Pyrrhus

Irgendwie fühle ich mich ja so, als wäre ich gestern abend endlich mit dieser wunderschönen Neunzehnjährigen in der Kiste gelandet, die ich schon seit Monaten angegraben habe. Was für eine Nacht. Und dann, als die Sonne sich über den Horizont erhebt und die Vögel einen nach dem Vögeln wachbrüllen, räkelt man sich gemütlich von einer Seite auf die andere, tastet auf der Matratze herum und findet – nichts. Die paarungswillige Schönheit, der man noch vor einigen Stunden lauter nette Sachen ins Ohr geflüstert hat, ist einfach weg.
Nun, ganz so romantisch ist das Verhältnis der EU zu Großbritannien nicht unbedingt gewesen. Obwohl Europa der hübschen Britin sehr wohl viele nette Sachen ins Ohr geflüstert hat in den letzten Wochen.
Aber zum einen ist das Königreich nicht mehr knackige neunzehn Jahre. Zum anderen war das eindeutig eine Beziehung für mehr als eine Nacht. Was den Grad des gegenseitigen Annörgelns angeht, ist Großbritannien eher ein Kandidat für eine Goldene Hochzeit gewesen als für einen One-Night-Stand. Der übrigens von den ungestümen Heranwachsenden heutzutage ONS abgekürzt wird im Zeitalter von Twitter, Jodel, Instagram und Facebook, wie ich unlängst erlernt habe.

Trotzdem fühle ich mich irgendwie verlassen. Heute morgen, die Auszählungen des Brexit-Referendums hatten gerade begonnen, kamen zuerst die Zahlen aus Gibraltar rein. Knappe vier Prozent der etwa zwanzigtausend Briten auf dem Affenfelsen hatten nicht für den Verbleib des Königreichs in der Europäischen Union gestimmt. Ein recht erwartbares Ergebnis. Dann folgten tröpfchenweise weitere Zahlen.
Einer dieser Tropfen war das Ergebnis aus Newcastle, das muß so gegen 01:30 gewesen sein heute morgen.  „Bremain“ hatte dort gewonnen, wie erwartet.
Aber nur mit 50,7 Prozent. Unerwartet.
Denn die Umfragen hatten eigentlich einen deutlichen Vorsprung für das Pro-EU-Lager angezeigt. Deutlich ist das nicht, wenn man mit schlappen 1,4 Prozenten vorn liegt.
Ich runzelte erstmals etwas die Stirn vor meinem Monitor. Dann kamen die Ergebnisse aus Sunderland. Mit etwas über 61 Prozent der erste Wahlkreis, in dem Brexit eindeutig die Nase vorn hatte. Sehr eindeutig. Das war schon eine Charles-de-Gaulle-Nase. In diesem Moment lag damit „Brexit“ erstmals in Führung.
Meine Stirnfalten vertieften sich, aber da lag die Auszählung gerade mal bei etwas über zwei Prozenten. Das ist viel zu wenig, um bereits feste Tendenzen zu extrapolieren. Statt also schlafen zu gehen, entschloß ich mich fürs Wachbleiben. So lange, bis eine Tendenz erkennbar war, nahm ich mir vor.

Nach Wochen des Grübelns hatte ich persönlich beschlossen, daß die alten Pfefferminzsaucenanbeter auf der Insel doch nicht völlig bescheuert sein konnten. Im Gegensatz zur Kassandra der Antike kann ich mich nicht hinter vagen Formulierungen verstecken, denn erstens würde das massiven illegalen Drogenkonsum erfordern und zweitens habe ich ja nicht Ökonomie oder so was studiert. Also hatte ich klipp und klar verkündet, daß die Briten bleiben würden.
Die ersten Hinweise zur Wahlbeteiligung waren ebenfalls sehr deutlich: Viele Briten hatten ihre Stimme abgegeben. Ein Aspekt, von dem ich erwartete, er würde die Remain-Seite bevorzugen.

Es wurde drei Uhr morgens, als auf der Seite des Daily Telegraph der Auszählungsbalken auf 8,4 Prozent vorrückte. Und „Leave“ auf mehr als 54 Prozent. Das war der Moment, in dem ich erstmals ein seltsames Gefühl bekam. Also länger wachbleiben, es half nichts. An Schlaf war ohnehin nicht zu denken, dazu bin ich eine politisch zu interessierte Kassandra.
Gegen vier Uhr morgens kam das nächste Update: Auszählungsstand 9,7 Prozent, Leave jetzt bei 53,7. Also in Führung, aber sinkend.

0070-01 BREXIT oder

Webseite des Daily Telegraph am heutigen Morgen um 03:05 Uhr.
Leave war deutlich in Führung gegangen, aber begann danach, in den Prozenten abzusinken. Für mich ein Zeichen, daß Remain am Ende doch knapp siegen würde. Ein Irrtum.

Zwischenzeitlich hatten die Live-Ticker schon von einem Mann namens John Curtice von der University of Strathclyde in Glasgow berichtet. Der ist nicht nur Professor, sondern wohl auch so etwas wie Großbritanniens führender Umfragespezialist. Nativ ist er Politikwissenschaftler und brilliert vor allem in der Erforschung von Wahlverhalten. Also quasi eine Kassandra, die gut ist in Statistik, vermute ich.
Curtice sagte, daß nach den ersten Ergebnissen ein Sieg der EU-Gegner am wahrscheinlichsten sei. Ich ignorierte diese frühe Weissagung geflissentlich, als ich mich entschloß, die sinkenden Zahlen für das Leave-Lager als gutes Zeichen zu nehmen und endlich mal mein Bett aufzusuchen. Immerhin fehlten da noch die ganzen Nordiren und Schotten und Waliser, von denen ich als sicher annahm, daß sie für Europa stimmen würden.
Also ein paar Stunden Schlaf, mein übliches Erwachen – allein selbstverständlich, denn die wunderschöne Neunzehnjährige ist natürlich rein metaphorisch – und sofort mal die digitalen News angeworfen, die, da war ich sicher, einen Sieg für Remain verkünden würden. Was nicht der Fall war, wie ich einige Sekunden später ungläubig feststellen mußte. Was um alles in der Welt war da passiert in meiner Abwesenheit?

Sie haben es getan. Sie haben wirklich für „Leave“ gestimmt. England ist raus. Ich bin noch etwas erschüttert, muß ich gestehen. Natürlich war das auf rationaler Ebene immer möglich. Aber rein emotional habe ich selber das nicht glauben wollen.

Daily Mirror/ Frontpage/ Brexit

Titelseite des Daily Mirror am heutigen Tag.
Ausnahmsweise übertreibt das elende Blatt nicht, wenn es oben rechts behauptet, diese Ausgabe sei historisch. Heute ist tatsächlich ein geschichtsträchtiger Tag.

Historische Ereignisse sind oft unauffällig, wie ich schon einmal irgendwo anders erwähnt habe.
Dieser Freitag ist nicht unauffällig und wird politisch auf jeden Fall ein sehr heißer Tag werden. Ich ahne Wochenendarbeit in Brüssel, Berlin und London voraus. Nigel Farage, der Anführer der nationalistischen UKIP, jubelte dann in den frühen Morgenstunden doch über den Sieg seiner Seite.
David Cameron, der jetzt womöglich als der Mann in die Geschichte eingehen wird, der sich ausgerechnet in der europäischen Pulverkammer die Zigarre anstecken mußte, verkündet just in dem Moment, in dem ich das hier schreibe, seinen Rücktritt als Premierminister.  Allerdings spricht er auch davon, sein Amt im Herbst beim großen PowWow der Konservativen an einen Nachfolger zu übergeben.
Das halte ich aufgrund der völligen Zerrissenheit der Tories in der englischen Politik für illusorisch. Ich ahne hier Neuwahlen auf nationaler Ebene voraus, ausgelöst von einer massiven Regierungskrise.

Das Referendum hinterläßt Chaos in seinem Kielwasser, denn so ziemlich alle haben das Ergebnis nicht vorhergesehen.

Die Queen hat bisher noch nichts dazu gesagt. Während aus dem Börsenindex FTSE gerade 1000 Milliarden Pfund verdampfen und der DAX mit knapp 900 Punkten in den Miesen eröffnet, fällt das Pfund auf den tiefsten Stand seit 1985. Mark Carney, der vermutlich nicht allzu vielen bekannte Chef der Bank of England, sagt, daß die Bank „nicht zögern“ werde, um die Märkte zu stabilisieren.
Und die Königin frühstückt, vermute ich. Immerhin ist sie schon 64 Jahre im Amt, da hat man so manchen Premier kommen und gehen sehen und eine EU gab es damals, als Lizzy den Thron bestieg, auch nirgendwo.

Teilweise entspricht das Referendum den Vorhersagen, die ich gemacht hatte. Schottland und Nordirland haben mehr oder weniger geschlossen für einen Verbleib in der EU gestimmt. Allerdings hat sich Wales dann doch deutlich dagegen entschieden. Gut, das ist natürlich schon eine Gegend, in der die ökonomischen Bedingungen eher dafür sprechen, sich dem Leave-Lager anzuschließen. Aber ich hatte die Waliser eigentlich für vernünftiger gehalten.
Das jetzt nicht die EU schuld ist am Niedergang des britischen Kohlebergbaus und der Stahlindustrie, sondern eine Frau namens Margaret Thatcher, hatte ich für recht offensichtlich gehalten. Im Grunde stellte das Referendum ja die allseits berühmte Frage: Was haben die Römer je für uns getan?“
Abgesehen von medizinischer Versorgung, dem Aquädukt, dem Schulwesen, Wein und anderen Dingen war in Sachen Europa wohl nicht besonders viel dabei, um die Waliser zu überzeugen.
Ich stelle für mich selber fest, daß das Frustrationslevel einer Wahlbevölkerung nur hoch genug sein muß, um für jeden Blödsinn zu stimmen, wenn denn nur einer vorbeikommt und irgendwen anders zum Sündenbock erklärt.
Natürlich war mir dieser psychologische Fakt schon vorher bekannt, aber ich habe seine mögliche Ausprägung ganz eindeutig unterschätzt.
Wie ich schon erwähnte, war die Brexit-Kampagne am Ende ja nichts weiter als wüstes Herumwerfen mit emotional besetzten Parolen. „Snarl words“ nennt man das im Englischen. Die böse EU, regiert von den Dämonen in Brüssel, war für alles verantwortlich, von sinkenden Fangquoten britischer Fischer bis hin zum typisch englischen Sommerwetter, das gestern diverse U-Bahnen unter Wasser setzte.
Hätten sich die Corgies der Queen erkältet oder Prinz Charles ein Ohr verstaucht, auch das wäre die Schuld der Brüsseler Blutsauger gewesen.
Mit dieser Methode schafft man es, eben keine Sachfrage zu besprechen. Wie beispielsweise, was die Römer denn für einen getan haben. Stattdessen wird die Diskussion auf eine rein emotionale Ebene verlagert. Da Darth Vader, hier Luke Skywalker. Wähle dein Schwert. Massenpsychologie ist manchmal so simpel. Und effektiver, als ich erwartet hatte.

Womit ich ebenfalls recht hatte – was aber nicht so schwierig war in der Vorhersage – ist der Fakt, daß die Wähler um so mehr für ein Verlassen der EU gestimmt haben, je älter sie waren. Bereits in der Altersgruppe ab vierzig Jahren liegt das Lager der Brexiter leicht vorne. Ich hätte das erst bei den über 50jährigen geschätzt.
Ich gestehe, daß ich nicht ausführlich genug war in meinem letzten Artikel. Es ging – und geht – bei diesem Referendum nicht nur um Arm und Reich, um die Gewinner und Verlierer von Globalisierung. Es geht auch um die Alten gegen die Jungen. Wobei „alt“ hier noch etwas relativ ist.
Aber insgesamt haben die Älteren hier für eine Zukunft gestimmt, die sich an ihrer Vergangenheit orientiert und die die Jungen nicht haben wollen. Und das zu Recht, denn die Vergangenheit kommt auf keinen Fall wieder. Für so schlau hätte ich Menschen über 60 allemal gehalten. So kann man sich irren.
Ich hatte diesen Aspekt der nostalgischen Sehnsucht nach einer Zeit, die es so nie gab und die man nicht wieder zurückholen kann, bereits an anderen Stellen erwähnt. Oft auch in Zusammenhang mit einer Partei namens AfD.
Der Grund für die Stärke solcher Deppen-Nostalgie liegt für mich klar auf der Hand. Vor dreißig oder wahlweise auch fünfzig Jahren war man selbst vor allem um diesen Zeitraum jünger. Vor einem Vierteljahrhundert hätte ich diese Wahlnacht durch gesoffen und trotzdem noch die wunderhübsche Neunzehnjährige gevögelt, ohne mich am nächsten Morgen wie gerädert zu fühlen von zu wenig Schlaf. Aber ich würde diese Tatsache niemals zur Grundlage einer wichtigen politischen Entscheidung erheben wollen.

Die Folgen der englischen Entscheidung sind nicht absehbar. Das Pfund wiegt aktuell nur noch 380 Gramm, die gesamte europäische Politik ist in heller Aufregung, Frau Bundeskanzlerin hat in einer sehr blutleeren Rede davon gesprochen, daß Europa das schon irgendwie überstehen wird.
Da kommt es allerdings sehr darauf an, welches Europa sie da so im Sinn hat. Die Vertreter der Neuen Rechten, Geert Wilders in den Niederlanden, Marine le Pen in Frankreich und die Pöbel-Adlige Beatrix von Storch von der AfD – sie alle haben sich jubelnd zum Ergebnis geäußert und sehen allesamt ihren ebenfalls ausländerfeindlichen Sündenbock-Kurs bestätigt. Ruft man sich in Erinnerung, daß 2017 in Frankreich gewählt wird, kann einem schwindlig werden. Ein Sieg der Front National, eine Präsidentin le Pen, die dann womöglich ein Referendum startet – das sind Zukunftsaussichten, auf die ich getrost verzichten kann. In einer erst zwei Wochen alten Befragung ist die französische Zustimmung zur EU binnen eines Jahres um satte siebzehn Prozent gefallen und liegt jetzt gerade mal noch bei knappen vierzig Prozent.

Der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz (ehemalige SPD) verkündete dann auch gleich, es werde „gar keine Kettenreaktion geben“ und man müsse jetzt „so schnell wie möglich“ die Einzelheiten des Ausstiegs klären.
Da hat aber schon Boris Johnson die Hand gehoben, der innenpolitische Gegner von David Cameron. Der hat es nämlich plötzlich gar nicht mehr so eilig, dem Referendum auch politische Maßnahmen folgen zu lassen. Alles mal ganz in Ruhe. Ich schätze, da hat er nicht mit Herrn Schäuble gerechnet. Ich wette darauf, daß der fiskalische Streitwagen ihrer Majestät, Angela der Alternativlosen, bereits jetzt einen Plan aus irgendeiner schwarzen Ecke seines Büroschreibtisches zieht, der diverse Punkte umfaßt, das Königreich möglichst umfassend für seine Impertinenz büßen zu lassen. Insgesamt geht der Tenor nach dem Referendum auf Wir respektieren die Entscheidung und erwarten schnellstmögliche Umsetzung“.
Überhaupt hatten die EU-Granden ja im bereits Vorfeld angekündigt, daß man dem Vereinten Königreich keinesfalls großzügig entgegenkommen werde bei einer negativen Entscheidung. Denn natürlich möchten die Brüssler Oberhäuptlinge anderen Staaten keinen Anreiz geben, ihrerseits über einen weiteren Verbleib in der EU abzustimmen. Die Leave-Kampagne hatte ja quasi behauptet, daß England die Union verlassen kann, um dann anschließend in aller Ruhe trotzdem weiter zu verhandeln, während man alle Vorteile des Binnenmarktes genießt.
Das ist ganz offensichtlicher Schwachsinn, aber es sind genug Leute drauf reingefallen.

Im Gegensatz zum Motto der Leave-Kampagne „Take back control“ wird die Sache nicht ruhiger werden. Die Fliehkräfte, die Europa schon länger in seinen Verstrebungen knirschen lassen, nehmen ausgerechnet in der drittgrößten europäischen Volkswirtschaft erstmalig kritisches Ausmaß an.
Nordirland und Schottland haben bereits angekündigt, in der EU bleiben zu wollen. Was natürlich nur dann realistisch ist, wenn sie nicht mehr Teil des Vereinigten Königreichs sind.
In Schottland ist schon von einem zweiten Referendum die Rede. Die amtierende Erste Ministerin Nicola Sturgeon, hatte in ihrem Wahlprogramm versprochen, den Schotten ein zweites Referendum zu ermöglichen, wenn sich die politische Situation des Landes „deutlich ändern“ sollte. Ich denke, exakt das kann man wohl als gegeben annehmen. Wobei natürlich auch hier interner Streit vorprogrammiert ist.
Die SNP, die Scotish National Party, die gerade von einem massiven Korruptionsskandal erschüttert wird, dürfte durch das englische Brexit-Votum massiv Aufwind bekommen. Aber sie zerfällt in unterschiedliche Fraktionen. Die einen wollen schnell abstimmen, die anderen wollen sich Zeit lassen, eine dritte Gruppe möchte weder mit der EU noch mit England was zu tun haben. Allerdings dürften diese Jungs chancenlos sein.
In Nordirland ist es der stellvertretende Erste Minister, ein Herr namens Martin McGuiness, der dafür plädiert, mal über eine Wiedervereinigung der Republik Irland mit Nordirland abstimmen zu lassen. Und zwar am besten jetzt. Er trifft dabei auf den Widerspruch seiner Vorgesetzten, die davon nicht begeistert ist. Aber eine Diskussion wird sich auch in Nordirland nicht einfach so vom Tisch wischen lassen. Denn ansonsten müßte man hier die Grenze zwischen Irland und Irland bald dichtmachen, denn es wäre dann ja eine Außengrenze der EU.
Die Schockwellen des politischen Bebens laufen also bereits durch das bald womöglich nicht mehr ganz so Vereinigte Königreich.

Ob Europa, Großbritannien oder konservative Parteien – von Union kann aktuell keine Rede sein.

In Spanien sprach sich der Außenminister dafür aus, Gibraltar so bald wie möglich an Spanien anzuschließen, nach einer Periode „gemeinsamer Verwaltung“.
Das ist dasselbe Spanien, in dem jetzt demnächst neu gewählt wird, beim letzten Mal hat das mit der Regierungsbildung ja nicht so geklappt, wir erinnern uns.
Es ist auch das Spanien, in dem Katalonien durchaus gerne unabhängig werden möchte. Unter anderem geht es bei den neuen linken Parteien in der Innenpolitik genau darum.
Wenn das so weitergeht in diesem Europa, dann reiten demnächst katalanische Brigaden nach Gibraltar. Oder Barcelona wird dann von spanischen Royalisten belagert. Im Moment scheint mir auf dem Kontinent nichts mehr unmöglich. Von einer Entwicklung zum Besseren mal abgesehen.
England den dummen Felsen von Gibraltar abluchsen zu wollen ist übrigens etwa so, als wolle man die historischen Verbindungen zwischen Kiew und Moskau völlig ignorieren. Die politischen Folgen wären womöglich unangenehm. Aber da müssen wir wohl auf die Besonnenheit europäischer Politiker vertrauen.

Statt seine Partei zu vereinen, hat David Cameron nichts weiter getan, als ihre Spaltung für alle offenbar zu machen. Ebenso werden die tiefen Gräben innerhalb der britischen Gesellschaft deutlich sichtbar, die viele der Gewinner der Globalisierung nicht wahrhaben wollten.
Die Tories sind damit in bester Gesellschaft. Donald Trump, der gerade in Schottland einen weiteren Golfplatz einweiht und das Ergebnis des Referendums ausdrücklich als „Zurückgewinnen von Freiheit“ bezeichnet hat, könnte in vier Wochen dumm aus der Wäsche gucken, wenn die Republikaner doch noch einen anderen Kandidaten aus dem Hut ziehen auf ihrem Nominierungskonvent. Tun sie das wirklich, wird es die Partei zerreißen. Tun sie es nicht, zerreißt es sie ebenfalls.
Ähnliches steht den Konservativen in England bevor, da bin ich mir sicher. Immerhin haben sich Johnson und Cameron im Brexit-Wahlkampf bis aufs Blut bekämpft. Einen einfachen Übergang zur Tagesordnung halte ich da für unwahrscheinlich.

Auch in Deutschland sieht es nicht anders aus. Durch die Konkurrenz der AfD sieht die CSU plötzlich schlecht aus, die bisher immer die bessere AfD gewesen ist. Deshalb ist sie sauer auf die große Schwester und beide zanken sich ohne Unterlaß. Die „Unionsparteien“ im Deutschen Bundestag sind alles andere als eine Union.
In allen Ländern der EU-27 zieht sich ein tiefer Riß durch die Gesellschaft. In Polen wollen die Rechtskonservativen das Land in eine Art katholischen Präsidialstaat verwandeln, aber da spielt ein guter Teil der Polen nicht mit.
In Deutschland wird immer Menschlichkeit gepredigt, aber windige Deals mit der Türkei abgeschlossen, während andere Länder von Merkel, Steinmeier und Co. dafür kritisiert werden, daß sie Grenzen schließen. Konsistente Politik ist was anderes.
Auf europäischer Ebene möchte man die Engländer jetzt schnell abwickeln, aber die müßten ja erstmal ihr Parlament befragen. Denn das müßte das Ergebnis des Referendums anerkennen. Tut es das nicht, ist es sein gutes Recht. Allerdings möchte ich dann nicht in der Haut der Abgeordneten stecken. Ganz besonders nicht, wenn die Anhänger von UKIP und die Brexit-Wähler wieder was von Demokratie erzählen auf den öffentlichen Plätzen.

Der Frieden in Europa, der seit nunmehr sieben Jahrzehnten anhält, ist eine Folge des furchtbarsten Blutvergießens der Menschheitsgeschichte in seinem Vorfeld.
Eine der größten, wenn nicht die größte politische Leistung des 20. Jahrhunderts, ist dabei, in Trümmer zu zerfallen.
Doch eben diese Leistung wird durch die Politik der letzten knapp zwei Jahrzehnte massiv gefährdet, auch und gerade von einer Generation Politiker, die nichts Besseres zu tun haben, als weiterhin Oben gegen Unten auszuspielen in ihren jeweiligen Ländern, um so ihren eigenen Machterhalt zu sichern. Politiker, denen der Frieden in Europa nicht mehr so wichtig zu sein scheint.
Auch die Politik der USA spielt hier mit hinein, dies nur am Rande. Schon hat der NATO-Generalsekretär heute verkündet, daß die Antwort auf einen Brexit nur eine Stärkung des Militärbündnisses sein könne. Der militärische Chef dieses längst überlebten Bündnisses ist immer ein General der US-Streitkräfte.
Ich hätte auch gerne ein geeinigtes Europa. Aber das existiert nicht. Sehr bald werden die Polen und Ungarn anfangen, einen neuen Eisernen Vorhang zu errichten. Nur diesmal nach Osten und Westen. Länder wie diese wehren sich gegen Ideen von Freiheitlichkeit, in deren Geist sie niemals sozialisiert worden sind. In Deutschland wehren sich pöbelnde antisoziale Brandstifter gegen schlichte Menschlichkeit, während die Bevölkerung, die ihren Verstand noch halbwegs beisammen hat, alternativlosen Kontrollverlust als politische Lösung serviert bekommt.
Die Antwort auf das haßerfüllte Pöbeln der Nationalisten ist überall die Übernahme nationalistischer Politik durch die Regierungen.

Die Folgen derartig verfehlter Politik werden in diesen Tagen offensichtlich und die Europäer müßten wählen, in welche Zukunft sie gehen wollen. Aber das können wir gar nicht, den diese Entscheidungen werden woanders getroffen, ohne großartig nachzufragen. Aktuell haben die sechs Gründungsstaaten der EU ein Treffen in Berlin anberaumt. Für den morgigen Samstag. Ausgerechnet in der deutschen Hauptstadt. Dabei wollte die UKIP die Briten doch von den so dominanten Deutschen in der EU befreien. Ich denke nicht, daß der Brexit da die wirklich kluge Lösung gewesen ist.
Im Internet haben inzwischen 46.000 Menschen ernsthaft eine Petition unterzeichnet, die den Bürgermeister Londons auffordert, die britische Hauptstadt für unabhängig zu erklären und ihren Beitritt zur EU in Angriff zu nehmen.

Und während also morgen die Deutschen mit den Belgiern, Luxemburgern, Niederländern, Franzosen und Italienern tagen, beschwert sich der Präsident der Esten darüber, daß das wohl wenig zielführend sein könne in einer Union aus 27 Staaten. Womit er nicht völlig unrecht hat.
Die Zukunft Europas wird keine Zukunft der Einigkeit sein, fürchte ich. Noch mehr solcher Siege, und Europa ist verloren.

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