„War. War never changes.“
Fallout 4
28. Juni 1914. Sarajevo, Bosnien-Herzegowina.
Der Chauffeur des Erzherzogs Franz-Ferdinand, seines Zeichens designierter Thronfolger der k.u.k.-Monarchie Österreich-Ungarn, und seiner Ehefrau, der zu diesem Zeitpunkt schwangeren Sophie Chotek, Herzogin von Hohenberg, begeht einen folgenschweren Fehler. Er biegt rechts ab, in die Franz-Josef-Straße, statt nach links.
Der kaiserliche Thronfolger beschwert sich vehement. Der Chauffeur hält das Fahrzeug an, kann jedoch nicht sofort zurücksetzen, denn das moderne Fahrzeug der Marke Gräf & Stift, Baujahr 1910, verfügt zwar über einen Rückwärtsgang in seinem Getriebe, doch der muß erst einmal gefunden werden.
Am Straßenrand stehend sieht ein Mann namens Gavrilo Princip die Szene vermutlich etwas ungläubig. Eigentlich auf dem Weg, sich etwas zum Mittagessen zu besorgen, zieht Princip eine Pistole und schießt zweimal.
Die erste Kugel durchschlägt das Türblech des Fahrzeugs, sodann die Bauchdecke der Herzogin und fügt ihr schwere innere Verletzungen zu, an denen sie augenblicklich zu verbluten beginnt. Die zweite Kugel dringt in den Hals des Thronfolgers und zerreißt Halsvene und Luftröhre. Der vor ihm sitzende Graf Franz von Harrach dreht sich entsetzt um, greift zur Schulter des Erzherzogs und fragt: „Majestät, was ist Euch?“
Franz-Ferdinand erwidert noch: „Es ist nichts“, bevor er das Bewußtsein verliert.
Es werden seine letzten Worte sein. Sowohl der Thronfolger als auch seine Frau versterben an ihren Verletzungen, noch bevor der Wagen das Krankenhaus erreicht. Es ist das Krankenhaus, zu dem man ohnehin unterwegs war und zu dem man links hätte abbiegen müssen.
Denn bereits am Morgen dieses sonnigen Tages hatte es einen Anschlag auf das Paar Majestäten gegeben. Die vom Attentäter geworfene Bombe prallte jedoch am Verdeck des Wagens ab und verletzte zwei Personen des Gefolges sowie diverse Zuschauer. Franz-Ferdinand hatte trotz des Schocks beschlossen, im Krankenhaus nach dem Befinden der Leute zu sehen.
In der Folge äußerte sich Österreich-Ungarn sehr erbost gegenüber Serbien, man vermutete eine Verschwörung gegen das Kaiserreich. Nach Absprache mit dem Verbündeten, dem deutschen Kaiserreich, entstand hieraus ein Ultimatum, in dem Österreich-Ungarn unter anderem forderte, es müßten österreichische Beamte an den durchzuführenden Ermittlungen beteiligt werden, und zwar federführend.
Serbien und die Monarchie standen sich seit Jahrzehnten spinnefeind gegenüber, denn gerade erst, im Jahr 1908, hatte Österreich Bosnien-Herzegowina annektiert, das es dreißig Jahre zuvor besetzt hatte. Serbien hingegen betrachtete die Gegend als sein ureigenes Staatsgebiet. Die sich anbahnende Krise wurde auf allen Seiten unterschätzt, Bemühungen zur Entspannung wurden hintertrieben, diverse Personen ließen ihr Handeln als Diplomaten von persönlichen Animositäten bestimmen – und es gab tatsächlich so etwas wie eine Verschwörung. Denn Princip und seine Komplizen handelten im Auftrag Serbiens, waren mit serbischen Waffen ausgestattet worden und begingen ihre Taten, um die Habsburger Monarchie zu vernichten und Bosnien-Herzegowina zum Teil eines neuen, südslawischen Nationalstaates zu machen.
Am 28. Juli erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg, was wiederum dessen Schutzmacht, das zaristische Rußland unter Nikolaus II, auf den Plan rief. Nach langem Einreden schaffte es dessen Armeechef schließlich, dem Zaren den Befehl zur Generalmobilmachung zu entlocken, der am 31. Juli erging.
Das wiederum rief das Deutsche Reich auf den Plan, dessen Kaiser schon mehrfach erklärt hatte, eine derartige Maßnahme wäre nicht hinzunehmen – was ihm in diesem Falle von seinem Militäradel eingeredet worden war.
In gnadenloser Effizienz des Unvermeidlichen endete dieses Durcheinander aus Unfähigkeit, Unwilligkeit, Schlafmützigkeit, Paranoia und Zugfahrplänen am 1. August 1914 mit der Kriegserkärung des Deutschen Reiches an Rußland und Frankreich. Denn nach der deutschen Militärdoktrin mußte ein Zwei-Fronten-Krieg unbedingt vermieden werden. Die Schlußfolgerung daraus, die in den Jahren zu einer immer fixeren Idee wurde, war für deutsche Generäle, daß man erst Frankreich besiegen müsse, um dann den Osten aufräumen zu können.
Warum man nie auf die Idee kam, sich in Elsaß-Lothringens Felsen einfach ordentlich einzugraben – was deutsche Soldaten dann später tatsächlich taten – und ansonsten den Rhein und Belgien als Verteidigungslinie zu benutzen, ist mir persönlich immer ein Rätsel gewesen.
Denn Belgien war neutral und diese Neutralität war – mehr oder weniger schwammig – damals unter anderem von Großbritannien garantiert. Als das Deutsche Reich am 2. August 1914 mit seinem Vormarsch nach Westen begann, verletzte es diese Neutralität und rief so England auf den Plan, dessen Kriegserklärung am 4. August erfolgte.
Hätte man sich einfach abwartend verhalten, hätten die Franzosen die belgische Neutralität verletzen müssen. Pläne dieser Art lagen im französischen Generalstab übrigens tatsächlich vor. Eine schlicht defensive und vernünftige Entscheidung hätte die Arschkarte für den Ersten Weltkrieg nach Paris geschoben und dafür sorgen können, daß England sich auf deutscher Seite wiedergefunden hätte.
Jedenfalls entwickelte sich hieraus der erste Teil des Zweiten Dreißigjährigen Krieges, also das, was man so als Ersten Weltkrieg kennt.
Mehr als vier Jahre lang schlachteten sich Menschen gegenseitig ab, mehr als 10 Millionen Tote waren zu verzeichnen. Länder wie Frankreich und Großbritannien landeten in der Schuldenhölle durch die enormen Kriegskosten, was unter anderem den Aufstieg der USA zur neuen Weltmacht bedingte.
Deutschland verlor und wurde mit dem Vertrag von Versailles derartig gedemütigt, daß es nur 15 Jahre danach einen lächerlichen gasgeschädigten Geisteskranken mit Knopfaugen und spisseliger Frisur für einen Staatsmann hielt und als eine willkommene Lösung ansah.
Drei herrschende Eliten stolperten über den Krieg: Die Romanows in Rußland wurden 1917 von der Oktoberrevolution erledigt, die eigentlich eine Novemberrevolution war, was daran liegt, daß der russische Kalender dem westlichen um dreizehn Tage hinterherhinkt, weil die Russen das Memo von Papst Gregor XIII nicht gelesen hatten, damals, 1582.
Nach jahrelangem Bürgerkrieg wurde daraus dann die zweite Supermacht des 20. Jahrhunderts geboren, die Sowjetunion. Die stalinistische Sowjetunion, nicht gerade ein paradiesischer Ort für die Revolution des Proletariats.
In Deutschland zerlegte es das Haus Hohenzollern mit Wilhelm II als letztem Chef, der ohnehin mehr oder weniger zufällig Kaiser geworden war. Allerdings traf Wilhelm es besser als sein zaristischer Vetter in Moskau, denn er wurde in einem Zug in die Niederlande befördert, statt einfach erschossen zu werden. Die Geschichte ist eben oft nicht gerecht.
In Österreich-Ungarn brach das Haus Habsburg zusammen und mit ihm sein Vielvölkerstaat. Überhaupt war die Idee des homogenen Nationalstaats nach Ende des Krieges die favorisierte Idee überhaupt, was noch unangenehme Folgeerscheinungen haben sollte.
Bosnien-Herzegowina wurde ab 1918 tatsächlich Teil von Jugoslawien, dem Königreich Jugoslawien nämlich. Insofern war Princips Anschlag einer der wohl erfolgreichsten der Geschichte. Und einer der folgenschwersten.
Das hier ist nicht 1914. Wenn ich auf den Kalender schaue, dann ist eindeutig 2016. Trotzdem habe ich das Bedürfnis, dieses Jahr schon als gebraucht zurückgeben zu wollen oder mal anzufragen, ob wir die letzten sieben Wochen nicht löschen und noch mal von vorne starten können.
Warum fühlt sich die Welt nicht so viel anders an als 1914, frage ich mich.
Analysiert man heute die Vorwehen des Ereignisses, das später als Erster Weltkrieg bekannt werden sollte, stellt man eine erstaunliche Schnittmenge mit der heutigen Zeit fest. Ob es jetzt Burenkriege in Südafrika waren, in deren Verlauf ein internationaler Akteur wie das britische Empire das Konzentrationslager erfand oder das Deutsche Reich als ein aufstrebender, ehrgeiziger Akteur in Mitteleuropa, der sich in einem Land wie Marokko mehreren Krisen ausgesetzt sah, die letztlich innenpolitisch immer stärker die Frage nach der Handlungsfähigkeit oder Handlungswilligkeit der deutschen Reichspolitik aufkommen ließ – ich sehe hier überall eine parallele Linienführung.
„Ach was, alles olle Kamellen“, denken sich Herr und Frau Überall, „das ist alles schon ewig her und diese Welt hier ist eine völlig andere.“
Eine klassische und durchaus nicht untypische Variante von „diesmal ist alles anders“. Unweigerlich wird eine derartige Antwort in einer entsprechenden Diskussion kommen, denn es muß ja alles anders sein. Da ist diese Sache mit dem Fortschritt, der Innovation und dem ewigen Wachstum, nicht wahr. Wie könnte also unsere aktuelle Welt in irgendeiner Weise vergleichbar sein mit der damaligen.
Nein, das kann nicht sein, da das alles ein Jahrhundert her ist und wir natürlich alle um ein Vielfaches klüger, schöner, besser und netter sind.
Doch entspricht das tatsächlich den Fakten?
Internationale Akteure wie Deutschland gibt es heute noch. Gut, das hier ist kein Kaiserreich mehr, in dem der Postbeamte seinen Backenbart kämmt und mit strengem Blick über die Schlange der bürgerlichen und proletarischen Bittsteller schaut, die sich in einer mit dem Lineal ausgerichteten Schlange selbstverständlich ruhig zu verhalten haben, bis man ihre Gegenwart gnädigerweise zur Kenntnis nimmt. Diese Welt, von einem Heinrich Mann in seinem „Untertanen“ so trefflich verspottet, ist dann doch irgendwie untergegangen. Außer bei AfD-Wählern, wo sie derzeit eine gewisse Renaissance erlebt. Was daran liegt, daß AfD-Wähler immer automatisch glauben, sie wären der Postbeamte und nicht einer der proletarischen Bittsteller in der Schlange in ihrer Version der Zukunft.
Das aktuelle Deutschland ist auch nicht, wie ein damaliger Kaiser Wilhelm II immer schwadronierte, eingekreist von Feinden. Es ist, wenn man das so betrachten möchte, eher eingekreist von Freunden, aber auch mit denen muß man ja nicht zwingend einer Meinung sein.
Das britische Empire existiert nicht mehr, es ist den Wirren des Zweiten 30jährigen Krieges untergegangen. Churchill, der alte Haudegen, den die Engländer noch heute als den Mann feiern, der Hitler mit einer Hand auf dem Rücken im Alleingang besiegt hat, war auch der Mann, der in der Zwischenkriegszeit der 1920er Jahre in dem Gebiet, das heute der Nahe Osten ist, irgendwelche Eingeborenen mit Bombern bekämpfte und dabei sogar den Einsatz von Giftgas erwog, dessen Wirksamkeit man auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs zur Genüge getestet hatte.
Alles Dinge, die man heute problemlos unter die Rubrik „Kriegsverbrechen“ subsumieren könnte. Ein Wort, das ich persönlich immer ein wenig lächerlich fand, denn wie soll man in einem Krieg keine Verbrechen begehen, wo doch der Krieg selbst bereits ein Verbrechen ist?
Churchill jedenfalls versuchte im Laufe seines Lebens, sowohl das Empire zu retten als auch die Nazis zu besiegen, doch nur einer von beiden Unternehmungen konnte Erfolg beschieden sein. Also ging das Empire unter, ein moralischer Schlag, den die Briten bis heute nicht ganz verdaut haben, auch wenn die meisten das niemals zugeben würden. Erst in der jüngeren Generation, was in diesem Falle bedeutet, den unter 35jährigen, ändert sich diese Einstellung.
Frankreich, damals die gedemütigte Nation nach dem Krieg von 1870 gegen Preußen, existiert ebenfalls immer noch und hat sein im 1. Weltkrieg so bitter verteidigtes Kolonialreich ebenfalls im Zuge der weiteren Geschichte verloren. Trotzdem wird das Land noch immer auch von dieser Geschichte geprägt.
Ebenso wie auf Deutschland liegt auf dieser Nation der Ballast des Nazireichs. Kein anderes Land hat so willig mit dem Dritten Reich kollaboriert und derartig schnell und umfassend seine jüdische Bevölkerung dem Rassenwahn der Nazis ausgeliefert wie Frankreich.
Für viele Franzosen ist das noch heute eine nicht hinnehmbare Vorstellung, deshalb war auch jeder Franzose natürlich in der Resistance. Folgt man der Auffassung älterer Herrschaften, muß man sich ernsthaft fragen, warum denn die Alliierten überhaupt am Strand der Normandie landen mußten, damals, im Juni 1944. Um Frankreich zu befreien?
Kann nicht sein. Frankreich war eine heldenhafte Nation von Kämpfern, die den Nazis in jeder Sekunde im Namen der heiligen französischen Dreieinigkeit aus Baguette, Rotwein und Johanna von Orleans Widerstand geleistet hatte. Mehrere Milliarden Soldaten des Dritten Reichs pflasterten den Weg bis zum Stadtrand Berlins, die Briten und Amerikaner mußten nur darüber hinweg laufen, alles kein Problem. Weshalb es auch etwa 237 „Charles-de-Gaulle-hat-den-Krieg-gewonnen“-Feiertage im französischen Kalender gibt.
Nein, ebenso wie Deutschland hat auch die Französische Republik bei ihrer Neuschaffung nach dem Ereignis, das heute als Zweiter Weltkrieg bezeichnet wird, einen massiven geistigen Geburtsfehler erlitten.
Der Unterschied ist, daß der Schmerz Frankreichs länger andauerte, denn so etwas wie der Algerienkrieg in den 60ern blieb der neuen Bonner Republik, dem Provinzdeutschland der Adenauers und Erhards, dann doch erspart. Aber schon die Tatsache, daß die neue deutsche Hauptstadt eben Bonn war, dieses kleine Nest am Rhein, sagt eine Menge über den psychologischen Zustand Deutschlands nach Ende des Krieges. Noch weiter westlich wäre ja kaum möglich gewesen.
Im Gegensatz zu Frankreich war Deutschland als Hauptakteur des Zweiten Weltkriegs aber gezwungen, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das hat nur mehr oder weniger gut funktioniert – meiner Meinung nach eher weniger – aber immerhin gab es eine gesellschaftliche Auseinandersetzung.
In Frankreich werden Historiker, die versuchen, die Geschichte der Nation im Zweiten Weltkrieg kritisch zu beleuchten, heute noch ausgebuht und akademisch geschnitten. Auch Soziologen, die sich mit der mißlungenen Integration des französischen Erbes in Nationalfrankreich beschäftigen, sind nicht unbedingt die beliebtesten Redner bei öffentlichen Anlässen.
Alles hat sich irgendwie verändert, aber trotzdem ist nichts wirklich anders.
Auch der große Bruder, der im ersten Weltkrieg und erst recht im zweiten so energisch auftrat, um die Streiterei und den Ärger in diesem komischen Europa zu beenden, ist noch immer da: Die USA.
Im ersten Weltkrieg noch eher unwilliger Mitspieler auf der Weltbühne, ist dieses Land nach dem Ende des zweiten Weltkriegs eindeutig in die Rolle Roms geschlüpft und heute noch immer de facto militärischer Herrscher der Welt. Es gehört zur erklärten Doktrin der Vereinigten Staaten, binnen 24 Stunden an jedem Punkt der Erde eine Schlagkraft zusammenziehen und einsetzen zu können, die der jeweiligen Situation „angemessen“ ist, wie man im Militärjargon so sagt.
Das umfaßt also alles vom diplomatischen „Du, du, du…“ und dem Schlag mit der zusammengerollten Zeitung über Wirtschaftssanktionen bis hin zu Stealth-Bombern und Atomraketen, um eine oder zwei Großstädte von der Erdoberfläche zu tilgen, sollte das notwendig sein.
Selbst der große, böse Gegenspieler, mit dem man einen guten Teil des 20. Jahrhunderts im Ringen um die ideologische Weltherrschaft verbracht hat, ist noch immer da. Rußland halt.
Gut, früher hieß es Sowjetunion und war unter Stalin und seinen Nachfolgern größer als heute. Die ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten sind heute wieder souveräne Nationen, der Kalte Krieg ist vorbei, der Eiserne Vorhang weggerostet – trotz jahrzehntelanger hingebungsvoller Pflege von beiden Seiten.
Die Sowjetunion erlitt zwar einen Schwächeanfall, durch den sie einen guten Teil des ehemaligen Territoriums wieder abgeben mußte, das Stalins Schergen sich in den Nachwehen des zweiten Weltkrieges eingesackt hatten. Trotzdem ist Rußland heute noch immer das größte Flächenland der Erde. Es ist noch immer chronisch unterbevölkert, so wie Rußland schon zu Zeiten einer Katharina der Großen unterbevölkert war oder in den 30er Jahren unter Stalin. Was unter anderem daran lag, daß Stalins Politik nicht weniger Russen das Leben kostete als die eines Mao später chinesische Leben fordern sollte. In keinem Jahrhundert geben sich so viele staatsmännische Massenmörder die Klinke in die Hand wie im letzten.
Rußland wird noch immer nicht demokratisch verwaltet, denn Rußland wurde noch nie demokratisch verwaltet, seitdem es das Land gibt. Der Moskauer Großfürst Iwan IV, besser bekannt als der Schreckliche, der letztlich die Großfürsten in einer Stadt namens Kiew politisch plattmachte und so Moskaus Vormachtstellung sicherte, war alles, aber mit Sicherheit kein Demokrat. Die russischen Zaren waren es ebenfalls nicht.
Lenin hielt von Demokratie ebensowenig wie Trotzki oder Stalin. Die Tatsache, daß Lenin vor seinem Tod mehrfach vor Stalin gewarnt hat, sollte einem historisch bewanderten Menschen klarmachen, welches Zerrbild eines eher wirtschaftsphilosophischen Marxismus in Form der Sowjetunion überhaupt Gestalt annahm.
Marx hätte sich schon bei Lenins Reden im Grabe umgedreht, bei Stalin hätte er vermutlich selber zum Küchenmesser gegriffen, um den Kerl zu erledigen. Die stalinistische Sowjetunion war der Ort, in der mehr als 30% der Einwohner bis 1935 die Erfahrung einer Lagerhaft hinter sich hatten und dem Land ungefähr 30 Millionen ebensolcher Einwohner fehlten, die Stalins totalitäres Regime bis dahin vernichtet hatte, sei es durch aktive Hinrichtungen aus nichtigen Anlässen oder unfähige Wirtschaftspolitik in Verbindung mit Hungersnöten. Stalins Rußland war nichts weiter als ein elender Sklavenstaat.
Hitler hingegen hatte derartig viel Angst vor einem Aufstand der deutschen Arbeiterschaft, daß die Rüstung des Dritten Reichs selbst nach dem 1. September 1939 im normalen Vorkriegstempo weiterlief. Das änderte sich erst ab etwa 1943, nachdem ein Albert Speer die Sache in die Hand nahm. Aber da war es bereits zu spät, denn Nazideutschland hatte sich die für eine siegreiche Durchführung des Krieges notwendigen Ressourcen nicht sichern können, namentlich Rohöl in ausreichender Menge. Trotzdem erreicht die Rüstung des Dritten Reichs erst im Juni 1944 ihren Höchststand. Eine Tatsache, die ich als Mitglied der Kommission in eine Historiker-Prüfung an der Uni einbauen würde, denn sehr viele Leute, denen man so etwas erzählt, scheinen darüber sehr verblüfft zu sein.
Persönlich habe ich noch immer nicht entschieden, wem von beiden ich die Krone für das allergrößte Arschloch der Menschheitsgeschichte verleihen würde – Stalin oder Hitler – aber ich halte es schon lange für einen Treppenwitz der Geschichte, daß ausgerechnet diese beiden Herren Zeitgenossen gewesen sind, die sich auch noch als Kriegsgegner gegenüberstanden. In vielen anderen Zeitlinien des Multiversums war das womöglich nicht der Fall, womit der Verlauf der Geschichte eine deutliche Veränderung erfahren haben dürfte.
Fakt ist, daß diese Sowjetunion mit Auslaufen des Jahres 1991 einen Kollaps erlitt. Das aktuelle Rußland hat noch immer zu wenig Bevölkerung, denn die Lebenserwartung eines russischen Mannes ging in den 90ern deutlich zurück. Im Rahmen der feindlichen Übernahme durch den Kapitalismus sank die Wirtschaftsleistung deutlich, ebenso wie die Geburtenraten. Dieser Umstand hat sich erst in den letzten Jahren wieder geändert, es wird wieder mehr geboren. Die Sowjetunion ist ein wunderschönes Beispiel für den Zusammenbruch eines industriell fortschrittlichen Landes. Ebensowenig wird das heutige Rußland von einem Demokraten regiert, das ist ja nun relativ offensichtlich. Wer Putin für einen Demokraten hält, muß schon Alt-Bundeskanzler sein. Dank Putin ist Rußland jetzt auch endlich wieder so richtig böse, wieder etwas, das sich nicht geändert hat.
Auf der anderen Seite haben wir eine USA, die sich noch immer als Herren der Welt fühlen und nicht einsehen wollen, daß sie entweder die Nazis besiegen können oder das Empire erhalten, aber eben nicht beides.
Schon in Vietnam hat das Selbstbewußtsein Amerikas einen schweren Schlag hinnehmen müssen, von dem es sich innerlich nie wirklich erholt hat. Doch mit den zunehmenden Verwerfungen, die die Lange Dämmerung mit sich bringt und weiter bringen wird, schwindet der Griff der USA über ihr globales Imperium mehr und mehr dahin.
Ein Präsident Obama mag seine Trägerflotten in den pazifischen Raum konzentrieren oder mit TPP ein Handelsabkommen schließen, das klare Prioritäten setzt – nämlich die Eindämmung weiterer ökonomischer Expansion Chinas im Pazifikraum – aber all das ändert nichts an den Fakten, daß die USA ihren Zenit überschritten haben. Die Geschichte hat noch nicht endgültig entschieden, wer die Nazis sein sollen, die man da zu besiegen versucht, aber ich denke, der „internationale Terror“ nimmt heute diese Rolle ein. Auf jeden Fall ist er ein ganz heißer Kandidat.
Zusammenbrüche großer Reiche sind keine Sache antiker Geschichte. Der letzte war erst neulich.
Die Dinge verschieben sich aktuell grundlegend auf der Erde. Das Land der heckflossigen Straßenkreuzer, das Land Suburbias, dieser Cartoon-Version eines als romantisch verbrämten Lebens „im Grünen“, das Land, dessen Flagge im Mondboden steckt und das es als sein festgeschriebenes Schicksal ansah – und offiziell noch immer ansieht – den Kapitalismus zu den Sternen zu tragen, ist heute das Land, in dem selbst das Militär versucht, seine Kampfjets mit Treibstoff vom Acker fliegen zu lassen. Was für eine klägliche Vorstellung ist das denn?
Das Land, das die Taktik der verbrannten Erde erfunden hat – nämlich in seinem eigenen Bürgerkrieg, als ein Mann namens William Tecumseh Sherman seinen berühmten „March to the sea“ durchführte – ist heute das Land, das verzweifelt vermeiden möchte, irgendwelche Bodentruppen in den Nahen Osten zu schicken, um den sogenannten Islamischen Staat zu bekämpfen.
Stattdessen verkündet man erfolgreiche Bombardierungen eines Gegners, der sich damit ebensowenig besiegen lassen wird wie der Gegner im vietnamesischen Dschungel mit dem Entlaubungsmittel Agent Orange. Schließlich hat es Präsident Obama gerade erst geschafft, den Rückzug der Truppen aus dem Irak als außenpolitischen Erfolg zu präsentieren. Das sich im entstehenden Machtvakuum der nächste selbstgezüchtete Gegner sammelt, ist natürlich etwas unangenehm, aber was soll’s? Schließlich liegt Amerika ja gut geschützt zwischen zwei Ozeanen.
In Europa haben wir Menschen wie eine Frau Merkel, die ebenso eine Fehlbesetzung der Geschichte ist in meinen Augen wie Wilhelm II.
In Großbritannien denkt man über einen Austritt aus der EU nach. Gerade wird verzweifelt versucht, auf einer Konferenz Dinge zu beschließen, die David Cameron zu Hause als Sieg über den europäischen Drachen feiern kann und die gleichzeitig unbedeutend genug sind, um die Union nicht zu gefährden oder Begehrlichkeiten bei anderen Mitgliedern zu wecken.
Allerdings wohl vergeblich. Denn die Polen möchten nicht länger eine „immer engere Union“ anstreben, wie es die EU-Verträge so vorsehen. Und das gebeutelte Griechenland möchte eine Zusicherung anderer EU-Staaten, daß diese ihre Grenzen nicht schließen und Griechenland alleine mit den Flüchtlingen da hocken lassen.
Doch auch hier vergebens, denn Österreich will derweil nur noch 80 Flüchtlinge pro Tag aufnehmen, während Mazedonien seine Grenze zu Serbien schließt.
Dazu kommen ungarische Zäune und leider inzwischen auch tschechische Staatspräsidenten, die ganz offen die Deportation von Wirtschaftsflüchtlingen fordern.
Das gerade entstehende Europa der Zäune wird auch wieder ein Europa der Nationalstaaten sein. Aber Nationalstaaten, ganz besonders ethnisch homogene, sind im 21. Jahrhundert ebenso überholt wie es autokratische Monarchien zu Beginn des letzten gewesen sind. Überall gibt es Krisen in kleinerer und größerer Darreichungsform. Ein Präsident Erdogan träumt öffentlich von einer Wiederherstellung des Osmanischen Reiches und faselt etwas davon, daß Muslime ja Amerika entdeckt hätten, während er versucht, irgendwie einen NATO-Bündnisfall zu provozieren. Die Sache mit dem russischen Flieger vor einigen Wochen ist da nur symptomatisch und beileibe nicht der erste Zwischenfall. Falls das jemand für übertrieben hält: Die NATO sah sich gerade erst veranlaßt, die Türkei darauf hinzuweisen, daß man sich nicht in einen Bündnisfall provozieren lassen werde.
Aktuell verdichten sich die Anzeichen für eine Bodenoffensive der Türkei und Saudi-Arabiens in Syrien. Der Anschlag in Ankara, der wohl von einer PKK-nahen Gruppierung durchgeführt worden sein soll, gibt da genug Vorwand, falls Erdogan noch einen gebraucht hat.
Die Saudis denken wohl auch darüber nach, die Rebellen in Syrien – welche auch immer – mit SAMs auszustatten, also Boden-Luft-Raketen. Frankreich warnt die Türkei davor, einen Krieg mit Rußland zu riskieren, während Erdogan die USA bezichtigt, sie würden ja Waffen an die Kurden liefern. Womit auch klar ist, wer da angegriffen werden wird in Syrien. Der IS wird es nicht sein.
Statt eines Balkanproblems hat Europa heute ein Bosporus-Problem. Wobei auch das Balkanproblem wieder auftauchen könnte. Denn die Zerfallsstaaten des ehemaligen Jugoslawien werden auch noch immer von NATO-Militär bewacht, damit da unten nicht schon wieder der nächste Krieg ausbricht.
Serben hassen Muslime, die hassen Albaner, die aber hassen Kroaten und dann gibt es da noch irgendwelche kroatischen Serben oder albanische Muslime oder sonstwas – ich habe da schon bei den Zerfallskriegen in den 90ern den Überblick verloren. Der Balkan ist jedenfalls auch heute wieder oder immer noch ein politisches Pulverfaß.
Witzigerweise ging es auch im Vorfeld des ersten Weltkrieges irgendwo um den Bosporus, denn damals gab es den ersten und zweiten Balkankrieg – das war 1912 und 1913 – und da mischte im Hintergrund auch der russische Zar mit bei seiner Unterstützung für Akteure wie Serbien und seiner Angst, das schwächelnde Osmanische Reich könnte womöglich von einem starken Bulgarien von der Meerenge vertrieben werden. Was Rußland einen Zugang zum Mittelmeer bzw. den angestrebten starken politischen Einfluß auf diese Region womöglich dauerhaft verwehrt hätte.
Statt eines unfähigen Kaisers hat Deutschland heute eine unfähige Kanzlerin, die zwar einmal in ihrem verpfuschten politischen Leben eine vernünftige Position bezogen hat, aber ansonsten keine Ahnung von Politik und auch kein Interesse daran. Die beste Kanzlersimulation, die man für Geld kaufen kann. Nicht für mein Geld, ich kann mir so etwas nicht leisten, aber für das anderer Leute.
Nebenan haben wir ein Frankreich, das neben seinem starken deutschen Nachbarn vor sich hin schwächelt, jedenfalls nach den offiziellen Arbeitsmarktzahlen oder so etwas. Dafür haben die Franzosen heute ein Militär. Deutschland hat die Bundeswehr. Und nationalistische Arschlöcher, die allenthalben wieder vom homogenen Nationalstaat träumen.
Ein ehemals großer Weltherrscher sitzt währenddessen in der Ecke und schaut noch immer auf die Geschehnisse, als wäre nichts anders als sonst, während er das Schwinden der eigenen Macht weiterhin erfolgreich verdrängt. Vor 100 Jahren war es das Britische Empire, heute ist es das der USA.
Aufstrebende Mächte mit einem Machtkomplex und der Angst, auf der politischen Bühne zu kurz zu kommen, haben ihren Auftritt. Damals das Deutsche Kaiserreich mit seinem „Platz an der Sonne“, heute ein Rußland, das seinen ehemaligen Supermachtstatus zurückhaben möchte und ein türkischer Präsident, der gerne Kalif wäre anstelle des Präsidenten. Oder so ähnlich.
Im Fernen Osten ist die Konstellation anders als vor 100 Jahren, denn da dominierte Japan als einzige moderne Nation die Region. Heute ist da der chinesische Drache, der nach den Sternen greifen will, wie es das Empire der USA auch getan hat. Doch der chinesische Drache hat Pech: Er will aufsteigen in einer Welt, in der eben das nicht mehr möglich ist.
Aber dank der Ereignisse im Zweiten Weltkrieg ist sichergestellt, daß sich Japan und China im Zweifelsfall hassen werden. Insofern hat sich also auch hier nur geändert, das China derzeit die größere Stärke in die Waagschale legen kann und keinen Bock mehr hat, sich von westlichen Nationen irgendwas vorschreiben zu lassen. Es geht nichts über die Auswirkungen von Geschichte. Die Basisparameter der Zukunft sind auch im Fernen Osten dieselben wie vor einem Jahrhundert.
Diesmal ist alles anders. Oder eben auch nicht. Spielbrett und Spieler ähneln sich doch sehr.
Im Osten Europas haben wir Staaten, denen vor 25 Jahren der siegreiche Kapitalismus das Blaue und zusätzlich auch noch die Wolken vom Himmel versprochen hat und der sich aktuell, in einer Zeit langsam dahinschwindener Ressourcen, als das entpuppt, was er schon immer war: Ein schön verpacktes Lügenmärchen.
Gerade, als man dabei ist, sich etwas vom Kuchen für die eigene Bevölkerung zu sichern, und somit auf der politischen Ebene auch die eigene Macht, kommen einem diese lästigen Flüchtlinge dazwischen. Diese wiederum flüchten vor Zuständen, die eben so sind am Rande eines langsam dahinsiechenden Imperiums.
Nachdem der Imperator Chaos und Verderben verbreitet hat, zieht sich das Imperium zurück, weil es seine Außengrenzen nicht sichern kann. Üblicherweise aus finanziellen Gründen.
Das Römische Reich konnte Germanien auch deswegen nicht erobern, weil das bewaldete Land mit seinen Stämmen und Clans dem reichen Rom nichts bieten konnte. Die Eroberung Galliens spülte bereits 40 Millionen Sesterzen jedes Jahr nur an direkten Steuern in die Staatskasse, als Octavian noch seinen Krieg um die Krone führte. Germanien hätte Rom allerhöchstens Schnupfen und jede Menge Holz als Ertrag liefern können.
Der Irakkrieg hat die USA nach verlässlichen Schätzungen um die 2000 Milliarden Dollar gekostet. Eine so ungeheure Summe, daß man die selbst mit dem letzten Tropfen irakischen Öls nicht hätte bezahlen können. Also zieht sich das Imperium langsam zurück, sein Griff und sein Einfluß in der Peripherie schwindet. Was andere Kräfte ermutigt, die Lücke zu füllen. Und vor diesen Kräften fliehen dann Einheimische.
Das Römische Reich verlor seine Außengrenzen an die beginnende Völkerwanderung und Völker wie die Goten. Europa verliert seine Außengrenzen an syrische Flüchtlinge oder irakische oder welche aus anderen Teilen des afrikanischen Kontinents, der in Jahrhunderten der gnadenlosen Ausbeutung mit seinem Reichtum unseren Wohlstand befeuert hat. Das reicht zurück bis zum Sklavenhandel und spanischen Zuckerinseln, in einer Zeit, in der Päpste die Welt mit einem Federstrich zwischen Portugal und Spanien aufteilten. Man betrachte sich Portugal und Spanien heute und das langfristige Bild der aktuellen Welt könnte eine abrupte Verschiebung erfahren.
„Aber Globalisierung! Wir haben Globalisierung!“ wird jetzt womöglich jemand als Einwand bringen.
Das stimmt. Aber ebenso, wie die Briten das Konzentrationlager erfunden haben, die USA die Taktik der „Verbrannten Erde“ und auch die Idee des Blitzkriegs nicht von den Nazis entwickelt wurde, sondern von einem Engländer namens Lidell Hart, ist auch das mit der Globalisierung nichts, was wir nicht bei einem Blick in die Geschichte sehen könnten. Wie so oft sind die Dinge bei genauerem Hinsehen nicht so, wie sie zu sein scheinen.
Ein Gentleman im London des Jahres 1901 konnte seine Zeitung aufschlagen und darin die Börsenkurse für Tee, Tabak, Kopra und andere Dinge verzeichnet finden. Im Hausrock am Tisch seine Pfeife rauchend, konnte unser englischer Gentleman seinen Tee trinken, der mit Schiffen aus dem fernen Indien geliefert worden war. Ich trinke übrigens gerade auch welchen. Weißer Tee aus Indien, sehr lecker.
Beim Blättern in der Zeitung hätte Mr English womöglich Nachrichten gefunden über den Fortgang des Kampfes gegen die Buren in diesem fernen Südafrika, eine Domäne seiner Majestät Edward VII, König von England und Nachfolger seiner erst kürzlich so tragischerweise im 64. Jahr ihrer Regentschaft dahingeschiedenen Mutter, Queen Victoria, der Beherrscherin eines Drittels der Oberfläche des Planeten.
Die weiteren Kinder dieser Victoria saßen 1901 auf den Thronen von Österreich-Ungarn, Rußland, Deutschland, Belgien, Dänemark, Griechenland, Rumänien, Bulgarien, Spanien, Portugal, Norwegen und Schweden.
Eventuell hätte der Gentleman seine Stirn gerunzelt über Nachrichten aus Amerika, diesem Land der abtrünnigen Kolonisten, um dann die zuverlässig in der Times notierten Kurse amerikanischer Eisenbahngesellschaften wie der „Denver and Rio Grande“ zu studieren. Er hätte mit ausglühender Pfeife beschließen können, eine gewisse Summe Geldes in diese Unternehmen zu investieren oder in eines der anderen, die an sieben unterschiedlichen Börsen gelistet waren, deren Kurse allesamt in seiner Zeitung standen.
Per Fernsprecher wäre es seinem Hausdiener möglich gewesen, eine Bestellung unterschiedlichster Güter aufzugeben, aus Indien oder anderen Teilen der Erde, und unser Hausherr wäre sehr ungehalten gewesen, wäre die Lieferung seiner Waren an die Tür seines Domizils nicht bald darauf erfolgt.
Eine Reise womöglich, in ferne Gefilde?
Auch hier hätte unser Gentlemen lediglich seinen Fernsprecher, eine entsprechende Summe Geldes und die Zeitung benötigt. Die Times vom 7. September 1901 listet alleine 23 Schiffe der P&O Lines, die in den nächsten 10 Wochen zu Zielen wie Karatschi oder Bombay auslaufen sollten. Aber natürlich hätte sich unser Gentleman auch für eine der 23 anderen Schiffahrtsgesellschaften entscheiden können, die von London aus quasi jeden Winkel des Empire ansteuerten. Eine spontane Reise nach New York? Nun, bereits am nächsten Tag wäre aller Wahrscheinlichkeit eine Passage auf einem ansprechenden Schiff zu buchen gewesen. Bitte seien sie pünktlich für das Boarding.
Eine „Reise um die Welt in 80 Tagen“, wie Jules Verne sie 1873 in seinem Roman beschrieb, hatte im Jahr 1901 nichts mehr von Science Fiction und wäre wohl nicht einmal mehr auf einer Titelseite erschienen. Tatsächlich beruht Vernes Roman auf den Weltreisen eines Herrn namens George Francis Train, der seine dann dritte Weltumrundung 1892 sogar in nur sechzig Tagen schaffte.
Nein, auch das mit der Globalisierung ist kein Symbol der neuen Zeit, in der wir leben und kein wirklich unterschiedliches System, in dem die alltägliche Welt organisiert ist. Wir neigen nur dazu, diese grundlegenden Ähnlichkeiten in den Strukturen zu übersehen, da wir von den verheißungsvollen Versprechen der LED-erleuchteten Fassaden abgelenkt sind.
Und wir lassen uns nur zu gerne ablenken. Denn ansonsten könnte man auf die Idee kommen, daß ähnliche Menschen mit ähnlichen Makeln und Machtinteressen, die auf derselben geopolitischen Bühne mit denselben Spannungszonen agieren, womöglich auch ähnliche Ergebnisse produzieren werden, wie das schon vor einem Jahrhundert der Fall war. Vielleicht sollten wir besser hoffen, daß diesmal tatsächlich alles anders ist.
All is different, nothing ever changes…
In der Tat gibt es unglaublich viele Parallelen zu einer längst überwunden geglaubten Zeit. Der Glaube, dass wir uns als so weiterentwickelt gegenüber unseren Groß- und Urgroßvätern wähnen dürfen, erweist sich im historischen Kontext als fatale Arroganz. Nur weil wir in stolzem Fortschrittsglauben auf selbstreinigenden Klobrillen sitzen, fallen wir den selben Mechanismen zum Opfer, die sich wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte ziehen und immer wieder für Tod und Verderben sorgen. Wie schrieb Terry Pratchett so treffend: „Die Zivilisation ist nur 24 Stunden und zwei Mahlzeiten von der Barbarei entfernt“.
Geehrte Kassandra, Sie wollten das Jahr nach bereits sieben Wochen als gebraucht zurückgeben. Mittlerweile sind wir in der 29. Woche und Sie haben mit Ihren Prognosen recht behalten. Die Aussichten sind alles andere als rosig. Sie waren dies spätestens seit 09/11 nicht mehr. Erdogan kopiert munter einen gewissen österreichischen Postkartenmaler, was einmal funktioniert hat, klappt doch bestimmt auch ein zweites Mal. Außerdem kennt er sicher das arabische Sprichwort, nach dem die Mutter der Dummen immer schwanger ist. It´s History repeating…
Die Bündnisse sind heute natürliche andere als 1914. Jedoch bergen diese nicht weniger Katastrophenpotential als damals. Nach dem Rüffel der NATO bzgl. der türkischen Russlandpolitik scheint Erdogan beleidigt einen Strategiewechsel zu vollziehen. So scheint es nach dem für ihn sicher zutiefst schmerzhaften Kniefall vor Putin zumindest. Dieses darin erwachsende Konfliktpotential gegenüber den Verbündeten sollte man nicht unterschätzen. Es ist ob der sich fast täglich überschlagenden Ereignisse derzeit schwierig, einen klaren Kopf zu behalten, geschweige denn Ursache-Wirkungsanalysen vorzunehmen. Ob es sich tatsächlich um einen Coup handelte, von dem Erdogan nichts wusste, er diesen händereibend in Kauf genommen hat (wirklich stattgefunden hat er aber nicht) oder wie vielfach unterstellt, auch und vor allem von erdogankritischen Türken, sei dahingestellt. Die Reaktionen auf dieses „Geschenk Gottes“ zeigen jedoch klar, wohin die Reise geht. Der Westen staunt mit großen Augen und lässt (zunächst) gewähren, immerhin gibt es ja nützliche Abkommen und Verbindungen. Die Lunte am Pulverfass des Balkans, bzw. nahen und mittleren Ostens brennt munter weiter.
„Mögest du in interessanten Zeiten leben“
Selten habe ich mir langweiligere gewünscht.
Beste Grüße
Carlhoschi
„oder wie vielfach unterstellt, auch und vor allem von erdogankritischen Türken, sei dahingestellt.“
Da ist mir doch das „inszeniert war“ durchgerutscht 😉
Uff: Da habe ich nun eine längere Liste von bislang nicht beachteten und folglich dunklen Punkten … und so deutlich mehr neu zu bedenken als mir dieser Tage lieb ist.
Ja, das Leben steckt immer wieder voller Überraschungen und kann im Gesamtbild manchmal etwas weniger Anlaß zu Optimismus bieten 😀
„… Die stalinistische Sowjetunion war der Ort, in der mehr als 30% der Einwohner bis 1935 die Erfahrung einer Lagerhaft hinter sich hatten und dem Land ungefähr 30 Millionen ebensolcher Einwohner fehlten, die Stalins totalitäres Regime bis dahin vernichtet hatte, …“
War ja klar das es passieren wird, aber dass es hier passiert überrascht mich etwas.
Nach dem regelmässigen „wer bietet mehr?“ des kalten Krieges waren wir zur Halbzeitpause bei 26 Millionen Stalinopfern angelangt. Also schlappe drei Mio mehr als selbst die gründlichen Deutschen geschafft haben. Dann hatte Iwan eine Schwächephase und der KGB wurde aufgelöst, was den Historikern Einsicht in sowjetrote Akten erlaubte, wonach sie etwas von 500.000 murmelten.
Das hat aber niemand hören wollen, und Gott sei dank hat Iwan sich wieder aufgerappelt. Jetzt also 30 Mio Stalintote als Höchstgebot.
Fuck Yeah, der „Make-Kapitalism-great-again-Preis“ geht an Kassandra.
Die Daten sind unter anderem dem netten Buch „Krieg der Welt“ von Niall Ferguson entnommen – mit entsprechenden weiteren Hinweisen im Anhang. Falls es Ihnen nicht paßt, daß Stalin als Massenmörder keinesfalls hinter Hitler hinterher hinkt, ist das nicht mein Problem. Es ist Geschichte. Außerdem fallen in diese Zahl auch Sowjets, die dummerweise aufgrund mieser Agrarpolitik verhungert sind. Was nur fair ist, denn die zählt man bei Mao auch auf die Liste.
Und das eine korrekte Aussage zu stalinistischen Todesfolgen als „Make Capitalism great again“ gedeutet wird, ist ebenfalls nicht mein Problem. Wem es schwarz-weiß gefällt…
Dem User carlhoschi muß mal irgendwer verraten, dass man einen Putsch wie in der Türkei nicht faken kann, sonst stirbt der gute Mann noch blöde.
Wie soll das denn gehen? Wer einen Putsch faken will, der braucht einen Putschisten, oder mehrere damit die Sache glaubwürdig aussieht. Irgendwelche Militärs und eingeweihte Kumpels von Erdogan müßten also den Buhmann spielen. So benebelt wären vielleicht deutsche Domestiken, aber nicht türkische Offiziere, denn die wissen ganz genau, dass sie nach dem Dreh der Buhmann bleiben.
Jetzt werden natürlich die Domestiken ganz oberschlau daherkommen und mir erklären, dass man den Putsch auch provoziert haben könnte. Aber dann wäre er doch echt – nur eben kontrolliert gezündet.
Nee, ich glaube die korrekten Aussagen nicht. So groß kann Russland vor der Revolution nicht gewesen sein. Außerdem habe ich den leisen Verdacht, daß bei der Angelegenheit Propaganda im Spiel ist und Ergebnisse verfälscht. Hat aber insgesamt auf meine Situation heute keine Bedeutung.
Muß ein Reflex von mir sein – für den alten Nero mach ich mich auch immer stark. Aus etwa den selben Gründen.
Wenigstens reagierst DU angepisst auf meinen super trollmässigen Slogan.
Angepißt? Ach was. Angepißt klänge aber völlig anders. Das war aber höchstens über den Brillenrand gemustert 😉
Und latürnich spielt dabei Propaganda eine Rolle. Die Anzahl der sowjetischen Kriegstoten ist ja im Laufe der Zeit auch fleißig gestiegen. Die Gelegenheit war eben günstig, alles mögliche den Nazis in die Kampfstiefel zu schieben, nachdem der Krieg vorbei war. Aber nein – Stalin war trotzdem kein netter Kerl. 1935 haben den Sowjets schon etwa 18 Millionen Menschen gefehlt, die theoretisch hätten da sein müssen nach den vorherigen Wachstumszahlen der Bevölkerung. Aber die tauchten beim Volk zählen dann nicht auf, die Versager. Und diese Zahlen stammen aus russischen Archiven von Anno tukmich.
Bei Nero bin ich völlig auf deiner Seite. Der Mann war bekloppt, aber Rom angezündet hat er nicht. Im Gegenteil – er hat sogar nach dem Brand Bauvorschriften erlassen und seine kaiserliche Schatulle geplündert, um die Hütte wieder aufzubauen. Wird aber gerne unterschlagen. Ich mag Geschichte 😀
So, nu isser da. Alarmstufe Purpur. Die Drumpf Administration kommt wirklich. Alles anschnallen, wir erleben nun ein paar sicher sehr spannende und hoffentlich noch nicht gleich gänzlich terminale Turbulenzen. Ein Mann, dem seine Berater seinen eigenen Twitter-Kanal wegnehmen mussten, damit er damit nichts Dummes anstellt, bekommt die Atomcodes in die Hand. Schon drollig, wie wir Menschen unser Dasein auf diesem Planeten selbst organisieren. Naja, jedes Volk bekommt den Anführer, den es verdient. Haben wir ja auch.
Ach, das mit den Atomcodes ist nicht so tragisch.
Viel witziger finde ich, daß Trump keinen Computer benutzt hat während der Kamapagne. Ich denke, da müssen wir uns keine Sorgen machen. Der Kerl kriegt den Football im Notfall vermutlich nicht mal auf 😀
Ich nicht. Ich habe nicht den Anführer, den ich verdiene. Denn das wäre ich. Ich hätte Bock, das Land hier mal so zehn Jahre als gewählter Diktator zu regieren. Arbeit gäbe es wahrlich genug. Die Türkei hat übrigens direkt mal die auslieferung von Gülen verlangt. Wär ich Diktator/Präsident, würde ich das ja gepflegt ignorieren. Ich bin mal gespannt, ob Anakara darauf eine Antwort kriegt 😀
Wenn Trump Amerika wieder richtig great machen will, dann bedeutet das Investitionen in die Infrastruktur. Also einerseits Arbeitsplätze, was nur solange wichtig ist, solange jemand von Vollbeschäftigung träumt, oder insgesamt eben doch nichts verändern will, aber es bedeutet vor allem eine Verbesserung der Lebensqualität, und das ist weder rechts noch links – es ist vernünftig.
Der Sieg Trumps bedeutet aber auch, dass seine Gegner nun isoliert sind. Und das betrifft unsere Kanzlerin, und deren alternativen Regierungssitz Brüssel.
Die Zeit titelte dazu wunderbar treffend „Hat jemand seine Nummer?“
Gott, wie ich denen das gönne.
Trump wird eine nationale Politik machen, wodurch Freihandelsabkommen wie TTIP endgültig zur Waffe werden, was jetzt sogar deren Befürworter erkennen könnten, denn die waren ja alle gegen Trump. Mal schauen wann die auf den Trichter kommen, und wenn, ob sie sich trauen es zu sagen.
Zumindest ist jetzt der Konfrontationskurs mit Russland quasi beendet. Und das ist DIE gute Nachricht des Tages. Die von Hillary angedachte Flugverbotszone über Syrien war von allen Verrücktheiten des US-Wahlkampfes die schreckerregendste.
Mit Hillary hat Goldman-Sachs verloren, und die CIA. Die Hillary hat natürlich sofort ihre Unterstützung für Trump zugesagt „wir sitzen ja alle im selben Boot“ aber tatsächlich steht nur sie mit einem Bein im Knast, und man darf Trump zutrauen, dass er ihr da einen Schubs gibt.
Alarmstufe Purpur also nur für Figuren, die völkerrechtswidrige Angriffskriege, Regimechanges und Casinokapitalismus weniger schlimm finden als einen Präsidenten mit schlechten Manieren.
Es würde es begrüßen, wenn du diesen Kommentar noch unter den aktuellen Artikel stellen könntest. Besten Dank 🙂
Es leiden immer die unschuldigen Menschen die es sowieso im Leben schwer haben.