Nun steht er also vor der Tür, der sogenannte Brexit.
Nachdem Premier Cameron sich vor einer Weile mit seinem großspurigen Versprechen an das Volk aus dem Fenster gelehnt hatte, er werde die Europäische Union persönlich reformieren oder die Briten könnten über den Verbleib in der EU abstimmen, ist es morgen wirklich soweit. Denn natürlich hatte die EU bisher eindeutig das größere Beharrungsvermögen.
Und seit Wochen schreien deutsche Medien: „Geht nicht! Was sollen wir ohne euch machen!?“
Manche Zeitungen entblöden sich nicht, widerwärtige Herzchen hinter ihr Logo zu setzen und das gleich noch mit einem Union Jack, der britischen Flagge, zu verzieren, damit auch jeder, wirklich jeder, selbst bei flüchtigem Besuch der Webseite ganz klar erkennen kann, daß die Briten jetzt aber bitte doch endlich bleiben müssen – denn wie könnte man sich von derartig viel Schmalz nicht überreden lassen?
Wobei dieser ganze Mist bei mir ja eindeutig eher Brechreiz auslöst als alles andere. Die Erbsenpistole der Demokratie, der Spiegel, hat sich noch tiefer ins emotionale Bällebad des Arschkriechens gestürzt und gleich die ganze letzte Ausgabe in zwei Sprachen gebracht, nämlich auch auf Englisch. Auch online wurde jeder noch so dümmliche Artikelfurz bezüglich des britischen Referendums ins Englische übersetzt. Dabei gibt es genug Beispiele dafür, daß Spiegel-Journalisten nicht einmal die deutsche Muttersprache unfallfrei beherrschen und diese Hinweise häufen sich in den letzten Jahren deutlich, übrigens nicht nur in dieser einen Nachrichtenredaktion. Bologna- und Rechtschreibreformen sei es gedankt.
Aber worum geht es eigentlich?
Warum regen sich alle auf über eine Abstimmung auf dieser Insel da oben im Nordwesten, die politisch gesehen als „Vereintes Königreich Großbritannien und Nordirland“ firmiert?
Warum dieses Rumgeschreie über ein Land, das weder Mitglied des Schengenraums ist, noch jemals den Euro eingeführt hat oder das eventuell plant und in dem der Straßenverkehr auf der falschen Seite verläuft?
Im großen Resteuropa kann man problemlos mit nichts als einem normalen Ausweis in der Tasche über die Grenzen fahren. Ich zum Beispiel, vor einiger Zeit, nach Frankreich rüber, das ist von meiner Wohnposition nicht superweit entfernt. Ich konnte da auch mit demselben Geld bezahlen, das ich ohnehin dabei hatte, was durchaus bequem ist.
Die dortigen Landesbewohner sprachen auch durchaus mal Deutsch, was ich sehr praktisch finde. Denn traditonsgemäß sprechen Franzosen niemals Englisch, wenn sie nicht zufällig Richtung Kanalküste leben, also in Belgien oder so. Und dummerweise habe ich den Fehler gemacht, in der Schule dem Erlernen des Lateinischen zu frönen, weil mir das Französische mit seinen Akzenten und sonstigen variablen Emoticons über den Buchstaben irgendwie verdächtig erschien. Da kannte ich die lateinische Grammatik ja noch nicht näher.
Ich bin heute dadurch in der Lage, deutlich gesprochenes Französisch zu interpretieren, kann allerdings nicht darauf antworten. Ein geistiger Quervergleich mit Latein und Englisch ermöglicht mir das in meinem Kopf, es leben die romanischen Sprachen.
In England, oder vielmehr, Großbritannien, wäre das völlig unmöglich. Denn natürlich gehen diese Menschen davon aus, daß jeder auf diesem Planeten Englisch spricht und versteht. Warum sollte man sich also die Mühe machen, eine Fremdsprache zu erlernen?
Das der Straßenverkehr als Auswärtiger extrem tödlich ist, weil man natürlich in angelernten Instinkten sehr oft in die falsche Richtung sieht beim Betreten einer Straße, ist auch nur ein Problem der „Kontinentalen“, wie die Briten einen wie mich ja gerne mal nennen.
Das es im ganzen Vereinigten Königreich kein ordentliches Brot gibt, das nicht von einem deutschen Bäcker stammt, daß das Bier zwar durchaus mal lecker ist, aber immer die falsche Temperatur hat, daß man tatsächlich immer noch ein ziemlich gruseliges „Frühstück“ serviert bekommen kann auf dieser Insel im Nordwesten, wenn man nicht sorgfältig aufpaßt – all das ist den Briten völlig egal.
Nein, ein guter Teil dieser Menschen ist trotz dieser deutlichen Anzeichen nationaler Besonderheiten fest davon überzeugt, daß die EU ein Monster ist, das die Inselwelt mit lauter Ausländern überschwemmen möchte, um so den Briten ihre Identität zu nehmen.
Eine Nation, auf deren Thron eine Frau aus dem Hause Sachsen-Coburg und Gotha sitzt und das liebenswert schrullige Völkchen der Engländer seit 64 Jahren mit monarchischer Hingabe betreut, fürchtet sich vor Einwanderern und ihrem sicherlich schädlichen kulturellen Einfluß.
Während sich ein Premierminister nach dem anderen seit vierzig Jahren darüber beschwert, die Europäer würden die Einzigartigkeit der Insulaner, die „britishness“ nie richtig zu würdigen wissen, wird jetzt tatsächlich in diesem Land des Pfunds, der Meilen, der Gallonen, des Quadratfußes und des Zolls darüber abgestimmt, sich „das eigene Land zurückzuholen“. So zumindest einer der Slogans der „Leave“-Kampagne, die die Briten überreden möchte, aus der EU auszutreten.
Nach meiner Ansicht sind die Briten ohnehin seit vierzig Jahren nur Mitglied des Clubs, um immer wieder über die Hausordnung zu stänkern und für sich Sonderregelungen zu erstreiten – die britishness, siewissenschon.
Als ich geboren wurde, waren diese Jungs noch nicht einmal Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG, einem Vorläufer der heutigen Union, aus der man jetzt austreten möchte, weil die anderen Kinder auf dem Spielplatz einem nicht genug Gelegenheiten gegeben haben, sich mit speziellen Spezialausnahmen für das eigene Volk abzugrenzen.
Spontan fällt mir das Wort „Integrationsunwilligkeit“ dazu ein.
Was wäre eigentlich daran so furchtbar, wenn dieser Queen-Lizzy-Themenpark im Nordwesten Europas die gemeinsame Union verließe?
Folgt man der „Remain“-Kampagne oder der deutschen Presselandschaft, steht mindestens das Ende der Welt bevor. Das Ungeheuer von Loch Ness und seine Kinder werden die Welt überfallen und alles verschlingen, was Generationen von Menschen in Großbritannien – und außerhalb – in den letzten 5.000 Jahren aufgebaut haben. Mindestens.
Wenn ich allerdings sehe, daß die Londoner Finanzwelt, die Banken und auch der IWF lautstark dafür trommeln, die Briten mögen doch bleiben, muß ich mich ernsthaft fragen, ob man denn noch mehr Argumente braucht, um so schnell wie möglich vor diesen Typen abzuhauen. Das sagen übrigens auch die Brexiter, wie die Vertreter des „leave“ inzwischen heißen. Und das ist durchaus nicht von der Hand zu weisen, wenn man sich ansieht, welchen Flurschaden die genannten Institutionen schon angerichtet haben in den letzten Jahren. Allerdings hat das nicht zwingend mit der EU zu tun.
Brexit und Bremain bewerfen sich nicht mehr mit Argumenten. Nur noch mit Emotionen. Meistens negativen.
Was also würde sich aus meiner Sicht ändern, wenn Großbritannien ab Freitag, dem 24. Juni 2016, nicht mehr Mitglied der Europäischen Union sein möchte?
Ich müßte bei einem Besuch in diesem Land vorher Geld umtauschen, zu einem bestimmten Wechselkurs. So wie jetzt auch. Es gäbe auch weiterhin Handel zwischen der Insel und dem Kontinent, da bin ich mir sicher.
Die gesamte „Remain“-Kampagne tut so, als würden augenblicklich sämtliche Warenströme zwischen Großbritannien und der EU zum Erliegen kommen, sollte die Gegenseite gewinnen. Was übrigens der gleiche Tenor ist, den auch die verzweifelten TTIP-Durchpeitscher in der europäischen Politik benutzen an dieser Stelle. Ohne diesen sogenannten Handelsvertrag wird die Apokalypse über uns hereinbrechen, auf jeden Fall. Und selbstverständlich wird BMW kein einziges Auto mehr verkaufen in Großbritannien, sollte der Brexit wahr werden. Wie sich europäische Politiker mit dümmlichen Schreckensszenarien überboten haben in den letzten Wochen, ist schon kaum noch zu ertragen. Da kriegt man Kleinhirnschrumpfung beim Zuhören.
Eigentlich würde sich für mich erst einmal genau gar nichts ändern.
Für Großbritannien auch nicht. Denn was die bösen Ausländer angeht, vor denen sich die Brexiter so fürchten: Die liegen dem Sozialstaat schon jetzt nicht auf der Tasche, da London ihnen die Leistungen verweigern oder kürzen kann. Was auch für EU-Ausländer gilt. Was wiederum das Ergebnis einer dieser Sonderregelungen ist, mit denen die EU die Engländer so gar nicht anerkennt und in ihrer Einzigartigkeit unterdrückt.
Auch die „Leave“-Befürworter scheinen mir geistig recht verwirrt zu sein. Da wird allen Ernstes behauptet, die EU sei schuld daran, daß britische Fischer in ihren Hausgewässern nichts mehr fangen und als Vergleich die 60er Jahre herangezogen.
Das man seitdem die Nordsee in einen öligen Brackwassertümpel verwandelt hat und natürlich eventuell auch einfach mal die Bestände vor der eigenen Haustür massiv überfischt, kommt den Wortführern der „Leave“-Kampagne nicht über die Lippen.
Die Remainer wiederum prophezeien fröhlich den ökonomischen Untergang und malen den in gruseligsten Farben. Von vernichteten Arbeitsplätzen ist da die Rede und Rezession. Als hätten die EU-Mitglieder Irland, Spanien, Griechenland und Italien davon nicht auch schon genug. Drinbleiben schützt also keinesfalls vor schwacher Wirtschaft.
Die Brexiter halten dagegen, daß man das alles kompensieren könne, man müsse halt nur mit anderen Leuten handeln, nicht immer nur mit der EU. Den Chinesen beispielsweise. Und ansonsten würde man einfach mal den Markt deregulieren, wenn die Brüssler Bürokratie endlich besiegt ist. Diese lästigen Umweltschutzregelungen und ähnliches bürokratisches Teufelszeug sind hinderlich für eine freie Entfaltung der Wirtschaft, die müssen weg.
Ich frage mich an der Stelle immer, womit die Briten eigentlich handeln wollten?
Mit Autos wie Rover und Jaguar? Beide Firmen gehören entweder komplett oder mehrheitlich inzwischen längst Tata Motors, das ist der größte Autofabrikant in Indien. Also einer ehemaligen Kronkolonie.
Die Deregulierung der Brexiter läuft darauf hinaus, neben den Umweltauflagen so ziemlich alle Arbeitsschutzmaßnahmen und auch Mindestlöhne zu killen, die man auf Geheiß der EU eingeführt hat in den letzten Jahrzehnten. Deshalb verkauft sich diese Kampagne auch als Freund des kleinen Mannes. Mr und Mrs Smith, sozusagen.
Und die Leute glauben das tatsächlich, was wiederum zeigt, daß der durchschnittliche Brite im Blaumann ebenso anfällig ist für die einfachen politischen Lösungen komplexer Probleme wie der deutsche Protestwähler aus dem Vorpommerschen. Da kann man die AfD fragen, die haben ein ganz ähnliches Programm und verkaufen sich auch als Retter des Sozialsstaates und Freund der Mindestlöhner in Deutschland.
Was bliebe also sonst noch, um die derzeit eher vor sich hin hinkende britische Wirtschaft zu stärken? Wildschwein, gekocht und in Pfefferminzsauce? Oder eventuell der berühmte englische Tee?
Da wäre meine schlechte Nachricht an alle Briten: Es gibt gar keinen englischen Tee. Erstmal hat die „britishness“ aus diesem leckeren Zeug durch völlig barbarisches Hinzufügen von Milch die Parodie eines Getränks geschaffen, das etwa wie Kanalwasser schmeckt. Erst dann erhob man den völlig unbritischen Tee zum Nationalgetränk, um damit psychologisch die Größe des Empire zu preisen und sich selber etwas zu quälen, wie es die britische Volksseele gerne zu tun scheint.
Und zum Zweiten wächst auf den britischen Inseln gar kein Tee. Der kommt aus Indien. Oder China. Oder Japan. Auch eine Insel, aber eben eindeutig nicht britisch. Oder Mitglied der EU. Der einzige Ort in Europa, an dem nativ Tee wächst, sind meines Wissens die Azoren und die gehören zu Portugal.
Die einen tun also so, als würde die Welt sofort aufhören, sich zu drehen. Die anderen schwärmen davon, wie Großbritannien mit der Macht seiner Produktionsindustrie sein altes Empire wiederbelebt und zur Führungsnation der Welt aufsteigt. Das die so betonte „britishness“ sich aktuell darin erschöpft, ein eher dubioser Überwachungsstaat von global eher mittlerer Bedeutung zu sein, wollen beide Seiten nicht einsehen.
Dieses ganze Gezeter mit dem Brexit, seien jetzt Leute dafür oder dagegen, hat längst den Stand einer rationalen Diskussion über Vor- und Nachteile einer Abstimmung hinter sich gelassen. Man bewirft sich gegenseitig ausschließlich mit emotionalen Parolen. Die Gute Alte Zeit™ nach der sich die rechtslastigen Nostalgiker der „Leave“-Kampagne zurücksehnen, ist längst in den staubigen Aktenablagen der Geschichte gelandet. Es geht nur noch um zwei vollkommen unrealistische Bilder von einem Land, die so wie behauptet niemals der Wahrheit entsprechen oder je entsprachen.
Englands Wirtschaft ist bereits seit Maggie „Iron Lady“ Thatcher im Abwicklungsstadium. Dasselbe England, dessen Finanzindustrie Länder wie Deutschland verspottet hat, weil wir auf so antike Produkte wie Autos und Maschinenbau gesetzt haben vor knapp 20 Jahren, hat dann 2008 ausgerechnet den Staat um Hilfe erpreßt, als die wunderbaren neuen „Finanzprodukte“, die „Autos des 21. Jahrhunderts“ nach Meinung so mancher britischer Ökonomen, sich als genau der virtuelle Blödsinn aus halluziniertem Wohlstand herausstellten, der sie eben auch waren und weiterhin sind. Mehr als 30 Prozent britischer Wirtschaftsleistung entfallen auf den Finanzsektor, die City of London.
Wenn es danach geht, würde ich einen Austritt des Königinnenreichs aus der Union sogar begrüßen. Da können die Briten mal sehen, wie weit ihr tolles Land ohne Subventionen der EU kommt. Gut, England ist ein Nettozahler, das ist richtig. Aber die paar gesparten Milliarden werden dann sicherlich nicht den Bauern oder Kleinunternehmen zugute kommen.
Nein, der Grund warum Politiker auf dem gesamten europäischen Kontinent und weltweit den Brexit fürchten, ist viel simpler. Er würde sie allesamt sehr dumm dastehen lassen.
Denn ein Argument der Brexiter ist sehr wohl einleuchtend: Sie werfen der EU vor, Dinge zu tun, für die kein Brite seine Politiker verantwortlich machen kann. Denn das jeweilige bösartige Dingsbums, sei es die Gurkenkrümmungsverordnung oder die 172 Verordnungen und Gesetze bezüglich der Beschaffenheit von Spiegeln in Badezimmern (kein Scherz!), kommt ja aus Brüssel, nicht aus Westminster. Die Brexiter sprechen sehr oft davon, daß man die eigenen Politiker wenigstens für den Mist zur Verantwortung ziehen könne, den sie verzapft haben. Dieses eine Argument erscheint mir sehr wohl stichhaltig. Denn auch mir ist Berlin immer noch näher als Brüssel, allem Europäischen zum Trotz.
Hier offenbart sich das ganze Dilemma des Brexit-Referendums in voller Schönheit.
Es geht gar nicht um die EU. Es geht um Gewinner und Verlierer. Die Brexiter beklagen die Anzahl der Ausländer, die nach Großbritannien einwandern. Immerhin gute 200.000 pro Jahr über die letzten 10 Jahre. Aber nur knappe 2% von denen beziehen irgendeine Form staatlicher Unterstützung. Die anderen arbeiten, zahlen Steuern, haben sich in trostlosen Küstenorten niedergelassen, die Innenstädte neu belebt, sich als Klemper, Schreiner, Maler eine Existenz aufgebaut.
Drumherum stehen aber weiterhin die Einheimischen. Oftmals arbeitslose ehemalige Industriearbeiter, die den Erfolg der anderen als den eigenen Mißerfolg betrachten. Exakt an diese Menschen wendet sich die „Leave“-Kampagne.
Es geht nicht um Europa. Es geht um Arm und Reich, um Gewinner und Verlierer. Es geht um das gesamte Projekt Globalisierung.
Auf der anderen Seite stehen die Gewinner, die den Verlierern der Globalisierung – denn um nichts anderes geht es – immer mehr guten Grund geben, den Reden der Brexiter zu glauben. Derselbe Premierminister Cameron, der noch von einem halben Jahr die EU als Ausgeburt der Hölle verdammt hat, die kein Brite jemals ertragen könne, wirbt seit Wochen massiv auf Seite der „Remain“-Kampagne und erzählt Schauergeschichten vom wirtschaftlichen Absturz.
Und immer kommt dann der Punkt, an dem der jeweilige Schlipsträger von sich gibt, man werde die wirtschaftlichen Verluste natürlich einsparen müssen, also die Sozialausgaben kürzen. Das ist die typische Sprache der neoliberalen Zocker, die die Welt beherrschen. Man muß immer im Sozialbereich kürzen, was anderes fällt diesen Leuten nicht ein.
Denn was sonst sollte man tun? Etwa eine Erbschaftssteuer einführen? Oder womöglich eine Finanztransaktionssteuer am so beliebten Börsenplatz London?
Völlig absurde Idee. Die übrigens im Englischen „Tobin Tax“ heißt und nach einem US-Wirtschaftswissenschaftler benannt ist.
Wenn man leise erwähnt, daß sowohl der NHS, das ist der National Health Service, als auch andere Sozialleistungen von der Regierung Cameron gerade deutlich zusammengestrichen worden sind, obwohl Großbritannien ja immer noch Mitglied der EU ist, also hier wohl kein logischer Zusammenhang besteht, wird das völlig ignoriert.
Aber solche lächerlichen Argumente verstärken das Verarschungsgefühl von Leuten, die eben zur Verliererseite der Globalisierung gehören. Ganz besonders, wenn ihnen beide Seiten vorrechnen, daß Großbritannien ja Nettozahler für die EU ist, wie schon erwähnt. Was aber logisch auch bedeutet, daß man sich Geld spart, wenn man aus dem Club austritt. Wieso also kürzen?
In Großbritannien unterstützen sehr viele Geringverdiener, Kleinrentner und auch Menschen mit eher mäßigen Bildungsabsschlüssen vor allem die „Leave“-Seite. Dazu kommt eine mit zunehmenden Alter stärkere Unterstützung des Austritts, der besonders von den über 50jährigen deutlich favorisiert wird. Das sind die Nostalgiker, die ihr Empire zurückhaben wollen.
Das Referendum ist das erste in einem großen Industrieland, in dem die Bevölkerung die Politik für ihr scheinbares Versagen verantwortlich machen könnte, indem sie es aus der EU herauslöst. In Wahrheit geht es darum, ob eine Bevölkerung endlich einmal bemerkt, daß das Projekt Globalisierung gescheitert ist. Exakt davor fürchten sich die Politvertreter in der gesamten Europäischen Union.
Immer wieder hatte man mehr Arbeit versprochen, mehr Zukunft, mehr alles für alle und für immer. Der Mythos des Fortschritts findet sich in vielen Facetten in unserer Gesellschaft. Bekommen haben all das nur wenige, nämlich üblicherweise diejenigen, die auch vorher schon viel hatten. Leute wie David Cameron, Absolvent einer Elite-Universität und Sohn eines Börsenmaklers und einer Adligen.
Der Finanzsektor der City saugt derzeit ganze Jahrgänge von Collegestudenten auf, die Eliteausbildungen erhalten haben und der Meinung sind, der einzig vernünftige Weg des Geldverdienens sei der, die Börse als großes Casino zu betrachten, mit dem Staat als Bank. Eine Einstellung, die durch die Untätigkeit der Politik beim Beschneiden von Zockerexzessen nur bestärkt wurde.
Was sich in Großbritannien manifestiert, ist exakt dasselbe wie in den USA. In einer Welt, die noch immer vom Ewigen Wachstum ausgeht und behauptet, man könne den Kuchen gleichzeitig essen und verteilen, während er dabei größer wird, müssen die Realitäten bis zum letzten Atemzug ignoriert werden.
Denn ansonsten kann man der jeweiligen Elite eines Landes nicht die Menge an Wohlstand und Privilegien zuschaufeln, die sie gewohnt sind in ihrem inneren Zirkel der Macht und Machtausübung.
Aufgabe der Politik ist es lediglich, der Wirtschaft eines Landes exakt das zu ermöglichen: Die „Leistungsträger“ müssen weiterhin mit ihrem gewohnten Luxus versorgt werden. Da aber in der Realität der Kuchen aus Ressourcen auf unserem Planeten begrenzt ist und eben kleiner wird, wenn man ihn ißt, bleibt damit für die weniger Elitären einfach auf Dauer weniger übrig. Die Folge dieses Verteilungskampfes ist eine sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich, wie wir sie in allen Industrieländern der Erde sehen können und die sich in den letzten Jahren weiter geöffnet hat.
Der großen Mehrheit der Bevölkerung erscheint dieses tatsächlich korrekte Funktionieren der Politik als fortgesetztes Versagen, denn die Realität der durschnittlichen Landesbewohner deckt sich nicht mit den explodierenden Börsenkursen und der Bühnenwirklichkeit, die in Nachrichtensendungen überall verkündet werden und die allesamt vom großen ökonomischen Aufschwung reden.
Wahrheit und Dichtung klaffen also immer mehr auseinander und irgendwann merkt das auch der letzte Volksschulabbrecher deutlich. Exakt das ist es, was euphemistisch – also im Kern falsch – als „Versagen der Politik“ dargestellt wird.
Zusätzlich ist es ein Verrat an den Prinzipien, auf denen die EU gegründet zu sein behauptet. Eine gesichtslose Kommission aus korrupten Lobbyisten regiert den Kontinent und spricht von Demokratie.
Wählt aber ein Volk eine linke Regierung, die den zentralistischen – und in diesem Falle deutschen – Sparkurs nicht mitmachen möchte, wird sie fiskalisch niedergeknüppelt. Siehe Griechenland oder demnächst womöglich Spanien.
Europas Machtpolitiker haben die EU in ein lächerliches Zerrbild ihrer eigenen, immer wieder gern beschworenen Werte verwandelt. Sämtliche Ideale und Prinzipien sind auf der Strecke geblieben, da unsere Politiker so etwas gar nicht haben.
Selbst Europas große Errungenschaft, der Frieden zwischen früher verfeindeten Nationen, ist in den letzten Jahren gefährdet durch eine kurzsichtige Idiotenpolitik. Warum sollte man einen Staat wie die Ukraine, in etwa mit der Wirtschaftsleistung des Bundeslandes Hessen, unbedingt auf Biegen und Brechen in die EU aufnehmen wollen?
Warum müssen europäische Politiker unbedingt darauf drängen, dieses Land auch in die NATO zu integrieren, obwohl ein derartiger Schritt keinesfalls in europäischem Interesse liegen kann, weil der automatisch Streß mit Rußland bedeutet?
Man hätte die europäische Idee vor knapp zwanzig Jahren in eine Richtung bewegen müssen, aus der tatsächlich so etwas wie die VSE, die Vereinigten Staaten von Europa, hätten entstehen können. Wollte man aber nicht.
Ich bin überzeugter Europäer, aber diese ins Absurde mutierte Version der europäischen Idee will ich nicht haben. Dabei bin ich nicht mal Engländer.
Statt Demokratie haben wir bürokratischen Zentralismus in einem Wirtschaftssystem, das letztlich totalitär ist und von Demokratie nichts hält. Man kann einen Kontinent nicht vereinen, indem man gemeinsames Geld einführt und ansonsten nichts tut außer neoliberalistische Bankenrettungen und TTIP durchzudrücken. Ein Europa ohne Institutionen ist ein Europa ohne Gesicht, ohne Herz und ohne Verstand.
Ich persönlich wollte immer ein Europa der Völker haben, nicht ein Europa der Bürokraten und der 1%. Von allen wirtschaftlichen Zirkeln wird eine Katastrophe vorhergesagt im Falle eines Brexit.
Aber Katastrophe für wen? Das Europa der steuerflüchtenden Großkonzerne und geretteten Banken? Das Europa der sinnlosen Subventionen?
Das Europa gedemütigter Volkswirtschaften, die man für eine Wirtschaftsideologie in den Staub tritt, die auf Realitätsresistenz beruht?
Sollte die Mehrheit also morgen mit „Leave“ stimmen, wird sich bald danach herausstellen, daß es den Briten ohne EU eben nicht besser geht. Eher im Gegenteil, wie ich vermute. Ein weiterer Aspekt wird von beiden Lagern bisher nicht erwähnt: Das Parlament. Denn letztlich müßten diese Leute entscheiden, ob ein Brexit stattfindet oder nicht. Das Volk™ macht gar keine Gesetze, auch wenn es das vielleicht glaubt. Was allerdings in Westminster passiert, wenn eine Mehrheit wirklich für den Austritt stimmt und die Parlamentarier das dann einfach abbügeln, wage ich nicht vorherzusagen. Denn schon jetzt sind die Konservativen über die Frage des Rein oder Raus zutiefst zerstritten. Hier zeigt sich die tiefe Spaltung der Gesellschaft, wie sie in den letzten Jahren in ganz Europa offenbar geworden ist. Das Zerbrechen der Welt ist ein Phänomen, das immer wiederkehren kann.
Mit einem Brexit wäre womöglich einem weiteren Zerfall der EU Tür und Tor geöffnet. Polen, Ungarn, Frankreich – sie alle könnten Sonderregelungen für sich verlangen oder eben mit einem Austrittsreferendum drohen. Diese Gefahr besteht ohnehin, zumindest in Frankreich mit seiner FN. Dazu käme die Wahrscheinlichkeit, daß sich Großbritannien sehr schnell in Kleinbritannien verwandeln würde nach einem Brexit.
Denn die Schotten haben noch vor zwei Jahren mehrheitlich gegen ihre Unabhängigkeit gestimmt – unter anderem mit dem Argument, man sei ja als Teil des Vereinten Königreichs auch Teil der EU. Edinburgh hat auch bereits angekündigt, im Falle eines Austritts eben diese Abstimmung noch einmal zu wiederholen.
Aus Schottland, Wales und Nordirland ist morgen ohnehin eine Mehrheit für „Remain“ zu erwarten, daran habe ich keine Zweifel.
Entscheidend werden tatsächlich die Engländer sein und die Wahlbeteiligung. Denn wenn die Jungen in zu großer Zahl der Wahl fernbleiben, werden die Älteren den Ausgang bestimmen und die sind mehrheitlich für einen Austritt.
Brexit bedeutet ein Zerbrechen Europas, sagen viele. Falsch, es könnte Zerbrechen der EU bedeuten. Das macht aber nichts. Denn die aktuelle EU hat ohnehin keine große Zukunft.
Entweder bricht die Hütte der Europäischen Union also demnächst auseinander. Dann werden die ganzen politischen Knallchargen da stehen und ein langes Gesicht machen. Oder Europa findet vielleicht endlich mal seine Eier wieder und macht was richtig, was es vor zwanzig Jahren versäumt hat.
Ich fürchte allerdings, dafür ist es bereits zu spät. Mit dieser EU im Hau-Ruck-Verfahren jetzt „mehr Gemeinsamkeit“ zu schaffen, wie schon von einem Herrn Schäuble vorgeschlagen, wird nicht funktionieren. Dazu müßten die Bevölkerungen der Politik an sich vertrauen und das tun viele nicht mehr.
Mit dieser realitätsblinden Generation aus Politikern und Wirtschaftlern wird Europa keine Zukunft haben, die man als eine solche bezeichnen kann.
Wenn ein Austritt der Briten wirklich zu einer Auflösung der EU werden sollte, wie sie sich aktuell präsentiert, dann begrüße ich das ausdrücklich.
Da können wir uns dann ausgiebig bei den Politchargen der letzten zwanzig Jahre bedanken, die immer wieder was von Werten und Prinzipien erzählen, um die dann mit Füßen zu treten. Ob jetzt Frau Merkel, Blair, Cameron oder Schröder – sie haben es allesamt verbockt. Sechzig Jahre Diplomatie im Eimer, weil man sich territorial ausdehnen wollte und alles alternativlos zu sein hat.
Aber ich habe da noch eine eigene Prognose: Die Briten werden sich morgen mehrheitlich für einen Verbleib entscheiden.
Dann werden sich alle Politiker den Schweiß von der Stirn wischen. Cameron, Juncker, Tusk, Merkel und Hollande – sie alle werden Lobreden halten auf die Vernunft und die Weitsicht der britischen Bevölkerung und der Umsichtigkeit ihrer Politiker.
Und dann werden sie sich wieder ihre alte Brille aufsetzen und genau denselben Unsinn machen, den sie schon seit Jahren machen und als Politik verkaufen. Es wird keine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik geben, Griechenland wird weiter pleite gehalten werden und der Sultan am Bosporus Honig ums Maul geschmiert bekommen, solange er uns nur die Flüchtlinge vom Hals hält.
Stimmen die Briten mit Remain, wird es das Dahinsiechen der EU nur verlängern. Trotzdem wird es sie nicht retten können. Frau Merkel sagte schon 2009 im Frühjahr, man wolle so schnell wie möglich auf den alten Kurs zurückkehren. Damals meinte sie den Kurs, der in die sogenannte Finanzkrise geführt hat.
Die alten Karten werden uns in den Gewässern der Zukunft nicht hilfreich sein. Doch wenn die Briten bleiben, wird sich nicht einmal diese Erkenntnis bei unseren Häuptlingen einstellen. Deshalb wünsche ich mir, daß die Briten uns verlassen, auch wenn ich das nicht glaube. Möge Gott die Königin rasieren!
24.06.2016
Update: Die Briten sind raus …
Prognose verfehlt 😉
Aber egal: Jetzt kommt Bewegung ins Spiel und ich hoffe, sie wird die Politik der letzten Jahrzehnte, den „alten Kurs“ hinwegfegen … *man wird ja wohl noch hoffen dürfen!?*
Wieder mal Danke, für den tollen Artikel 😉
Gruß emris
Das Risiko mußte ich eingehen. Ich hatte erwartet, daß die Waliser mehrheitlich mit „remain“ stimmen würden. Haben sie aber nicht. Und Nordostengland? Bis zu 75% für „leave“? WTF?
Witzigerweise habe ich vor vier Wochen noch zu einem Kumpel gesagt, daß die Briten gehen. Das kommt davon, wenn man im Vorfeld einer längst emotionalen Sache versucht, nüchterne Analyse zu betreiben.
Und wenn es ihnen gefallen hat, empfehlen Sie uns doch weiter 🙂