ewigen Fortschritts hingeben und wie sehr sie dabei gespalten sind. Denn keiner von ihnen zweifelt daran, daß es womöglich bald Künstliche Intelligenzen geben wird. Als hätten uns Filme wie Colossus oder Matrix nicht längst gezeigt, was dann passieren würde.
Im ersten Film drücken die Amis und die Russen einem Riesencomputer ihre Landesverteidigung in die Hand. Woraufhin beide sich untereinander absprechen und beschließen, daß die Menschheit am besten von ihnen beherrscht werden sollte. Alles nur zu unserer Sicherheit, versteht sich.
In Matrix existiert ein Löwenanteil der Menschheit nur noch in einer Computersimulation, nachdem sie einen Krieg gegen die von ihr geschaffene KI verloren hat. Auch Matrix hat übrigens einen Vorgänger, sogar aus deutscher Hand. Der SF-Klassiker Welt am Draht von Rainer Werner Fassbinder sei von mir hier wärmstens empfohlen.
Gates und Hawking haben also keinerlei Zweifel daran, daß die technologische Entwicklung weitergehen wird. Sie haben eben nur leise Zweifel, ob das alles unbedingt gemacht werden sollte. Raymond Kurzweil ist da anders. Er ist nämlich auch ein Vertreter, wenn nicht der Vertreter, des sogenannten Transhumanismus. So was wie ein Guru der Bewegung.
Für mich ist diese seltsame Philosophie die perfekte symptomatische Ausgeburt der Geisteskrankheit, die wir allgemein als Fortschritt bezeichnen. Ich bin da also quasi der Uhu der Gegenbewegung, oder was immer auch das Gegenteil eines Gurus sein mag.
So wie Wirtschafts“wissenschaftler“ an ewiges Wachstum glauben, gehen die Transhumanisten davon aus, daß die technologische Entwicklung der Menschheit sich in exponentiellen Maße beschleunigen wird. Diese Technologie wird dann dazu genutzt, den Menschen über das menschliche Maß hinaus zu erheben. Denn „trans“ ist ja altrömisch für „darüber hinaus“.
Durch kybernetische Implantate, durch fortschrittlichste Chirurgie und andere Superzaubereien soll Mensch sich in etwas verwandeln, das letztlich unsterblich ist. Kurzweil und seine Anhänger glauben ernsthaft, daß sich innerhalb der nächsten Jahrzehnte die Technologie so weit entwickeln wird, daß man ein menschliches Bewußtsein aufzeichnen und in einen Computer, ein Netzwerk oder womöglich einen Androiden übertragen kann. Oder vielleicht einfach in einen neu gezüchteten, organischen Körper. Oder man unterzieht den eigenen Körper einer Altersregression, also Verjüngung. Durch neue Gentherapien beispielsweise. Oder hochentwickelte Nanotechnologie. Kurzweil nennt das die „Singularität“.
Und er hält es für absolut unmöglich, daß diese Ereignisse nicht eintreten. Falls irgend jemand eine Erlösungslegende für das 21. Jahrhundert gesucht haben sollte: Hier ist sie.
Transhumanismus. Die Erlöser-Legende des technologischen Zeitalters. Preiset den Fortschritt!
Eine völlig irre Zukunft, die diese Menschen da beschreiben. Allerdings krankt sie ganz besonders an einem Element: Sie wird so niemals stattfinden.
Ich behaupte das schlicht und einfach deshalb, weil solche Zukünfte noch niemals stattgefunden haben. Ich verweise hierbei mit anklagendem Blick auf die fehlenden Mondkolonien, die immer noch nicht vorhandenen Städte im Orbit, die immer noch nicht fliegende Enterprise mit ihrem Warpantrieb. Und fliegende Autos sind auch weit und breit keine zu sehen. All das hatte ich den vorherigen Beiträgen dieser Reihe schon erläutert.
Diese Version der Zukunft wird nicht materialisieren, weil sie schlicht und einfach die Realität außer acht läßt. Und in dieser Realität haben wir aktuell nicht einmal bemannte Raumfahrt auf unserem Planeten. Wir haben auch keine „Technologie“. Nur Bündel aus verschiedenen Entwicklungen, die von Wissenschaftlern immer im imperativen Singular als Technologie bezeichnet werden.
Die Religion des Fortschritts hat als ihre Ausgeburt die Technosphäre erschaffen. Das ist die Welt, in der wir leben, sofern „wir“ etwa 2,5 Milliarden Menschen der Welt erfaßt und die restlichen zwei Drittel stark außen vor läßt. Eine Welt, durchsetzt von technologischen Gadgets aller Art.
Die Propheten des unendlichen Morgen überschlagen sich in den letzten zwanzig Jahren förmlich bei ihren Vorhersagen, in was für einer tollen Zukunft wir alle bald leben werden. Wobei dieses „bald“ auch immer so eine Sache ist.
Insgesamt erinnert mich diese Sache sehr stark an die Mauer in „Leben des Brian“, vor der die ganzen Apokalyptiker stehen und ihre Version vom Ende der Welt in die Gesichter des Publikums schreien. Oder stammeln. Oder manchmal auch Dinge sagen, die keiner so recht versteht, aber die alle toll finden, weil sie so herrlich unklar sind.
Ich behaupte nicht, daß der technologische Fortschritt gleich morgen zum Stillstand kommen wird. Aber er wird unweigerlich zum Stillstand kommen.
Ich gehe sogar soweit, zu behaupten, daß es gar kein Fortschritt mehr sein wird. Wenn Ingenieure davon reden, künstliche Bäume aufzustellen, um CO2 aus der Erdatmosphäre zu entfernen und dafür Dutzende Millionen an Forschungsgeldern ausgegeben werden, ist das Fortschritt? Ganze Klassen von Akadamikern sollen ein Problem lösen, das ich ganz ohne ein Diplom in Sekunden lösen kann?
Meine Lösung lautet: Pflanzt Bäume.
Horden von Menschen sollten damit beschäftigt sein, Wälder nicht nur nicht abzuholzen, sondern neue zu pflanzen. Der Baum an sich ist robust. Er ist in vielfältigen Modellen und Spezialausführungen vorhanden, die für jeden Kunden eine Möglichkeit des Einsatzes bieten. Er filtert CO2 und liefert, irgendwann mal, auch noch Zellstoff.
In massenhaftem Einsatz, in der Fachsprache „Wald“ genannt, reguliert der gemeine Baum das Mikroklima, sorgt für Kühlung, reguliert den Wasserhaushalt großer Gebiete, reichert den Boden mit Nährstoffen an und – ein absolutes Killer-Feature – bietet jeder Menge anderer Lebensformen Unterschlupf, Nahrung und Lebensraum, die ihre ganz eigene Nützlichkeit mit sich bringen.
Ach ja, Erosion ist in Waldgebieten auch kein großes Thema eigentlich.
Wenn man sich jetzt noch vorstellte, daß man dieses Wundermittel „Wald“ auch noch in einer Zusammensetzung kultiviert, die für Menschen nützlich ist, könnte man daraus robustes Bauholz gewinnen. Obstbäume lieferten Nahrungsmittel. Holzreste wären immer noch gut, um als Pellets gepreßt zu werden und dienten der Energiegewinnung.
Wiederum andere Bäume könnten Dinge liefern wie Öle, gummiartige Materialien oder Rohstoffe für vielfältige pharmazeutische Zwecke. Wenn nicht der Wald selbst, dann darin lebende Tiere. Insektenarten beispielsweise. Oder irgendwelche Farne.
Diese Idee ist natürlich von mir und, da ich ja kein Unidiplom besitze, völlig absurd. Deswegen nennt man das, was ich da so vorschlage, auch Silvikultur.
Ich empfehle hier ausdrücklich, das Wort in dieser Schreibweise an Google weiterzureichen. Wer leserliche Ergebnisse erzielen möchte, dem sei das Wort „silviculture“ angeraten. In der deutschen Variante wird behauptet, das sei dasselbe wie Forst- und Waldwirtschaft, aber das ist nicht korrekt.
Das Material, das in den genannten „künstlichen Bäumen“ Kohlendioxid filtern soll, ist übrigens ein Kunststoff. Ich kann mir nicht vorstellen, daß bei der Herstellung dieser Membranen keinerlei fossile Rohstoffe zum Einsatz kommen. Und die sind leider eben Kern dieses ärgerlichen Klimawandels.
Eines der Probleme, die Mensch mit seinem bedingungslosen Glauben an „Technologie“ also offensichtlich hat, ist die Tatsache, daß sehr viele unserer gut ausgebildeten Nachwuchskräfte auf dem Gebiet der Weltverbesserung durch „Technologie“ leider den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen können.
Was wir brauchen, sind keine Ingenieure. Wir brauchen so etwas wie Ökosystem-Restaurateure. Vor allem brauchen wir Menschen, denen man beigebracht hat, holistisch zu denken.
Im Falle der fortschreitenden Klimazerstörung wäre die Anpflanzung von Wäldern übrigens leider auch keine Lösung für alles. Denn Bäume wachsen nun einmal nur begrenzt schnell und außerdem verändert der Klimawandel ja ausgerechnet das Klima, in dem irgendwelche Bäume gerade wachsen sollen. Was ärgerlich ist. Trotzdem zeigt sich hier sehr klar, mit welchen absurden Problemen sich Mensch so herumschlägt, während er hektisch versucht, die Folgen seiner eigenen, aus Dummheit und Gier geborenen Überziehung der ökologischen Grenzen zu bekämpfen.
Ein Ray Kurzweil und seine Anhänger sind, wie viele andere, mit ihrer Art des Denkens mit Sicherheit ein Teil der Langen Dämmerung und des Falschen Morgen. Keinesfalls werden wir so auch nur annähernd in der Lage sein, uns auf die echte Zukunft, das Wahre Morgen, das bereits über dem Horizont zu sehen ist, in irgendeiner adäquaten Form einzustellen.
Ich halte eine Verbesserung der Menschheit auch für dringend geboten. Allerdings werden wir uns das auf althergebrachte Art erarbeiten müssen. Es wird keinen Gott aus der Maschine geben.
Natürlich können wir den nuklearen Schreihälsen glauben, die die Energieversorgung der Menschheit mit Atomkraftwerken sicherstellen wollen.
Aber woher stammt das ganze Uran, mit dem man Kernmeiler befeuern muß?
Bereits jetzt herrscht am Weltmarkt für Uran eine Unterdeckung, die sich selbst bei moderatem Wachstum der Kernenergienutzung von nur einem Prozent pro Jahr bis 2025 massiv ausweiten wird. In den USA und Rußland stammt ein wachsender Anteil an Uran nicht aus afrikanischen Sklavenminen, sondern abgerüsteten Atomwaffen.
Außerdem bestehen Kernkraftwerke aus Beton und die Zementindustrie ist der viertgrößte Erzeuger von CO2-Emissionen weltweit. Ich zitiere hier aus dem Gedächtnis, statt zu verlinken, eine Angewohnheit aus einer Zeit vor Google und Wikipedia. Man schlage das nach, wenn Interesse besteht.
Und was sollten uns AKWe nützen, wenn die von einem Virus vom USB-Stick im Betrieb gefährdet werden können?
Was hilft es dem frisch abgesicherten Atomkraftwerk mit seinem Sicherheitsnetz aus neuen Kameras, neuen Computern und neuen Mitarbeitern, wenn dann im Sommer der Wasserstand in Flüssen zu niedrig ist oder das Wasser zu warm, um Kühlung zu gewährleisten? Klingt abwegig? Ist aber eine Meldung aus der Vergangenheit.
Was helfen Ideen wie „smart grids“, also computergelenkte und vernetzte Stromtrassen, wenn damit immer mehr Infrastruktur durch Hackerangriffe gefährdet wird? Niemand möchte Blackouts ausgelöst bekommen oder seine Wasserwerke abgeschaltet. Was hilft einem das fahrerlose Auto, wenn es eben doch Unfälle produziert?
Dann müssen wieder neue Gesetze erlassen werden, die solche Aspekte regeln. Gerichte müssen sich mit so etwas auseinandersetzen, denn früher oder später wird jemand klagen. Automatische Züge fahren bereits und sie werden sich vermehren. Was ist, wenn bald auch der Schaffner niemanden mehr kontrolliert, weil sich jeder Fahrgast beim Einstieg mit personalisiertem Ticket ausweisen muß? Oder schon bei Betreten des Bahnhofs?
Was heute noch wie dystopische Spekulation klingt, ist in ein, zwei Terroranschlägen womöglich Wirklichkeit. Schon jetzt haben viele Menschen ein Ticket als QR-Code auf ihrem Smartphone-Display. Und natürlich kann man das dann zu ihnen persönlich zurückverfolgen.
Nach einem weiteren Jahrzehnt werden die ersten Menschen Zug fahren, die sich nicht daran erinnern können, daß es jemals anders war. Shifting baselines, ich hatte das Phänomen schon einmal irgendwo erwähnt.
Der sogenannte technologische Fortschritt macht Dinge um uns herum immer komplexer. Wir alle leben in einem Spinnennetz aus technologischen Fäden und Voraussetzungen, die wir in ihrer Allgegenwart nicht mehr wahrnehmen. Jedenfalls nicht, solange das Netz funktioniert.
Immer mehr nimmt unser alltägliches Leben an Komplexität zu, während die Hohepriester der Religion des Fortschritts im Fernsehen und überall woanders immer lauter predigen, wie einfach wir es doch heute haben. Der Prozeß der Komplexifizierung setzt sich immer weiter fort.
Üblicherweise reagiert unsere Gesellschaft, wie jede andere vor ihr in der Geschichte, mit weiterer Komplexifizierung, wenn magische Technologie total unerwartet negative Effekte hat. Anstatt abzurüsten und Dinge zu vereinfachen, legt man noch eine Schicht an komplexen Technologien drauf. Wahlweise auch an bürokratischen Verfahren oder gesetzlichen Vorschriften. Komplexifizierung hat nicht immer das Gesicht von High Tech.
Diese Reaktion wiederum ist eine unmittelbare Folge des Dogmas von Fortschritt und Technologie. Es ist für viele Politiker, Wissenschaftler und Wirtschaftslenker völlig undenkbar, daß etwas, was einfacher ist und womöglich aus der Vergangenheit stammt, irgendein Problem besser lösen kann als das jeweils neueste und verbesserte Dingsbums, das gerade verkauft werden soll. Was wohl ein Baum dazu sagen würde?
Was die Gläubigen der Technologiereligion übersehen, weil sie es übersehen wollen, ist die Tatsache, daß mit zunehmender Komplexität eines Systems die Wahrscheinlichkeit des Versagens massiv zunimmt. Tatsächlich geht jemand wie Ray Kurzweil davon aus, daß die „benefits“, also die positiven Effekte von Technologie, ebenso exponentiell zunehmen werden wie die Technologie selbst. Das ist ein Basispostulat der Transhumanisten. Und glatte Realitätsresistenz.
Der Nutzen der Technosphäre unterliegt, wie alles andere, dem Gesetz des Abnehmenden Ertrags. Die negativen Folgen unserer exzessiven Technologie hingegen stapeln sich langsam auf wie das Himalaya.
Ökonomen gehen von denselben falschen Prämissen aus, wenn sie von „Effizienz“ reden. Die Wahrheit ist: Der Weg zur Hölle ist mit Effizienz gepflastert.
Es mag in einer globalisierten Weltwirtschaft finanziell effizient sein, Mandeln für Europa in kalifornischer Wüste anzubauen statt im ebenfalls trockenen, aber näher gelegenen Spanien. Nur wirklich sinnvoll ist das nicht, betrachtet man Wirtschaft als ein Instrument zur Bedürfniserfüllung von Menschen, das möglichst widerstandsfähig sein soll.
Immer wieder wird von Politikern betont, daß die globalisierte Wirtschaft niemals untergehen könne, denn sie ist ja großartig vernetzt. Keine von diesen Personen scheint zu begreifen, daß unsere Weltwirtschaft zwar vernetzt ist, aber keinesfalls widerstandsfähig.
Je „effizienter“, desto empfindlicher wird das Gesamtsystem für Störungen. Resilienz ist etwas anders als Vernetzung.
Im Hang unserer Wissenschaften zum Reduktionismus haben wir völlig aus den Augen verloren, wie das Gesamtsystem funktioniert, in dem wir alle existieren. Ob es jetzt die arme Sau im tiefsten Afrika ohne Zugang zu Trinkwasser ist oder der amerikanische Multimilliardär in seinem Penthouse für 50 Millionen Dollar hoch über der Stadt und unter dem Landeplatz für den Privathubschrauber – wir sind allesamt denselben Naturgesetzen unterworfen. Die Religion des Fortschritts geht immer davon aus, daß wir bei immer stärkerer Verwendung von Technologie diese Naturgesetze außer Kraft setzen können. Aber das stimmt nicht. Es ist eine Lüge.
Fliegende Autos – ich hatte sie oben schon kurz erwähnt – existieren deshalb nicht, weil Autos und Flugzeuge einige Dinge beinhalten, die nicht gut zusammen passen. Ein Flugzeug sollte möglichst leicht sein, denn dann verbraucht es weniger Sprit. Ein Auto benötigt eine gewisse Masse, um die Kraft eines Motors als Traktion auf die Straße zu bekommen. Ob der Motor dann elektrisch ist oder fossile Brennstoffe benötigt, ist zweitrangig.
Ein richtiges Auto fliegt also schlecht und ein richtiges Flugzeug würde eben schlecht fahren. Das Gesamtsystem der Naturgesetze läßt hier keinen brauchbaren Kompromiß zu. Ebensowenig ist ein Flugzeug, das 800 Passagiere mit angeblich möglichst wenig Spritverbrauch befördern kann, ein Beweis dafür, daß Mensch Naturgesetze außer Kraft gesetzt hätte. Es ist ein Beweis dafür, daß wir die grundlegenden Gesetze der Aerodynamik einfach nur gut verstanden haben.
Wenn wir nur lange genug durchhalten, so das Versprechen, können wir für immer zwanzig sein.
Natürlich wäre es möglich, daß Nanotechnologie in den nächsten zwanzig Jahren so etwas wie einen Boom erfährt. Wenn ich heute zum Arzt gehen könnte und nach einer entsprechenden Behandlung wieder meinem Körper mit 25 zurückbekommen – ich würde das auf der Stelle tun.
Aber damit komme ich zu einem anderen Punkt, den die Propheten des allmächtigen Übermorgen immer gerne außer acht lassen. Nämlich der Frage, wem derartige Technologien, die gerne angepriesen werden, eigentlich zugute kommen würden.
Wenn man bedenkt, daß ein einfacher Beinbruch in den USA fürs Eingipsen mit irgendeiner Summe zwischen 500 und 35.000 Dollar zu Buche schlagen kann, abhängig von Wochentag, Mondphase, Bundesstaat, Ausgeschlafenheit des Personals und natürlich dem eigenen Sternzeichen, ist das sogar ein ganz erheblicher Punkt.
Fakt ist, daß ein immer größerer Teil an technologischen Errungenschaften einen immer geringen Nutzen für den Durchschnittsmenschen haben. Klar ist Internet eine tolle Sache. Aber was kostet das eigentlich alles, wer hat das bezahlt und wer sind diejenigen, die damit wirklich so richtig Geld verdienen?
Die Antworten werfen kein gutes Licht auf diese größte Innovation der letzten 25 Jahre. Wie ich schon letzte Woche erwähnte, ist das Internet eine Struktur, die es vielen Leuten ermöglicht, die Dinge zu tun, die sie auch vorher schon taten. Nur eben schneller und billiger. Zumindest finanziell billiger. Die Kosten der Gesamtgesellschaft haben sich erhöht, beispielsweise durch das Verschwinden gut bezahlter Arbeitsplätze und damit verbundener Belastung für Sozial- und Rentenkassen.
Was haben Farmer davon, wenn sie während der Erntezeit ihre eigenen Traktoren nicht mehr reparieren dürfen, weil die Herstellerfirma darauf besteht, so etwas müsse von ausgebildeten Fachkräften in Fachwerkstätten durchgeführt werden, weil die Herren Agrarökonomen den Traktor ja selbstverständlich nur geleast hätten und der ihnen somit gar nicht gehört? Klingt absurd? Bitteschön.
Pläne des Autobauers und Technogläubigen Elon Musk, schon ab 2018 einen Pendelverkehr zum Mars einzurichten, klingen wunderbar und faszinierend. Es ist genau die Art Weihrauchgeschwenke, von dem ich bereits in den anderen Teilen dieser Serie geschrieben habe. Ein Projekt, das beweisen soll, wie unglaublich phan-fucking-tastisch die Menschheit doch ist. Was wir nicht so alles drauf haben, wir geilen Typen!
Natürlich ist es mein Job als spitzohrige Spaßbremse, die Hand zu heben und die Frage zu stellen: „Wozu sollte das gut sein?“
Denn wenn uns irgendwelche Sondenflüge und putzige Roboter auf der Oberfläche unseres irdischen Nachbarn eines gebracht haben, dann mit Sicherheit die Erkenntnis, daß der Rote Planet eine verdammte Kugel aus unterkühltem Staub ist. Eine tote Kugel aus unterkühltem Staub. Da gibt es nichts, was des Hinfliegens wert wäre. Ich bedaure das als SF-Leser zutiefst. Ich war dreizehn, als ich die Mars-Chroniken eines Ray Bradbury gelesen habe. Aber so sind nun einmal die Fakten. Als wissenschaftlicher Typ finde ich es natürlich trotzdem interessant. Wir könnten sehr wohl etwas lernen. Aber inwiefern sollten solche Projekte dabei hilfreich sein, die Probleme in den Griff zu bekommen, die eine sich weiter vermehrende menschliche Rasse auf ihrer Heimatwelt hat?
Also hier, auf der Erde.
Mit Hilfe einer außer Kontrolle geratenen Agrartechnologie erzeugen wir heute mehr Nahrungsmittel als jemals zuvor. Aber die Nahrung wird immer giftiger.
Ein Rückgang der Erträge durch Bodenerosion, Versalzung infolge von Bewässerung und sinkende Grundwasserspiegel ist unvermeidlich. Tatsächlich findet das bereits statt. Gleichzeitig werfen wir in den Industrieländern gute dreißig Prozent aller erzeugten Lebensmittel weg, noch bevor sie in unserer Supermarktkultur im Regal landen können.
Die Lösung der Politik ist es, überall darüber zu diskutieren, ob ein Mindesthaltbarkeitsdatum abgeschafft werden sollte. Oder wie man Verteilung besser überwachen kann. Dabei müßte man einfach nur ein paar Dutzend Vorschriften auf Ebene der EU und der Nationen ersatzlos streichen, die sich auf Größe, Form und schönes Aussehen bestimmter Gemüsesorten beziehen. Nicht mehr Gesetze und Vorschriften. Weniger davon.
Es ist völlig egal, ob die Möhre zwei Beine hat oder die Gurke ein Halbkreis ist – im Salat interessiert es mich, wie die schmecken.
Ebenfalls gleichzeitig stehen die Vertreter von Monsanto, Bayer, BASF, ConAgra, Nestle und anderen transnationalen Konzernen armwedelnd herum und schreien lautstark, eine andere, ökologischere Art der Landwirtschaft sei schlechterdings unmöglich, denn dann würden ja die Hektarerträge absinken.
Nein, nur mehr Technologie kann uns da weiterhelfen, sagen solche Leute. Komplexifizierung, wohin man schaut.
Das ist ein weiterer Aspekt der Technologiereligion, des Mythos des Fortschritts. Kontrolle. All diese Technologie wird von Menschen auf uns losgelassen, die immer sagen: „Wir haben alles unter Kontrolle. Vertraut uns.“
Das Fitnessarmband kann die Eßstörung positiv beeinflussen, es kann meinen Herzrhythmus an einen Arzt übertragen. Aber hilft das dabei, die psychische Macke wegzukriegen, die die Eßstörung überhaupt erst auslöst? Nein, dazu ist eine Therapie erforderlich. Bei einem Menschen. Bis jetzt jedenfalls.
Hilft es dabei, die Herzrhythmusstörung nicht zu bekommen, die mich in meiner Küche zusammenbrechen läßt? Nein, das kann trotzdem passieren. Es erhöht eventuell meine Überlebenschancen. Falls sich der Fahrer des Krankenwagens nicht verfährt, weil sein Navi ihn irgendwohin leitet und der Mann natürlich keine Ahnung hat, wo er eigentlich ist und auch keine Karte lesen könnte, hätte er eine dabei.
Immer wieder bekommen wir erzählt, daß wir die Welt mit unserer Technosphäre kontrollieren können. Aber auch das ist eine Lüge.
Jederzeit können sich unerwartete Dinge ereignen und nicht wenige davon sind eine unmittelbare Folge unserer exzessiven Nutzung der Möglichkeiten der Technosphäre. Je komplexer aber die Welt wird, desto zerbrechlicher machen wir sie auch. Dabei müßten wir die Widerstandskraft unserer Zivilisation verstärken.
Aller medizinischer Fortschritt wird dann langsam sinnlos, wenn es nur noch darum geht, neue Antibiotika zu entwickeln, weil die verdammten Bakterien langsam gegen alles resistent werden, was Ärzte noch im Kampfgürtel haben.
Dabei vergessen wir völlig, daß es sich um die Nachfahren von Bakterien handelt, denen unsere Errungenschaften beigebracht haben, sich schneller anzupassen als alle bakteriellen Artgenossen. Zusätzlich haben die Überlebenden gelernt, diese Anpassungen auch noch schneller weiterzugeben. Je mehr Evolutionsdruck wir ausüben, desto schneller erfolgt die Anpassung. Diesen Wettlauf können Menschen in Forschungslaboren nicht gewinnen.
Mit dem Fund von MCR-1 in Darmbakterien, eine Mutation, die auch das Reserveantibiotikum Colistin unwirksam macht, ist eine Niederlage für die Pharmaindustrie vorprogrammiert. Aber das wird diese Industrie nicht daran hindern, mit öffentlichen Geldern neue Forschungen durchzuführen, neue Supermedikamente zu entwickeln und dafür neue Patente zu beantragen, um superviel Geld in private Kassen zu lenken.
Es hilft nichts, wenn die Apologeten der technologischen Zukunft verkünden, daß man dann bald endlich diese absolut sicheren Reaktoren bauen könnte, die niemals eine Kernschmelze erleiden werden. Denn – seht her, oh Gläubige – wir haben die einfach so konstruiert, daß das nicht geht!
Das ist selbstverständlich so überzeugend, daß selbst ich diesen Worten Glauben schenken würde, wäre ich dafür nicht einfach zu schlau.
Immerhin bin ich etwa 300.000 Jahre alt, wenn ich nach der statistischen Wahrscheinlichkeit gehe, mit der ein GAU, also eine Katastrophe der Klasse 7 auf der dafür zuständigen Skala, in einem Atomkraftwerk überhaupt eintreten kann. So hat man es mir immer gesagt, seitdem ich ein Kind war. Höchstens einmal in hunderttausend Jahren würde so etwas Absurdes passieren. Tschernobyl und Fukushima lassen grüßen. Ich bin also alt genug, um skeptisch zu sein.
Dazu kommt noch, daß auch solche fiktiven Reaktoren nichts nützen, wenn andere Länder andere Reaktoren in Erdbebengebiete bauen. An die Grenze zwischen Indien und Pakistan beispielsweise. Denn zum Gesamtsystem, in dem wir uns mit all unserer Technologie bewegen, gehört eben auch die Politik.
Noch weniger hilft uns alle Erkenntnis über Klimazerstörung und fossile Brennstoffe, wenn die Republikaner in den USA Kohle einfach mal eben für sauber erklären. Denn zum Gesamtsystem der Politik gehört eben auch die abgrundtiefe Dämlichkeit irgendwelcher hochrangiger Sesselfurzer, die kein Naturkundelehrer in der 4. Klasse eine Arbeit bestehen lassen würde, die aber fest davon überzeugt sind, die Welt werde sich schon nach dem wirren Durcheinander in ihren Schädeln formen. So wie Ökonomen glauben, Natur sei nur ein Untersystem von Wirtschaft, glauben Politiker, mit Verordnungen oder Verlautbarungen die Realität ändern zu können.
In meiner Welt spielen Menschen Spiele wie Ingress oder Pokémon Go. In beiden Fällen wird mit Hilfe eines Smartphones die Realität mit einer weiteren Schicht überzogen. Bei Ingress erscheinen dann an verschiedenen Punkten Portale, die von einer der beiden Fraktionen im Spiel beherrscht werden, indem man rund um die Dinger quasi Schildgeneratoren aufstellt und so dafür sorgt, daß das Portal der eigenen Fraktion gehört.
Bei Pokémon Go laufen Millionen Menschen rum, als würden sie aus dem All ferngesteuert, weil in ihrem Smartphone kleine Monsterviecher sichtbar sind, die blödsinnige Namen haben und gejagt werden müssen. Beziehungsweise gefangen.
Der Knaller ist aber, daß beides von der Werbeindustrie unter „Augmented Reality“ zusammengefaßt wird. Übersetzt also „Erweiterte Realität“.
Leute, die ohnehin schon den Kopf nicht mehr hochhalten können, weil sie den ganzen Tag auf ihr Display starren, laufen völlig virtuellen Erscheinungen hinterher, die absolut nichts mit der wirklich wahren Realität zu tun haben. Also solchen Dingen wie Ampeln, Zebrastreifen, fahrenden Autos und allgemein anderen Menschen.
Menschen wie mir, die auf Radwegen in altmodischer Denkart ganz gerne nur Fahrräder erwarten und nicht Horden stumpfsinnig sabbernder Digitalzombies, die auf kein Klingeln, Winken, Fluchen oder die ab und zu geworfene Handgranate mehr reagieren. Wobei, neuerdings werde ich manchmal ganz gerne von leer blickenden Teenageraugen gescannt, hinter denen vermutlich ein betäubtes Gehirn zu entscheiden versucht, ob ich ein Pokémon sein könnte. Vielleicht sitzt auch eins auf der Lenkstange, ich weiß es nicht.
Wenn ein Denkmal, das seit 300 Jahren aus einem bestimmten Grund vor sich hin rostet, von einem virtuellen Portal überdeckt wird – das ist eine Erweiterung der Realität? Man nenne mich altmodisch, aber ich habe all die Spiele, die ich im Laufe meines Lebens gezockt habe, niemals für Realität gehalten oder eine Erweiterung derselben.
Völlige Virtualisierung der Realität wird heute als „Erweiterung“ betrachtet. Schon glauben Menschen, daß Leben müsse immer nett sein zu ihnen. Wie ein Spiel halt.
Das ist die Welt, in der wir leben. Eine immer komplexere Schicht aus ineinandergreifenden Technologien, die Technosphäre, über deren Auswirkungen wir insgesamt längst die Kontrolle verloren haben. Falls wir sie jemals hatten, was in vielen Fällen ebenfalls zweifelhaft ist.
Wie auf einem Display nimmt uns jede weitere Schicht an Komplexität wie ein Schleier den Blick auf die real existierende Wirklichkeit. Mehr und mehr vergessen wir, daß die Welt nach Gesetzen funktioniert, die wir erkennen und nutzen können, aber niemals brechen.
In ihrer immer zunehmenden Komplexität frißt die Technosphäre mehr und mehr von dem auf, was die Menschheit als Bewegungsmoment nach vorne bringen soll, wenn man den Beteuerungen der Priester, den Visionen der Propheten folgt.
Mensch bewegt sich mit immer mehr Kraftverschwendung gegen den Strom, immer betäubter und teilnahmsloser. Je mehr Kontrolle uns versprochen wird, desto weniger üben wir tatsächlich Kontrolle über irgendeinen Aspekt unseres Lebens aus. Erst baut man Maschinen. Dann benutzt man Maschinen. Dann läßt man zu, daß die Maschinen einen benutzen. Am Ende wird man Teil der Maschine und stellt ihre Bewegung nicht mehr in Frage.
Immer mehr geraten die grundlegenden Fragen in Vergessenheit, die es bezüglich der Technosphäre zu stellen gilt. Alles, was der Mensch erschafft, sollte ein Werkzeug sein. Ein Werkzeug dient einem bestimmten Zweck. Wir müssen uns wieder Fragen stellen, deren wichtigste wohl ist: „Wozu soll es dienen?“
Mit all diesen zeitsparenden Gadgets, die man uns in den letzten zwanzig Jahren verkauft hat, müßte doch heute jeder Mensch den ganzen Tag frei haben.
Es ist der Kontakt mit der Realität, der uns wirklich menschlich macht. Realität erweitert uns, keine virtuellen Overlays. Fragen wir also einfach mal: „Wohin zur Hölle laufen wir hier eigentlich?“
Das Beitragsbild ist von Wladimir Manyuhin. Den Künstler findet man beispielsweise hier.