„Es gibt einen Unterschied im Abschätzen der Höhe eines Sturzes und dem Fall; zwischen dem Anblick einer Welle und sie tatsächlich an den Strand schlagen zu hören.
Es war immer für undenkbar gehalten worden, aber jetzt hat sich der Gedanke in die Tat umgesetzt. Europa kann nie mehr dasselbe sein.“
Das schrieb Rafael Behr in einem Artikel im Guardian am letzten Freitag, an dem ich auch meinen letzten Beitrag in diesem Blog schrieb. Natürlich ging es um die Brexit-Entscheidung.
Auch der Chef der Fraktion der Linkspartei sprach am Dienstag im Bundestag über den Brexit und seine Folgen. Herr Bartsch nannte ausgerechnet Helmut Kohl dabei als „letzten europäischen Kanzler“. Das Furchtbare ist, daß er damit tatsächlich recht hat. Weder eine Frau Merkel, die als heimliche Königin Europas bezeichnet wird und schon dutzendfach vom Magazin Forbes zur mächtigsten Frau der Welt gekürt worden ist, noch der trampelige Gerhard Schröder oder dieser Typ namens Franz Holländer, der trotz seines Namens Präsident der Franzosen ist, bringen auch nur annähernd soviel europäisches Gewicht auf die Waage wie ein Helmut Kohl.
Das ist natürlich auch schwierig, wie alle diejenigen zugeben müssen, die die Regierungszeit des dicken Pfälzers in ihrer Gänze miterlebt haben. Immerhin hat der Mann sechzehn Jahre lang unser Land geführt. Damit hat Helmut Kohl also länger gedauert als das tausendjährige Reich, das die Nazis im Zweiten Weltkrieg so gerne errichten wollten. Nicht nur gefühlt, auch in absoluten Zahlen. Dies nur für alle Jugendlichen, die die 80er heutzutage als irgendwie glamouröses Zeitalter vergöttern.
Außerdem war Birne der erste Kanzler, dem es gelungen ist, deutsches Territorium, das von seinem Vorgänger in den 30ern verzockt wurde, wieder zurückzuholen. Man könnte so sagen, die einzige dauerhafte Ausdehnung des deutschen Hoheitsgebiets nach 1945 erfolgte durch Helmut Kohl.
Gut, in dem Moment hätte jeder deutscher Kanzler sein können. Die Konkursmasse der DDR per feindlicher Übernahme einzusacken war ein Angebot, das selbst ein grüner Bundeskanzler Fischer nicht hätte ablehnen können, ohne dafür drei Minuten später von einem wütenden Mob gelyncht zu werden.
Angela Merkel hingegen hat etwas anderes geschafft. Sie ist der erste deutsche Politiker, dem es gelungen ist, England zu besiegen. Gut, man mußte die Engländer dazu bringen, sich irgendwie selber ins Knie zu schießen, aber das hat dann tatsächlich funktioniert. Genau wie im Fußball ist das einzige, was Großbritannien besiegen kann, eben Großbritannien. Das dann aber auch gründlich.
So sehr Kohls Regierungszeit auch wie Blei auf diesem meinem Heimatland lag, dieser Mann hatte etwas, was eine Frau Merkel und alle anderen nicht haben. Nicht, weil sie es verloren hätten, sondern einfach, weil sie es nie hatten: Eine Vision von einem Europa der Zukunft.
Eine Vorstellung über das Zusammenleben von mehr als einer halben Milliarde Menschen, die weit über bloße ökonomische Zahlen hinausgeht. Natürlich sind die wichtig, denn dieses Europa ist, trotz aller Nackenschläge, der größte Wirtschaftsraum der Welt, da können die Amerikaner noch so sehr behaupten, sie hätten ökonomisch den längsten.
An seiner Seite hatte Helmut nicht nur mit allen Wassern gewaschene Polit-Intriganten wie einen Wolfgang Schäuble oder einen willfährigen Sklaven wie Norbert Blüm. Nein, er hatte auf internationalem Parkett auch einen Mann wie Francois Mitterand als Begleiter, der zwar viel kleiner war als der bullige Mann aus der Pfalz, aber trotzdem den großen Nachbarn Frankreich regierte, den traditionellen Erzfeind und mehrfachen Kriegsgegner.
Beide, Mitterand und Kohl, entstammten einer Generation, die selber noch die Verwüstungen von Hitlers Krieg miterlebt hatte. Der Kontinent wurde in Schutt und Asche gelegt, Deutschland erlitt in Folge seiner Verbrechen ein psychologisches Trauma, das bis in heutige Generationen nachwirkt. Wenn auch nicht mehr stark genug bei einigen, nach meinem Eindruck. Der große Kerl aus Deutschland und der kleine Kerl aus Frankreich wurden Freunde.
Noch in seiner aufstrebenden Polit-Zeit hatte ein Kohl einen Charles de Gaulle erlebt, der Frankreich atomar bewaffnete. Nicht zuletzt, um Deutschland für immer an irgendeinem Angriff auf sein Land zu hindern. Derselbe Mann stand einem Frankreich vor, das die Integration Großbritanniens in den gemeinsamen Markt verhinderte, während Deutschland dieses Projekt befürwortete. Was schließlich im Beitritt der Briten zur EWG gipfelte und dann etwas später in einer Premierministerin namens Maggie Thatcher. Ein Kanzler Brandt kniete in Warschau nieder und lud mit diesem Bild die Last einer ganzen Nation auf seine Schultern. Dessen Nachfolger trieb das Unternehmen des „Wandels durch Annäherung“ weiter voran.
Brandt und Schmidt, Mitterand und Kohl waren sich jederzeit bewußt, daß dieses Projekt Europa, das sie da irgendwie gemeinsam vorantrieben, wesentlich mehr beinhaltete als nur das gebetsmühlenartige Wiederholen von Schlagworten wie Wohlstand und Wachstum. Alle hatten ein Europa vor Augen, in dem ehemalige Feinde sich endlich zu der Erkenntnis durchringen, daß Kooperation der Schlüssel zum friedlichen Zusammenleben ist. Europa war für diese Generation eine Idee von etwas Größerem, eines Zusammenhalts über Landesgrenzen hinweg in dem sicheren Bewußtsein, daß der nächste Krieg aller Wahrscheinlichkeit nach der letzte sein würde und deshalb niemals stattfinden dürfte.
Gerade eben habe ich Helmut Kohl positiv erwähnt. Europa steckt wirklich tief in der Scheiße.
Es ist das Europa meiner Generation. Es ist mein Europa. Es ist eine Idee von Frieden unter den Völkern. Eine Idee, die Bereitschaft zur Verständigung erfordert, den Willen, aufeinander zuzugehen und dabei nicht nach der Pistole im Holster zu greifen, sondern die Hand auszustrecken, um die des Gegenübers zu ergreifen. Außerdem kommt der jeweils andere Kerl so nicht an sein Schwert, diese Methode der Friedenssicherung ist also wesentlich älter als Schußwaffen.
Aber diese Generation Politiker existiert nicht mehr. Weder in Italien noch in Spanien. In Frankreich nicht und in Deutschland erst recht nicht.
Wir werden regiert von aalglatten Finanzbürokraten mit Wirtschaftsabschlüssen, die alles unternehmen, um „die Märkte“ zufriedenzustellen und „die Wirtschaft“ in jeder nur denkbaren Form zu subventionieren. Denn das sichert diesen Menschen ihren Machterhalt.
Der Brexit, der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, die als Nachfolgerin der EWG 1993 aus der Taufe gehoben wurde, erweist sich mehr und mehr als ein weiteres Symptom einer viel tiefer sitzenden Krankheit.
Alleine am letzten Freitag wurden an der Frankfurte Börse mehr als 65 Milliarden Euro aufgelöst, als die Kurse fielen. Aktuell wird der Flurschaden durch das Referendum auf gute 3 Billionen Euro geschätzt, denn die Aktienkurse gaben weltweit nach als Folge des Austritts.
Überall in den deutschen Medien werden jetzt die Abstimmenden als die Schuldigen ausgemacht. Sie wären sie dumm, zu unaufgeklärt, zu unwissend. Ihnen fehle der intellektuelle Überblick über die Tragweite ihrer Entscheidung. Aus diesen wüsten Behauptungen wird dann sofort und nahezu einhellig die Schlußfolgerung gezogen, daß Referenden an sich kein geeignetes Werkzeug der Demokratie seien.
Gut, mir persönlich springt auch der Draht aus der Mütze, wenn ich sehe, daß irgendwelche Engländer, in diesem Falle Engländerinnen, auf ihrem Twitter-Account rumheulen, sie wären auf die Lügen der Leave-Kampagne hereingefallen und fühlten sich jetzt ihrer Stimme beraubt.
Wie bescheuert muß man eigentlich sein, frage ich mich da allen Ernstes, um in sechs Monaten zunehmend hysterisch werdender Diskussion nicht einmal das verdammte Smartphone in die Hand zu nehmen und mal kurz nachzugooglen, ob die Behauptungen der jeweiligen Wahlkämpfer denn auch den Tatsachen entsprechen?
Konkret geht es hier um die Behauptung der Leave-Seite, Großbritannien würde pro Woche 350 Millionen Pfund an die EU überweisen. Geld, das man für andere Zwecke verwenden könnte. Ein Bus mit solchen Slogans fuhr durchs Land.
Ich bin nicht einmal Brite. Aber ich weiß, daß das Vereinigte Königreich etwa 6 Milliarden Euro pro Jahr an Brüssel überweist. Da ist der berühmte „Britenrabatt“ aus Thatchers Zeiten bereits rausgerechnet, ebenso die Zahlungen, die eben von Brüssel nach London fließen.
Multipliziere ich 350 Millionen mit 52 Wochen, komme ich auf 18.200 Millionen britische Pfund, was ich dann nochmal in Euro umrechnen müßte. Aber das ist gar nicht erforderlich, denn ich weiß mit absoluter Sicherheit, daß Deutschland als größter Nettozahler der EU etwa 15 Milliarden Euro in jedem Jahr aufwendet, die nach Brüssel fließen.
Alleine mit diesen Basiswerten und 3 Minuten Zeit ist man also problemlos in der Lage, die lächerliche Behauptung der Brexiter unter Nigel Farage als das zu enttarnen, was sie ist: Eine schlichte Propagandalüge.
Die angegebenen Zahlen können so unmöglich stimmen, da muß man weder Einstein für sein noch Isaac Newton oder sonstwie besonders schlau. Keine der Informationen, die man dazu braucht, ist in irgendeiner Form elitäres Geheimwissen.
Sich derartig verarschen zu lassen und dann nach der Wahl rumzuheulen, man wäre ja ein Opfer von Betrügern, ist wirklich die absolute Krönung der eigenen Idiotie und treibt mir politisch den Schaum vor den Mund.
Nicht zu erkennen, daß eben das eigene Politikverständnis und die Intelligenz etwa auf dem Niveau einer geistig zurückgebliebenen Eintagsfliege anzusiedeln sind, ist das eine. Dann aber öffentlich darauf zu bestehen, daß andere daran schuld sein sollen, daß man selber das Smartphone nur als Brett vor dem Kopf benutzt hat und um per whatsapp das nächste Fickdate mit der Freundin klarzumachen, ist ein abgrundtiefes Zeugnis geistiger Armseligkeit. Solche Leute sind für mich immer wieder ein Grund dafür, zu fragen, ob wir es mit der Vergabe des Wahlrechts nicht eventuell doch übertrieben haben in unseren westlichen Demokratien.
Doch im Gegensatz zu vielen Presseorganen der letzten Tage komme ich zu dem Schluß: Nein. Haben wir nicht.
Man kann aus der Tatsache, daß so manche Menschen mit ihrem Wahlrecht offenbar nicht umzugehen in der Lage sind, nicht den Schluß ziehen, das Wahlrecht an sich eine schlechte Sache ist. Oder eben die Durchführung eines Referendums. Ganz im Gegensatz zu manchen Damen, die für Deutschlands Presse Kommentare schreiben, kann ich im Referendum der Briten kein Desaster für das Vertrauen in menschliche Vernunft erkennen.
Die Süddeutsche Zeitung verstieg sich gar dazu, einem Referendum die Tauglichkeit abzusprechen, wenn es um komplexe internationale Fragen geht.
Kommentare, wie sie dümmer und weltfremder kaum sein könnten in meinen Augen und die mir ganz klarmachen, daß derartige Journalisten ganz offensichtlich Teil des Problems sind, das sie selber nicht sehen wollen. Ein Großteil der Reaktionen auf den Brexit besteht bisher darin, auf keinen Fall die wirklichen Ursachen zu erwähnen. Oder die richtigen Fragen zu stellen.
Beispielsweise die Frage, warum ausgerechnet in den Gebieten, die besonders viele EU-Gelder kassieren, mehrheitlich für den Brexit gestimmt wurde. Die deutschen Besserwisser-Journalisten sehen hier weitgehend einen Beleg für die Dummheit der beteiligten Wähler. Mir kommt dagegen sofort die Frage in den Sinn, wohin denn die so zahlreichen EU-Gelder eigentlich genau fließen und wer wirklich davon profitiert in den entsprechenden Regionen?
Ist dieses Phänomen nicht vielleicht eher ein starker Hinweis darauf, daß ein Großteil der Bevölkerung von den so großzügig bemessenen Subventionen in der EU überhaupt nichts abbekommt?
Es fehlt auch nicht an Hinweisen, daß die Abstimmenden ja nur frustriert gewesen sind und deshalb für Brexit gestimmt haben. Aus einem diffusen Gefühl der Unzufriedenheit heraus. Das ist sicherlich nicht falsch und ein vorhandener psychologischer Faktor. Aber woher kommt dieses Gefühl der Frustration eigentlich?
Das ist in vielen Fällen sicherlich sehr individuell, aber übertriebene Bürgernähe der Politik und zu viele Referenden zu wichtigen Fragen sind mit absoluter Sicherheit nicht der Grund dafür.
Nicht in Frankreich, nicht in England, und auch nicht in Deutschland, in dem bei Landtagswahlen mehr als 75% aller AfD-Wähler hinterher sagen, irgendwelche Inhalte dieser Partei hätten sie gar nicht interessiert.
Ich rufe dem europäischen Wahlvolk hier lautstark zu: Seine Stimme abzugeben, sollte in einer Demokratie grundlegende Pflicht sein. Seine Stimme aber irgendwem zu geben, nur weil er nicht zu den „anderen“ gehört – wer die auch jeweils gerade sein mögen – führt geradewegs in die Hölle. Sich danach zu beschweren, es sei zu heiß, ist keine Entschuldigung.
Die Anführer der Remain-Kampagne hatten von Beginn an ein Problem: David Cameron. Der Mann, der das Referendum überhaupt erst ins Leben gerufen hat, weil die Konservativen in England heillos zerstritten sind. Der also wegen eines parteiinternen Gezänks nicht besseres zu tun hatte, als die politische Zukunft seines Landes und ganz Europas von einer Abstimmung über ein Thema abhängig zu machen, daß mit der innerparteilichen Unfähigkeit der Torries so wirklich gar nichts zu tun hat. Klarer Fall von Sündenbock-Verhalten.
Derselbe Cameron stellt sich dann an die Spitze der „Bremainer“-Kampagne, nachdem er noch einige Monate zuvor die EU als Grund für alles Übel der britischen Inselwelt verantwortlich gemacht hatte, einschließlich miesen Wetters und zu dürrer Frauen mit schiefen Zähnen.
Einen derartigen Wandel als unglaubwürdig zu bezeichnen, würde der Sache eindeutig nicht annähernd gerecht. Deswegen würde ich mal sagen, daß David Cameron hier auf gut und gerne 0,7 Merkel kam mit diesem Manöver. Ein Merkel ist übrigens exakt die Geschwindigkeit, bei der man sich politisch so schnell umdreht, daß man sich selber für das in den Arsch treten kann, was man vorher gar nicht gesagt hat.
Derselbe David Cameron beschwerte sich dann in mindestens drei großen Fernsehauftritten darüber, daß die Leave-Kamapgne die EU als Quelle allen Übels darstelle und das wäre ja wohl vollkommen haltloses Geschwätz. Dummerweise haben die Kumpels von Boris Johnson und Nigel Farage keine Argumente benutzt, die David nicht im Vorfeld selber schon verwendet hatte.
Mit dem Brexit hat Cameron eine Art politisches Tschernobyl geschaffen. Der Fallout über Europa wird entsprechende Folgen haben.
Ebenso wie sich in Deutschland die AfD-Wähler nicht für so etwas Lästiges imteressiert haben wie Inhalte, haben sich auch die britischen Wähler nicht für Inhalte interessiert. Schon lange vor der Abstimmung der letzten Woche bestanden beide Kampagnen nur noch aus emotionalem Rumgepöbel.
Wobei selbst dann noch etwas zu retten ist, wenn eine politische Kampagne in diese Sümpfe des Unhaltbaren abgeglitten ist. Es ist nicht zwingend tragisch, wenn in einer politischen Meinungsbildung auch Emotionen eingesetzt werden von den jeweiligen Kontrahenten. Im Gegenteil, das ist sogar der Normalfall.
Was die Remain-Kampagne falsch gemacht hat, ist, der völlig negativen Emotionalität der Brexiter ebenfalls nur negative Emotionen entgegengesetzt zu haben. Als Antwort auf „Migranten überschwemmen das Land und werden es kahlfressen wie die Heuschrecken“ kam immer nur „Die Wirtschaft wird untergehen ohne EU“, meistens gefolgt von einem „Es wird soziale Kürzungen geben“.
Dabei haben die Idioten in Westminster allerdings die Tatsache vergessen, daß es sich bei vielen registrierten Wählern um Leute handelt, die schon seit dreißig Jahren immer dasselbe Lied hören aus dem Chor der Eton-College-Boys, die das Land regieren – und zu denen, nebenbei gesagt, ein Boris Johnson ebenso gehört wie ein Nigel Farage: Man muß sich zurückhalten beim Lohn. Man muß mehr arbeiten. Weniger Urlaub machen. Es muß sozial gekürzt werden.
Übrigens schon ein Widerspruch in sich, ein solcher Satz.
Das alles, um „die Wirtschaft“ zu stärken und „die Märkte“ zu verbessern. Damit sich auf geheimnisvolle Weise der wachsende Wohlstand für alle manifestiert, dieses zentrale Versprechen des Kapitalismus. Das Äquivalent zur Religion des Fortschritts ist die Religion des Ewigen Wachstums.
Ein guter Teil der Brexit-Wähler besteht aus Menschen, die seit der Thronbesteigung der Eisernen Lady immer wieder von der Politik verarscht wurden. Nämlich dann, wenn gerade Wahlen waren. Und zwischen den Wahlen hat die Politik diese Leute komplett ignoriert. Außer wenn es darum ging, ihnen irgendwelche Leistungen zu kürzen. Englands Politiker haben schlicht und einfach vergessen, wie sehr ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung sowohl sie als auch ihre Beschwörungen der Märkte und der Wirtschaft haßt. Die Quittung gab es im Referendum.
Dazu kommt natürlich auch wieder die Tatsache der fehlenden Kompetenz an der Wahlurne, die es tatsächlich gibt, wie man dem Bild weiter oben klar entnehmen kann. Die deutsche Presse beklagt, da hätten ja wohl viele schlicht falsch abgestimmt. Aber das ist wie immer knapp daneben. In Wirklichkeit haben viele gar nicht abgestimmt, also exakt das, was ich befürchtet hatte.
Statt mal das Smartphone wegzulegen und den eigenen Hintern ins Wahllokal zu bewegen, betrug die Wahlbeteiligung in der Altersgruppe 18-25 gerade einmal 36%. Das ist nicht einmal halb so hoch wie die Beteiligung insgesamt. Auch in der Gruppe darüber, die bis 34 Jahren, betrug die Wahlbeteiligung unterdurchschnittliche 58%.
In der Gruppe der alten Säcke, also 65+ lag sie dagegen bei satten 83%.
Trotzdem blähen sich jetzt viele jüngere Engländer auf und behaupten, die Alten hätten ihnen die Wahl geklaut. Das ist aber nicht richtig. Leute über 65 mögen eventuell nicht unfallfrei twittern können, aber sie wissen ganz genau, wie man das Papierinterface eines Wahlzettels bedient.
Wenn überhaupt hat die jüngere Generation sich diese Wahlen klauen lassen. Die Digital Natives haben ganz offensichtlich ein gewisses Verständnisproblem mit den Strukturen der Welt. Es reicht nicht, sich an seinem Collegestandort für die Wahl registrieren zu lassen und dann aber nicht da zu sein, weil gerade Semesterferien sind. Da muß man eben eine Woche länger am College verweilen und erst nach der Wahl heimfahren zu Mami.
In eindeutiger Weise sind also auch durchaus intelligente Menschen zu doof, um das Wahlrecht korrekt zu gebrauchen. Indem sie es nämlich einfach außer acht lassen. Aber macht ja nichts, sowas wie der Brexit war ja nur die wichtigste politische Entscheidung der nächsten Jahrzehnte. Warum sollte man da abstimmen, wenn man doch besser eine Runde Minecraft spielen kann?
Worauf es jetzt ankäme, wäre ein Europa der Zusammenarbeit, der Analyse und der richtigen Maßnahmen. Dummerweise hat Frau Merkel die Achse Berlin-Paris mit ihrem widerlichen Verhalten in Richtung Griechenland im letzten Jahr sehr beschädigt. Was übrigens von weiten Teilen der deutschen Medien nicht angesprochen worden ist. Von mir schon.
Nigel Farage nannte bei seiner Rede im EU-Parlament am Dienstag die Dinge beim Namen:
You as a political project are in denial. You’re in denial that your currency is failing. Just look at the Mediterranean! As a policy to impose poverty on Greece and the Mediterranean you’ve done very well.
Es steht außer Frage, daß ich den Mann für ein aufgeblasenes Arschloch halte. Aber er hat dummerweise trotzdem recht an dem Punkt.
Meine Idee, meine Vision von Europa war immer ein Europa der Völker, kein Europa der Bürokraten. Nichts hinderte die Italiener daran, weiterhin deutsche Mannschaften im Fußball zu schlagen in meinem Europa. Nichts hinderte die Franzosen, daran zu glauben, sie seien die einzige Nation der Welt, die was vom Kochen versteht. Nichts hinderte uns Deutsche daran, ihnen zu beweisen, daß das falsch ist, weiterhin das beste Bier des Planeten zu brauen und dabei wieder alles besser zu wissen, wie es manchmal so unsere Art ist.
Nichts hinderte mich daran, in erster Linie ein Bewohner der Erde zu sein, dann ein Europäer und danach eben auch ein Deutscher in diesem Europa meiner Träume.
Stattdessen finde ich mich in den letzten Monaten in einem Albtraum wieder voller kleingeistiger Krämerseelen, in denen überall faschistische Pöbler etwas von der Auflösung nationaler Identitäten erzählen, wenn auch nur noch ein Ausländer mehr über die Grenzen kommt und womöglich sogar eine Religion dabei hat, die er ernst nimmt.
Es hat einen Grund, warum ich im letzten Sommer eine Todesanzeige für die Europäische Union gepostet habe.
Wie ich schon einmal erwähnte, ist einer der Faktoren der Langen Dämmerung eben auch die Auflösung bisheriger Gewissheiten, der Narrative, auf denen unsere Gesellschaft beruht. Was über kurz oder lang zwangsläufig zu sozialen Unruhen führen muß. Einer der Auflösungsaspekte ist es, daß die Zukunft politischer Großgebilde eine eher ungünstige ist, um es diplomatisch auszudrücken. Ich werde darauf noch zurückkommen. Eine Frage war für mich bisher immer, ob die energetischen, die finanzwirtschaftlichen oder die sozialen Aspekte der Langen Dämmerung sich zuerst offen manifestieren würden. Ich denke, diese Frage ist beantwortet, zumindest für Europa.
Keiner unserer jetzt Verantwortlichen hat auch nur ansatzweise eine Vision von Europa, die ich teilen könnte. Wenn gesichtlose Bürokraten und korrupte Lobbyisten wie Jean-Claude Juncker und Martin Schulz (ehemalige SPD) nach einem Ereignis wie diesem Referendum vor Kameras treten und verkünden, die Lösung gegen Europafrust sei eben noch mehr Europa, da müsse man jetzt zusammenrücken, klingt das in meinen Ohren wie eine Drohung. Und das ist es auch. Ein Europa, in dem eine intellektuelle und menschliche Tranfunzel wie Günther Oettinger mehr sein darf als der Fensterputzer des Parlaments oder der Eismann auf der anderen Straßenseite, ist ein Europa, das für seine durchschnittlichen Bewohner mehr Gefahr als Nutzen birgt.
Folgerichtig hat Juncker auch schon für weiteres Zusammenrücken gesorgt und gibt zu Protokoll, daß das Handelsabkommen CETA nicht von diesen lästigen nationalen Parlamenten abgesegnet werden braucht. Das geht auch ohne solche zeitraubenden Maßnahmen, alles reine EU-Sache. Natürlich hat die Empörung dann ein Dementi hervorgerufen, das einen tiefen Einblick gewährt in die Geistesstörung, die Typen wie Juncker mit sich herumtragen.
Denn – so seine Aussage – „inhaltlich habe niemand etwas an Ceta auszusetzen“, das habe er bei den Regierungschefs „individuell abgefragt“.
Diesen Satz muß man sich mal auf dem Großhirn zerschmelzen lassen. Und dieser Kerl, dem man kein gebrauchtes Auto abkaufen würde im realen Leben, fragt sich allen Ernstes, warum es Menschen gibt, die der EU nicht mehr vertrauen.
Europas Zukunft liegt in den Händen von schleimigen Widerlingen vom Schlage eines Jean-Claude Juncker. Dieses Europa hat keine Zukunft. Das ist auch gut so.
Während es also ein Boris Johnson nicht eilig hat und David Cameron verkündet, mal ab Oktober zurücktreten zu wollen, wird die Wolke des politischen Fallouts nach der Brexit-Implosion immer größer. Allen Ernstes scheinen die Parteipolitiker der britischen Tories zu glauben, der gesamte restliche Kontinent mit seinen 440 Millionen Menschen hätte nichts Besseres zu tun, als die nächsten Monate oder Jahre im wirtschaftlichen Nirwana zu schweben, bis sich dann vielleicht mal einer bequemt, neue Sonderkonditionen auszuhandeln, damit die Briten auch austreten. Sprich einer von Realitätsverlust im Endstadium.
London hat auch aktuell ein Referendum der Schotten über ihre Unabhängigkeit abgelehnt. Ich wette, es wird nur eine Frage kurzer Zeit sein, bis die schottische Regierung das mit einem herzhaften „Fuck you!“ in Richtung Westminster ignoriert und trotzdem abstimmt. Nimmt die EU-27 ein dann unabhängiges Schottland aber in die EU auf, haben wir einen Präzedenzfall für eine Abstimmung der Katalanen ohne Erlaubnis der Regierung in Madrid. All diese Entwicklungen zeichnen sich vor meinem geistigen Auge ab.
Das Europa, welches ich mir immer erhofft und erträumt hatte, ist nirgendwo zu finden in diesen Tagen. Ich sehe eine Horde arroganter, unklug handelnder, pompöser Bürokraten, die in ebenso gigantischen wie nutzlosen Palästen herumschwirren und Reden halten, die besagen, daß alles schön beim alten bleiben soll, obwohl längst nichts mehr beim alten ist und auch nicht länger sein kann.
Die Geister der europäischen Gründer sind mit den Exorzismen der Finanzwirtschaft aus den heiligen Hallen Europas ausgemerzt worden und alles, was übrig ist, ist die leere, ausblutende Hülle einer großen Idee.
Dafür erheben sich ganz andere Geister, oder besser, Ungeister, aus ihren nicht tief genug geschaufelten Gräbern und haben ihre eigene Kampagne der negativen Emotionen bereits begonnen, um ihre ganz eigene, sehr finstere Agenda zu realisieren.
Der Abstand zwischen der Kliffkante und dem Sturz, zwischen der Welle und dem Strand, hat sich in den letzten Jahren mehr und mehr verringert. Ich wußte ja, daß wir alle im Herz des Vulkans auf Lava laufen. Aber ich bin sehr bestürzt darüber, wie dünn die Kruste stellenweise doch ist, die uns von einer tödlichen Katastrophe trennt.
Die Grenzen des Wachstums zeigen unserer auf Endlosigkeit basierenden Wirtschaftsideologie in Form der Finanzkrise mehr und mehr ihre eigene Absurdität auf. Der Glaube vieler Menschen an das Dogma des ewigen, schmerzfreien Wachstums aller Dinge für alle Konsumenten dieses blauen Planeten ist zutiefst erschüttert oder verlorengegangen.
Vernichtende und demokratiefeindliche Sparmaßnahmen, dargebracht als Opfer an die Götter Effizienz und Fortschritt im Namen eben dieser sterbenden Ideologie, der Fallout des Arabischen Frühlings in Form der Migranten, die nach Europa drängen und auf der anderen Seite des Atlantik das häßliche Haupt des politischen Zerfalls in Form eines Donald Trump und seiner nicht weniger furchterregenden Gegenspielerin.
All diese Dinge haben in beachtlich kurzer Zeit die Grenzen durchbrochen und sind in das eingedrungen, was wir in unserer unendlichen Selbstverleugnung als „Normalität“ bezeichnen. All diese Dinge waren vorher völlig undenkbar. Die Entscheidung der Engländer, der EU den Rücken zu kehren, ist nur eine weitere Eskalationsstufe der Störungen in der allgemeinen Realität. Die Lange Dämmerung beginnt, deutliche Form anzunehmen.
Was immer die Zukunft bringen mag, sie wird sicherlich weitere Überraschungen bereithalten, und das bald. Nicht erst in zwanzig oder dreißig Jahren. Das Zerbrechen der Welt findet jetzt statt, es steht auf dem Tagesplan.
Ich habe keinerlei Vertrauen zur aktuellen Politik, in diesem Fall etwas zu retten, das des Rettens wert wäre. Aber ich bin auch nicht bereit, einfach aufzugeben. Die Feder ist mächtiger als das Schwert. Ein Schwert kann rosten. Es kann zerbrechen. Es kann stumpf werden und schartig. Eine Idee kann durch nichts vernichtet werden außer durch eine bessere Idee. Ideen sterben nicht.
Denn wenn das Europa einer Merkel, eines Juncker, eines Cameron oder Farage zerbricht, dann ist das zwar gefährlich, aber es ist auch eine Gelegenheit. Wir dürfen nur nicht zulassen, das es durch das Europa einer Petry, einer le Pen oder eines Höcke ersetzt wird. Denn dann wäre das Requiem vollendet und müßte gespielt werden. So lange mir noch Worte verbleiben, werde ich alle davon einsetzen, um das zu verhindern.
Ich habe diesen Artikel gerade erst angelesen (muss jetzt gleich arbeiten, kann also erst später weiterlesen 😉 ), aber ich glaube dieser stellt vielleicht doch endlich die „richtigen Fragen“, warum der Brexit stattfand!?
… und das in der zeit-online!?
Ich dachte trotzdem, ich geb den Artikel mal schnell durch 😉
http://www.zeit.de/2016/28/europaeische-union-brexit-europa-rueckbau/komplettansicht
PS: „Merkel“ als Drehgeschwindigkeitseinheit. Das hat mich sehr erheitert! 🙂
Ich erheitere gern 🙂
Denn wenn wir nicht drüber lachen, wird’s auch nicht lustiger (Urban Priol)
P.S.: soeben begonnen, den Artikel zu lesen. Nach drei Zeilen denke ich so „Gastbeitrag?“ Siehe da – es ist einer 😀
Die Gastbeiträge auf ZON sind durchaus oft von gehobener reflektiver Qualität.
Fand dies bisher einen der besten Beiträge im ganzen Blog! Kann fast jeden Satz unterschreiben. Danke.
Richtig traurig:
Politische Visionen und Ideen scheinen unter Generalverdacht zu stehen, zu einem (gern mit Epitheta wie „blind“, „gutmenschlerisch“, „unreflektiert“ garnierten) Ismus verführen zu wollen, und werden daher sehr gern prinzipiell abgelehnt. Zugleich verführen die real durchaus existierenden Ismen (natürlich Rass- und National-, aber auch in mehrerlei verhüllter Gestalt etwa Sex-, und immer und überall Negativ- und Pessim-) mit ihrer erschreckenden visionären Kurzsichtigkeit und zukunftsgerichteten Ideenlosigkeit zur totalen Ablehnung schon der bloßen Idee eines politischen Gestaltungswillens. Und auch sonst von eigentlich allem, was nicht ohnehin schon mit dem übereinstimmt, was halt jetzt gerade da ist.
Persönlich annähernd ähnlich traurig:
Ich war mal ein großer Europa-Enthusiast, in genau dem Sinne, den Du hier beschreibst (auch wenn ich so fünf bis zehn Jugendmannschaftsgenerationen jünger sein dürfte). Hat seinen ersten Knacks bekommen bei der unglaublich lächerlichen „Abmahnung“ an Österreich wegen Haiders Regierungsbeteiligung 2000, einen großen Riss im Zuge der planlos und dumm durchgezogenen Osterweiterung, und liegt nun im Angesicht von Themen wie Ukraine-Bürgerkrieg, NSA-„Affäre“ (besser: -Katastrophe), TTIP, Griechenlandvernichtung und halt Brexit endgültig in Trümmern.
Ja, Europa ist ganz schön in Trümmer gelegt worden von unseren Häuptlingen. Echt saubere Arbeit.
Und das ganze Gezeter über die -ismen kommt auch immer von Menschen, die von genauso falschen Voraussetzungen ausgehen wie die Politik. Als würden Sternchen und Unterstriche irgendwas an der Welt verbessern, ein Problem lösen oder gar wichtig sein. Letztendlich machen sie jeden Ansatz einer Vision runter, damit sie halt nichts tun müssen. Wenn einer nicht das perfekte Utopia aus der Schublade ziehen kann, können die Ideen ja nichts taugen.