„The end of the human race will be that it
will eventually die of civilisation.“
Ralph Waldo Emerson
Zusammenbruch, so wie wir ihn normalerweise wahrnehmen, ist dasselbe wie eine Krise. Ein plötzliches Ereignis. Etwas, das bisher noch nie da war und alles, was wir bisher als alltägliches Leben wahrgenommen haben, völlig verändert zurückläßt. Oder zerstört, wobei Zerstörung nur eine besonders radikale Form von Veränderung ist.
Das Muster des alltäglichen Lebens, in dem so vieles von einem Tag auf den nächsten gleich oder zumindest hinreichend ähnlich zu sein scheint, verbirgt mit großem Erfolg die Zerbrechlichkeit des gesamten Konstrukts, das wir eben so Alltag nennen. So lange sich das Muster wiederholt oder nur geringfügigen Schwankungen unterliegt, sind wir in der Lage, für das Morgen zu planen. Wir gehen geistig davon aus, daß morgen eben alles weitgehend so sein wird wie heute, daß alle Dinge, von denen wir abhängen und über deren weiteres Vorhandensein wir normalerweise nicht großartig nachdenken, auch weiterhin vorhanden und vor allem verfügbar sein werden.
Der Seneca-Effekt, den ich neulich schon einmal kurz angesprochen habe, ebenso wie Erfahrungswerte oder ein genügend sorgfältiger Blick in die Geschichte, zeigen allesamt deutlich, daß diese Annahmen falsch sind.
Aus soziologischer Sicht ist gesellschaftlicher Kollaps immer eher ein Prozeß, eine Kette aus Ereignissen, kein plötzliches Geschehen. Naturkatastrophen sind eine Ausnahme. Hier zerreißt ein nicht vorhersehbares Ereignis die vorherige Struktur des Alltags. Ein Vulkanausbruch ist nichts, was zwingend vorhersehbar wäre. Wobei man auch hier drüber streiten könnte, denn wer es sich unbedingt in einer Stadt wie Neapel gemütlich macht, sollte sich eventuell darüber im Klaren sein, daß der Vulkan, den man deutlich erkennen kann und der sich da so malerisch gegen den Golf und den Himmel abzeichnet, schon einmal eine größere Ansiedlung vom Angesicht der Erde gewischt hat, nämlich Pompeji. Genaugenommen ist der ganze Golf die Caldera eines Supervulkans.
Diejenigen, die von plötzlichem Zusammenbruch betroffen sind, beschreiben hinterher – sofern man sie fragt – immer wieder ihre Überraschung darüber, wie einfach das Sterben doch ist. Eben noch war alles gemütlicher Sandstrand, eine Stunde später ist der Tsunami abgeflossen und hinterläßt Trümmer, Leere und Tote. Viele Tote.
Was Kriegsberichterstatter und andere immer wieder beschreiben, ist vor allem die Geschwindigkeit, mit der die vorher übliche Struktur des Alltäglichen sich in einen riesigen Trümmerhaufen verwandeln kann.
Andere Berichte, wie etwa die Tagebücher eines Victor Klemperer, zeigen deutlich, wie das Phänomen der shifting baselines eine Gesellschaft ebenfalls recht schnell in etwas verwandeln kann, das die Mitglieder dieser Gesellschaft noch ein Jahrzehnt vorher entrüstet als unmenschlich, unsozial und ganz und gar unmöglich abgelehnt hätten. Hätte man einem durchschnittlichen Deutschen im Jahr 1925 etwas von Wohnungseinrichtungen, Häusern und anderen Besitztümern erzählt, die man einer Bevölkerungsgruppe unter Drohungen oder gar durch Ermordung abgenommen hat, um sie dann weiterzuverkaufen, hätte dieser das Szenario vermutlich für absurd gehalten. Im Jahr 1935 war es für eine Familie, deren männlicher Ernährer womöglich gerade wieder Arbeit gefunden hatte, überhaupt nichts Ungewöhnliches, eine „arisierte“ Kücheneinrichtung auf einer Versteigerung zu erwerben oder in der Zeitung annonciert zu sehen.
Im Deutschland der 1930er Jahre wurde die Struktur des Alltäglichen nicht zerrissen. Sie wurde in etwas anderes umgeformt, verzerrt und schließlich in etwas verwandelt, das zwar weiterhin alltäglich, aber nichtsdestotrotz mörderisch gewesen ist.
Lange bevor es in einer Gesellschaft also zum Kollaps in Form eines sichtbaren Ereignisses kommt, beginnt die alltägliche Wirklichkeit bereits, sich an ihren Rändern aufzulösen. Die ersten kleinen Steine rieseln bereits den Berg hinunter, lange bevor sich der ganze Abhang ein Päuschen auf der an seinem Fuß verlaufenden Straße gönnt, die das malerische Bergdorf durchzieht.
In einer Zeit, in der die ökonomischen und finanziellen Gewissheiten ganzer Generationen in Frage gestellt werden – und in Frage gestellt werden müssen – kann man nicht sagen, wo genau dieser Auflösungsprozeß, der sich vor unser aller Augen abspielt, denn eigentlich enden wird. Was natürlich auch damit zu tun hat, daß die meisten Menschen diese Auflösungserscheinungen nach bester Manier zu ignorieren versuchen. Ein englischer Schriftsteller namens Joseph Conrad schrieb einmal…
„Nur wenige Menschen vergegenwärtigen sich, daß ihr Leben, das Wesen ihres Charakters, ihre Fähigkeiten und Überheblichkeiten, lediglich Ausdruck ihres Glaubens in die Sicherheit ihrer Umgebung sind.“
Joseph Conrad – An Outpost of Progress (eigene Übersetzung)
Conrads „Herz der Finsternis“ gilt noch heute als eine der literarischen Glanzleistungen des 20. Jahrhunderts. Der Regisseur Francis Ford Coppola baute seinen Film „Apokalypse now“ auf Conrads Erzählung auf.
Conrad zeigt hier sehr deutlich, daß die Auffassung von Kultur und Alltäglichkeit, die die weißen Europäer des 19. Jahrhunderts so fleißig in die ganze Welt exportieren, nicht viel mehr ist als eine tröstende Illusion. Allerdings eine, die sich nur aufrechterhalten läßt, solange man von Gleichgesinnten umgeben ist. Außerhalb dieser Gruppierungen, im Vergleich mit „dem Wilden, dem Ungezähmten“, wie Conrad schreibt, entpuppt sich diese Realitätsauffassung als wenig tauglich und nicht sonderlich belastbar.
Unsere Zivilisation, die Menschheit des spätindustriellen Zeitalters zu Beginn des 21. Jahrhunderts, befindet sich in exakt dem Zustand, den Conrad hier vor mehr als einem Jahrhundert bereits beschrieben hat. Sobald der Glaube, das fundamentale Paradigma der jeweiligen Gesellschaft, erst einmal erschüttert wird und an den Rändern wegzubröseln beginnt, kann der Zusammenbruch einer Zivilisation möglicherweise nicht mehr gestoppt werden. Das Zivilisationen generell stürzen und verschwinden, kann man sehr wohl als ein Gesetz der Geschichte betrachten. Ebenso wie Schwerkraft ein Gesetz der Physik ist, folgen Zivilisationen einem Entwicklungsmuster, das durchaus auch in ihrem völligen Zusammenbruch enden kann.
Ich bin der festen Überzeugung, daß unsere Zivilisation jetzt dran ist, genau diese Erfahrungen zu machen, die andere schon gemacht haben. Die Erfahrung des Dahinschwindens, des Verblassens, letztlich die Erfahrung des Untergangs.
Wir können nicht retten, was wir haben. Eine kleine Reise ins Herz der Finsternis.
Im letzten Vierteljahrhundert hat man uns, den Bewohnern des Westens, den Bewohnern der Postdemokratie, immer nachdrücklicher eingeredet, das Ende der Geschichte sei nach dem Untergang dieses bösen anderen Weltsystems, des Kommunismus, auf jeden Fall gekommen. Man erzählte von Preisen, die niemals fallen können und Aktienkursen, die immer steigen müssen – immerhin wächst ja die Wirtschaft, nicht wahr? Wie soll da etwas schiefgehen?
All diese Dinge haben sich immer wieder und besonders in den letzten knapp neun Jahren als mehr und mehr absurdes Spektakel herausgestellt. Die Ökonomen und die politischen Führungskasten der westlichen Industrieländer suhlen sich in Selbstgefälligkeit und gehen noch immer davon aus, daß ihre Handlungen keinerlei Konsequenzen haben werden, zumindest nicht für sie persönlich oder für ihre restliche Lebensdauer. Auch Nicht-Handeln, juristisch also Unterlassen, gehört hier zum sehr weit verbreiteten Repertoire. Eine Frau Merkel hat diesen Aspekt der Politik quasi zur Kunstform erhoben und wird dafür von einigen bedeutenden Publikationen als Königin Europas verehrt. Denn nichts zu tun ist immer am Einfachsten und ermöglicht entsprechend freudigere Zeiten im kühlen Schlamm der Suhle.
Doch der Mythos des ewigen Aufstiegs zeigt deutliche Risse, denn er ist, wie einige andere, schlicht und einfach falsch. Das falsche Morgen, an das alle so eifrig geglaubt haben und auch weiterhin glauben wollen, hat sich bisher geweigert, sich zu manifestieren, allen Wachstumsbeschleunigungsgesetzen zum Trotz.
Das wird es auch weiterhin tun. Wäre ich eine ordnungsgemäße Zukunft, würde ich mich von diesen realitätsvergessenen Gestalten auch nicht einfach so beschwören lassen. Da könnte ja jeder kommen.
Aus der Geschichte der Unfehlbaren und Unbesiegbaren wird just in diesem Moment, in diesen Monaten, in den kommenden Jahren, die Geschichte eines Imperiums, das von innen heraus zerfällt. Es ist der Beginn der Geschichte, wie Menschen mit dem Zusammenbrechen des eigenen Mythos umgehen. Es ist unsere Geschichte. Es ist meine Geschichte, zumindest ein Teil davon.
Das Imperium, das hier wegbröselt, ist natürlich unsere heutige Lebenswirklichkeit. Wobei ich das einschränken muß. Es ist die Lebenswirklichkeit von Menschen in West- und Mitteleuropa, in Nordamerika, in Teilen Chinas, in Japan, in Australien. Zu einem geringeren Teil auch die Wirklichkeit in Osteuropa, in Rußland, in Südamerika und Afrika, wobei der Anteil hier besonders niedrig ist. Sagen wir, die Lebenswirklichkeit von etwa 2,5 Milliarden Menschen, also etwa einem Drittel der Weltbevölkerung.
Es ist die schöne neue Welt der konsumistischen Postdemokratie, der marktkonformen Ausformung des Wählerwillens. Die Welt, in der Referenden, die nicht nach Wunsch der Politik ausgehen, wiederholt werden, bis das Ergebnis stimmt. Oder aber schlicht am besten gleich ganz verboten werden, weil das Volk ja zu doof ist, um wichtige Dinge zu entscheiden. Da wird nämlich womöglich die EU in ihrem Bestand gefährdet, wenn man das Volk abstimmen läßt, das ist total gefährlich.
Es ist auch die Welt, in der nur ein winziger Bruchteil der Bevölkerungen überhaupt in politischen Parteien organisiert ist und die wohlinformierten Politiker in Dingen wie TTIP nicht die geringste Ahnung von der Materie haben, da ihnen niemand überhaupt gesagt hat, worüber sie da abstimmen sollen. Oder eben keiner von ihnen den hochwichtig als Transparenzmaßnahme eingerichteten Leseraum betreten hat, um sich eventuell mal mit den Fakten auseinanderzusetzen.
Es ist die Welt, in der Politiker die Vorratsdatenspeicherung einfach noch ein zweites Mal als Gesetz verabschieden, obwohl es sich vom ersten Gesetz nicht unterscheidet – was in der Natur der Sache liegt, denn anlaßlose Datenspeicherung bleibt eben anlaßlose Datenspeicherung, egal, in welcher Befristung.
Ich bin durchaus der Meinung, daß ein Volk ganz schön doof sein kann und es erheblich an Kompetenz an der Wahlurne mangelt, ganz speziell in Deutschland. Das heißt aber nicht, daß eine Handvoll Pappnasen, die sich mit einer Thematik genau Null auskennen, dazu berechtigt sein sollte, supranationale Beschlüsse von erheblicher Tragweite für Dutzende Millionen Menschen morgens um Drei in einer Sitzung durchzuwinken, an der achtzig Prozent der gewählten Volksvertreter ohnehin mal wieder nicht anwesend sind. Genau so wird es mit Dingen wie TTIP enden, wenn die Sache erst einmal unter Dach und Fach ist.
Die Fassade des Normalen bröckelt allüberall, wenn man denn bereit ist, auch mal hinzusehen. In der Finanzwirtschaft geht es seit Jahren drunter und drüber. Die letzte Blase, aufgepumpt mit Immobilien in den USA, hat beim Platzen fast das gesamte Weltfinanzsystem mit in den Abgrund gerissen. Seitdem sind die Zinsen von allen bedeutenden Zentralbanken der Welt auf Null oder niedriger heruntergedrückt worden.
Das Geld, das dadurch virtuell zur Verfügung gestellt wird, sollte eigentlich in die Wirtschaft fließen, also investiert werden. Zumindest wird das immer wieder erzählt. Aber es geht gar nicht mehr um Investitionen. Das „Investment-Banking“ das heute nur noch gewohnheitsmäßig so heißt, hat in den Jahren vor 2008 seine Existenzberechtigung immer erfolgreicher darin gesucht, Kunden mit ordentlich Finanzmasse das Geld aus der Tasche zu ziehen, um damit in möglichst kurzer Zeit möglichst maximale Renditen zu erzielen.
Aber in der echten Wirtschaft, der Wirtschaft der Menschen und Personen, die irgendwelche Dinge benötigen, gibt es keine Renditen von 10, 20 oder 25 Prozent. Die bräuchte man aber, um den dreifachen Wahnsinn des virtuellen Hamsterrades weiter am Laufen zu halten.
Firmen, die kein eigenes Geld haben, leihen es sich von Banken, die dieses Geld ebenfalls nicht besitzen und erzeugen damit noch mehr Geld, das gar nicht existiert. Und alle erwarten dann, daß man ihnen ihren Anteil auszahlt, den virtuellen Blödsinn also realisiert, und daß irgendwer, irgendwo in einer weit, weit entfernten Galaxis, dann schon dafür sorgen wird, daß die Kaufkraft, die sie selber gerade aus der Weltwirtschaft herausgesaugt haben, im Nachhinein erschaffen wird. Üblicherweise durch Arbeit. Aber das funktioniert eben nicht im Realen. Die Welt der „normalen“ Wirtschaft wird ja von Ökonomen auch gerne „Realwirtschaft“ genannt. Ich habe bereits vor längerer Zeit den Schluß daraus gezogen, daß es sich beim Rest eben um Irrealwirtschaft handeln muß.
In dieser Irrealwirtschaft der unsichtbaren Hände, des freien Marktes, der Hedgefonds, der virtuell gewetteten Milliardensummen in kryptischen Kürzeln auf digitalen Flimmerboards über irgendwelchen Börsenparketten – da muß die Welt ebenfalls so weiterlaufen wie bisher. Also mit dicken Bonuszahlungen für Vorstände und Banker und ebenso massenhaften Renditen für Aktienbesitzer. Realitäten sind irrelevant, Boni müssen schon sein.
Große Vulkanausbrüche brauchen ihre Zeit. Wir haben seit 40 Jahren auf eine Explosion hingearbeitet.
Realitäten sind eben nicht irrelevant. Es gibt schlicht keine Möglichkeit, in der echten Wirtschaft Investitionen zu tätigen, die sich mit dem verzinsen, was der jeweilige Anleger so erwartet. Das ist das Kernproblem unserer Weltwirtschaft: Dinge werden immer nur erwartet. Niemand beschäftigt sich mit dem Ist-Zustand der Welt. Alle haben nur noch einen Soll-Zustand vor den Augen, den sie aber für real halten oder auf den sie hinarbeiten oder – um genau zu sein – andere hinarbeiten lassen wollen. Doch dieser Zustand ist ein Wunschtraum, ein „So-hätten-wir-es-gern“. In seiner aktuellen Ausprägung innerhalb des industriell-politischen™ Komplexes ist es mehr so eine Art Massenpsychose.
Aber die Welt spielt da nicht mit. Also zieht seit Jahren virtuelles Geld, das sich immer weiter vermehrt, in einer Art letzter großer Party um den Planeten Erde, trinkt Schampus auf dem Parkett der NYSE, haut sich die Krabbencocktails rein in Shanghai, um dann den Abend in aller Ruhe bei Koks und Nutten in Frankfurt, Paris oder London zu verbringen.
Statt damit etwas zu erschaffen, ist Geld seit Jahrzehnten bereits längst selber zur Handelsware geworden und so entsteht derzeit bereits die nächste große Blase. Sei es Fracking in den USA oder doch Immobillien in China – man kann es nicht genau sagen. Aber die Blase ist da.
Im Grunde steht die Welt, wie wir sie kennen, am Ende eines gigantischen Superzyklus aus Schuldenmacherei und virtueller Gelderschaffung, der seit Beginn der 70er Jahre anhält. Damals, unter dem Schock der ersten Energiekrise, schloß Präsident Nixon das Goldfenster und die Zinsen stiegen und stiegen, bis auf heute unvorstellbare 18 Prozent.
Von diesem Niveau sind sie seitdem beständig gesunken und haben damit eine Eskalation von Staatsschulden überhaupt erst ermöglicht, die in den Jahrzehnten zuvor undenkbar gewesen wäre, für jede Partei in den Industrieländern.
Jetzt, in diesem Jahr 2016 ndZ, im 11. Jahr der Regierung von Herrscherin Merkel, von Angela der Alternativlosen, ist das Ende der Fahnenstange endgültig erreicht.
Aktuell sind die Finanzmärkte labil, das Wachstum der Weltwirtschaft eher marginal, die Schwellenländer, die in den meisten Teilen vom Verkauf ihrer Rohstoffe abhängen, sind bis zum Stehkragen verschuldet, denn die Preise sind im Keller.
In den Industrienationen stehen den Ländern die Schulden dank verfehlter Steuerpolitik für die Reichen, horrender Militärausgaben, Korruption und Panama-Papers längst bis über den Ohren.
Es grassiert noch immer Arbeitslosigkeit. In Spanien, Griechenland und Frankreich steht eine ganze Generation auf der Straße und sieht keine Perspektive für eine Zukunft, die auch nur annähernd Ähnlichkeit mit dem hätte, was man diesen Menschen noch zu ihren Schul- oder Ausbildungszeiten als normale Aussichten verkauft hat. Auch in Italien ist es nicht besser, diese Nation hatte ich in meiner Jahresvorausschau glatt vergessen. Diese Woche werden sich die Finanzminister der G20 treffen, um über genau diese Probleme zu beraten. Am Mittwoch, da habe ich Geburtstag. Ich wette, man wird sich mit Steueroasen beschäftigen und dann Regulierungen beschließen, die die Reichen, Banken, Hedgefonds und Konzerne nicht allzusehr behindern werden. Ansonsten bin ich sehr gespannt, was die hohen Herren denn für Wunder wirken wollen.
Am Freitag trifft sich der IWF mit der Weltbank zur Frühjahrstagung. Mehr Solidarität, mehr Kooperation, das hat die Chefin des IWF, Madame Lagarde, schon vor einer Weile ausgegeben als Rezept für eine bessere Politik. Dumm nur, daß weder IWF noch Weltbank in den letzten Jahren solidarisch waren oder kooperativ. Bisher haben diese Institutionen lediglich ihre Ideologie des „Freihandels“ – ein netter Euphemismus für gnadenlose Ausbeutung von Entwicklungsländern – und des freien, ungeregelten Marktes in alle Länder der Erde getragen, die das große Unglück hatten, auf den Rat dieser Experten angewiesen zu sein beziehungsweise sie in ihr Land holen zu müssen.
Seit mehr als 50 Jahren ruiniert diese Politik, die Madame Lagarde da verbessern will, ganze Volkswirtschaften, bis die in ihren Schulden ertrinken und Frauen, Kinder, Regenwälder und Rohstoffe zu Schleuderpreisen verramschen müssen, was sie dann auch tun. Nigeria ist ein Prachtbeispiel für diese Vorgehensweise.
Trotz einer ausgewiesenen Palette an kompletten Mißerfolgen und Katastrophen weichen diese Gremien nicht von ihrer üblichen Politik ab.
Der technologische Fortschritt habe sich verlangsamt, so sagte der IWF neulich erst. Weil viele Länder dafür zu wenig Geld ausgeben, so das Ergebnis der Ursachenforschung. Niemand kommt anscheinend auf die Idee, daß sich technologische Forschung durch Geld überhaupt nicht beschleunigen läßt. Niemand kommt auf den Gedanken, daß womöglich auch technologische Forschung die Probleme, denen sich Mensch gegenübersieht, nicht wird lösen können. Der Mythos des Fortschritts bei der Arbeit, in den Köpfen von Ökonomen, die Kreativität für eine in beliebiger Menge kaufbare Ressource halten.
Eigentlich müßte man – nur rein ökonomisch betrachtet – dafür sorgen, daß die Zinsen steigen auf den Weltmärkten, denn das würde auch die Rohstoffe wieder verteuern und es den Schwellenländern ermöglichen, ihre Staatshaushalte zu stützen. Doch höhere Zinsen würden auch Kredite verteuern, also die weltweiten Schulden. Alle weltweiten Schulden, denn diese setzen sich ja immer zusammen aus den Schulden eines Staates, den Schulden seiner Kommunen, Landkreise und anderem und eben den Schulden seiner Bewohner, also Privatschulden.
Seit dem ersten Mini-Zinsschritt der amerikanischen Fed ist nichts weiter passiert. Und ich hatte irgendwo schon zart angedeutet, daß ich weitere Erhöhungen erst einmal nicht sehe, sondern eher damit rechne, daß auch dieses „ein bißchen Zinsen“ nicht lange anhalten wird.
Gleichzeitig werden Firmen wie Apple, Facebook, Google und alle anderen jeden Tag mehr wert, wenn sie nicht gerade Autos produzieren und bei den Abgaswerten bescheißen. Alle wiederum sind spitze darin, dieses Geld vor dem Zugriff ihrer jeweiligen Heimatstaaten zu schützen. Während Konzerne transnational agieren, bemüht sich die Politik in vielen Weltregionen derzeit um neuen Nationalismus.
Nur der normale Arbeitnehmer bleibt weinend als Opfer des Staates zurück und schaut verzweifelt auf seine Gehaltsabrechnung.
Seit 20 Jahren beschließt ein Klimagipfel nach dem anderen, daß wir Menschen zu viel Dreck machen und deshalb unsere CO2-Emissionen senken müssen. Auch in Paris, im November. Seit dem ersten Earth Summit in Rio de Janeiro im Jahr 1992 hat Mensch seine CO2-Last jedes Jahr im Durchschnitt um mehr als 3% erhöht. Autoritäre Regierungsgebilde drängen in diesen Zeiten wirtschaftlicher Sorgen auf Expansion. Überall in Europa ist die Demokratie als Ausdruck von Freiheitlichkeit auf dem Rückzug, mit starker Unterstützung und auf Initiative der Politik. Auch in unserem Land. In ihrem verzweifelten Versuch, den Anschein von Kontrolle aufrechtzuerhalten, opfert die Politik weltweit immer mehr Prinzipien, die unsere Vorfahren mühselig haben erringen müssen.
Nein, es ist keine Krise an sich. Es ist nur Teil eines Prozesses. All diese Dinge haben schon vor langer Zeit begonnen, einige von ihnen vor meiner Geburt. Die Lange Dämmerung wird den Rest meines Lebens umfassen.
Wir haben nichts mehr unter Kontrolle. Mensch ist mit seiner globalen Zivilisation endgültig auf dem absteigenden Ast der Kurve, die unseren Aufstieg und Fall nachzeichnet.
Die globalen Eliten haben immer wieder und immer mehr auf die Unzerstörbarkeit einer Maschinerie des ewigen Wachstums gesetzt, die jetzt überall ins Stottern geraten ist und nicht mehr so recht laufen will. In einem Versuch, die Sache in den Griff zu bekommen, werden unglaubliche Summen von unten nach oben verteilt seit dem Jahre 2009, um eine Implosion zu vermeiden. Die Politik ist weltweit eben mit denen verbündet, die ihr das Geld zuschieben können oder einen Posten in der Wirtschaft besorgen, im Vorstand der Bahn oder anderswo. Also muß, in einer Art wahnwitziger Logik, von unten nach oben umverteilt werden, denn die Reichen bestehen auf der Erhaltung ihres status quo. In blindem Glauben an eine weitere der Geschichten, aus denen unsere Gesellschaft besteht, ermöglicht ihnen die Politik, sich weiter im kühlen Geldschlamm zu suhlen, auf das die Vermögenden Arbeitsplätze erschaffen mögen. Was dann aber oftmals nicht passiert, denn Arbeitsplätze erzeugen halt schlechte Renditen. Damit wird aber das Fundament immer schwächer, auf dem alles ruht, denn Fundamente sind nun einmal nicht oben.
Die allgemeine Illusion von Kontrolle weicht gerade einer großen Ernüchterung. Blinde Wut wäre die nächste Phase des Niedergangs.
Überall sammeln sich die Ingenieure der Maschinerie in kleinen Gruppen. Aber keine scheint so recht zu wissen, was zu tun ist. Rund um die Welt ist mehr und mehr der Klang der Uneinigkeit zu hören, dieses Grummeln einer versammelten Masse, die vor den Wänden des Hauses gegen etwas protestiert.
Extremisten sammeln sich und zeigen ihr Gesicht in der Öffentlichkeit, während die Weltmaschine mehr und mehr ins Stottern gerät und dadurch die Unzulänglichkeit der politischen Oligarchien in den meisten Ländern der Welt enthüllt. Überall werden wieder alte Antworten hervorgekramt auf die scheinbar neuen Probleme: Krieg, Revolutionen, ethnische Streitigkeiten.
Die Politik, wie wir sie einmal kannten, ist ebenso ins Taumeln und Wanken geraten wie die Fundamente der Welt. Überall erheben dunkle Gestalten ihre Köpfe aus Gräben, die man für längst zugeschüttet hielt.
So jemand wie ein Donald Trump in den USA ist nur ein Symptom, wie ich es schon mehrfach erwähnte. Ein alter Linker wie Jeremy Corbyn in Großbritannien ist nur ein Symptom. Das Bernie Sanders, obwohl letztlich chancenlos, einer Hillary Clinton noch immer wie ein Terrier auf den Hacken hängt, ist ein Symptom.
Ein Anzeichen dafür, daß die Menschen keine Lust mehr haben, das Spiel weiterzuspielen, das man ihnen aufgezwungen hat. Sie wollen andere Karten. Manche wollen ein völlig anderes Spiel. Aber keiner von ihnen glaubt mehr daran, daß mit den alten Methoden und alten Regeln für sie persönlich etwas zu erreichen ist.
Die finanziellen Zauberkräfte verlieren ihre Wirkung, das weiße Kaninchen ist in keinem Zylinder zu finden, die Politiker stehen verunsichert in der Gegend herum und versuchen, mit ihren alten Worten die neuen Sorgen wegzureden, was aber nicht gelingt. Und mehr und mehr dämmert uns allen, selbst denen, die von all dem nichts wissen wollen, daß im Herzen der Smaragdstadt nicht die gütige und unsichtbare Hand regiert, die schon alle Güter der Welt gerecht und effizient verteilen wird, sondern etwas anderes, etwas Dunkleres.
Zieht man den Vorhang beiseite, folgt man den unzähligen Zahnrädern in ihrer nicht mehr ganz so geschmeidigen Bewegung, dann findet man den Kern, die geheimnisvolle Antriebskraft, die unsere Zivilisation bis jetzt in Bewegung hält. Einen der Mythen, wenn nicht sogar den Mythos schlechthin: Den Mythos des Fortschritts.
Wie die Erlösung für den Kreuzzügler, die Verklärung des kriegerischen Heldenmuts für die Römer, wie das Versprechen des gelobten Landes für die Wanderer in der Wüste, so ist dieser Kernmythos unserer Zivilisation für uns.
Ohne ihn kann es kein Ziel geben, keinen Glauben an das bessere Morgen, in dem die eigenen Kinder leben werden, keinen Antrieb, sich beim Teller waschen noch mehr anzustrengen, um doch noch Millionär zu werden. Das Versprechen der Aufklärung, mit Hilfe von Rationalität und Logik automatisch eine bessere Welt zu erschaffen für alle Menschen, verkommt zur peinlichen Farce, wenn der Glaube an den Fortschritt das Versprechen nicht trägt.
Die jüngere Geschichte hat öfter entwickelte Gesellschaften gesehen, die sich in sinnlose Blutbäder gestürzt haben, statt am Mythos weiterzuarbeiten. Statt den Himmel auf Erden zu erschaffen, erschuf man bessere Waffen und säte damit Tod und Verwüstung in nie gekanntem Ausmaß. Selbst in den blühenden und wohlhabenden Nationen der Welt schaffte es der Fortschritt und der fest mit ihm verbündete Getreue, der Kapitalismus, niemals wirklich, all die Versprechen zu erfüllen, die man sich vom besseren Morgen so machte.
Noch in den 80er Jahren empfahlen Wissenschaftler wie die der Brundtland-Kommission, man solle Arbeitszeiten verkürzen, um durch Automatisierung bedingte Arbeitslosigkeit aufzufangen. Man solle Menschen früher in Rente schicken und Sozialsysteme umbauen, damit man diese weiter mit genug Geld ausstatten könne. Mehr Steuern auf Vermögen, auf Erbschaften, mehr Steuern auf Kapitaleinkünfte – all das findet man in den 80er und 90er Jahren in diversen Kommissionsberichten und auch in Büchern, die aber leider in den Führungsetagen von Großkonzernen und in der Politik wieder einmal unbeachtet blieben. Wobei, das ist nicht ganz korrekt: Die Politik aller westlichen Industrieländer hat exakt das Gegenteil getan.
Stattdessen arbeiten wir heute wieder länger. Oder kann sich noch wer an die 35-Stunden-Woche erinnern?
1,2 Milliarden Überstunden schieben die Deutschen vor sich her. Die meisten arbeiten deutlich mehr als 40 Stunden und gehen krank ins Büro, weil sie Angst um ihren Arbeitsplatz haben. Die heutige Generation – das wäre schon die nach mir, die heute um die 25Jährigen also – ist eindeutig weniger zuversichtlich und konsequenterweise weniger optimistisch. Sie arbeiten länger, wenn sie denn überhaupt eine Arbeit finden können. Sie haben dabei weniger Sicherheiten und haben wesentlich weniger Chancen, aus dem sozialen Umfeld herauszuwachsen, aus dem sie vielleicht kommen. Denn die Schichten unserer Gesellschaft sind zunehmend undurchlässiger geworden, außer nach unten.
Die jüngere Generation glaubt nicht mehr daran, daß die Zukunft besser werden wird als das Heute. Sie ist weniger eingeschränkt durch gesellschaftliche Konventionen als noch ihre Väter oder Großväter. Aber sie sind mehr eingeschränkt durch Überwachungsmaßnahmen, durch schlechtere Jobs, höhere Kosten für Wohnungen, persönliche Schulden. Die körperliche Gesundheit ist heutzutage gut, zumindest nach industriellen Standards. Die mentale Gesundheit ist oft eine andere Sache. Niemand weiß genau, wie die Dinge sich entwickeln werden. Aber es geht auch keiner nachsehen.
Außerhalb unserer großartigen Städte, unserer leuchtenden Glaspaläste, an den Wurzeln von allem, das wir aufgebaut haben, lauert etwas, das weder Reagan noch Thatcher, weder Merkel noch Kohl, weder Clinton noch Trump, jemals verstanden haben oder verstehen werden, denn sie waren und sind darauf trainiert, es nicht zu verstehen. Etwas, daß die gesamte westliche Zivilisation nie wirklich verstanden hat, denn Verständnis und somit Erkenntnis hätten die Fundamente unseres Selbstverständnisses untergraben. Mensch ist niemals auf einem Drahtseil über den Vulkan balanciert, was Leute in den Bambushütten am Rande der Gesellschaft immer wieder angedeutet haben.
In Wahrheit laufen wir über eine dünne Kruste in einem Krater, in dem wir uns gemütlich eingerichtet haben. In der festen Überzeugung, daß dieser Krater gar keiner ist, daß der Berg kein Vulkan ist und die Kruste unter unseren Füßen nicht brüchig und gefährlich.
Das Titelbild stammt aus einem geologischen Artikel in Spektrum der Wissenschaft und ist hier zu finden.
Bin mal deiner Empfehlung hierher gefolgt. 😉
Super Text, schön geschrieben. Ein Panorama des ganzen Wahnsinns. Seit ein paar Jahren habe ich auch dieses Gefühl des Zerbröckelns, die Wahrnehmung, dass Fassaden fallen, die lange vorgehalten haben. Man spürt eine Unruhe in der Gesellschaft, viel, zu viel hat sich schon angestaut. Und die angestauten Empfindungen suchen sich in der Bevölkerung bereits einen Ausweg, wenn auch nicht unbedingt den richtigen.
Es wird sich wohl noch weiter zuspitzen. Die nächsten Jahre werden nicht ereignisarm werden. Es wird noch knallen.
Willkommen in der Wüste der Wirklichkeit, um hier mal einen bekannten SF-Streifen zu zitieren 😉
Ja, wird es. Das ist unvermeidlich. Wenn Imperien untergehen, ist es immer so. Die mit dem falschen Ausweg folgen halt auch immer der alten Spur: Einer muß schuld sein. Geringster Widerstand und so. Das größere Bild ist entweder nicht bekannt, wird ignoriert oder ist womöglich zu komplex, um von gewissen politischen Halbhirnen erfaßt zu werden.
Interessante Zeiten. Ich verweise noch auf diesen Beitrag meinerseits
Volltreffer.
Und hochaktuell gerade.
Gut beobachtet, klug beschrieben und treffend prognostiziert.
Popcorn ist leider grad überall aus…
Ich kenne eine geheime Zoohandlung, die haben noch Hamster *und* Popcorn 😉