Gaias Atem

„Ich kann die Erde sehen. Ich sehe die Wolken. Sie ist so wunderschön!“
Juri Alexejewitsch Gagarin

Ein Wassertropfen. Ich bin ein Wassertropfen. In der aus meiner Perspektive unfassbaren Gesamtheit bin ich ein Atom, eine Winzigkeit aus Wasser und einer minimalen Menge Salz. Wo ich existiere – wo alles existiert – gibt es keine Einteilung in Sekunden, in Minuten oder ein anderes Zerschneiden der Zeit. Es gibt nur mich. Und alle anderen um mich herum. Herum im wahrsten Sinne des Wortes, obwohl winzige Teilchen keine Worte haben. Hier gibt es keine Worte, denn die Welt ist die Gesamtheit und die Gesamtheit die Welt.
Wir strömen um einen Kontinent. Ein Brocken Land, der in irgendeiner Sprache Antarktis genannt wird. Aber hier ist Sprache bedeutungslos. Wir kreisen nur, eine Gesamtheit aus Nicht-Stimmen, die etwa 800mal so groß ist wie etwas, das in dieser verbalen Bedeutungslosigkeit im Woanders „Amazonas“ heißt. In dieser schweigenden Unendlichkeit umkreisen wir dieses Land, diese seltsame Anomalie aus Festigkeit in der normalen Gestaltung der Welt.

Aber die Richtung ändert sich. Irgendetwas wirft mich aus dem Kreislauf hinaus, es geht woanders hin. Weg von der kreisenden Gesamtheit, spalte ich mich ab und drifte nach…Norden?
So würde das heißen, gäbe es hier Sprache. In einer Tiefe von etwa 800 Metern gleite ich dahin, ein Teil der Gesamtheit begleitet mich. Ich kann sie spüren. Wir zeichnen die Kontur einer neuen Landmasse nach. Es ist die westliche Küste dieser Landmasse, sie ist anders als die erste. Sie ist nicht bedeckt von kalter Gesamtheit. Sie ist Nicht-Eis. Ich ströme mit den anderen aufwärts. Ich werde schneller, dynamischer, von irgendwoher kommt Energie in die Gesamtheit. Ein Phänomen von außerhalb belädt uns mit Energie. Passatwind?
Der Ausdruck hat keine Bedeutung für mich. Ich bin nur stärker, trage mehr Energie mit mir in Form von Wärme. Die Gesamtheit bewegt sich nach…Westen?
Ein einziges Durcheinander aus zerbrochenen Landmassen. Kleine, größere, große. Wir strömen daran vorbei, durch sie hindurch, verwirbeln uns, es treibt mich in eine Engstelle zwischen Land und noch größerem Land. Makassarstraße.
Wieder so ein Begriff aus dem Anderswo. Danach ist es vorbei, die Gesamtheit ist offen, strömt mit mir nach…Westen. Auf eine neue Masse an Land zu. Sie ist riesig. Sie ist auch Nicht-Eis. Das Anderswo scheint viel Nicht-Eis zu sein.

Ich nehme mehr Partikel auf, denn mein höherer Energiegehalt erlaubt mir, mehr Salz mitzunehmen als vorher. Was ich auch tue. Wir alle tun das. Die Gesamtheit sättigt sich mit Energie und Salz, nimmt in physikalischem Durst alles in sich auf.
Wir verändern unsere Bewegung, es geht nach…Süden?
Ja, Süden. Zurück zu unserem Ursprung? Wer weiß das? Wieder zeichnen wir die Kontur der Landmasse nach, umströmen ihre südliche Spitze. Plötzlich: Chaos.
Etwas wirft uns zurück. Es ist ein anderer Teil der Gesamtheit, der Teil, den wir gerade verlassen haben, der kreisende Teil im Süden, der um das große Eis-auf-dem-Land rotiert. Doch ich werde nicht aufgenommen, es geht hin und her, kein klarer Sinn ist zu erkennen. Ein Zerreißen.

Ich bin in kreisförmiger Bewegung. Aber nicht um das südliche Eis. Wir sind ein Wirbel. Irgendwie haben wir uns gelöst von der Gesamtheit, haben eine neue Untergruppe gebildet. Wir driften durch das Chaos, die Reise setzt sich fort. Es geht nach…Westen? Ja, Westen ist richtig. Wieder eine Landmasse vor uns, die wir konturieren. Ich erkenne sie als fehlende Hälfte der ersten Landmasse aus Nicht-Eis. Es ist die andere Küstenlinie, die östliche also. Das Bild der Welt außerhalb der Gesamtheit nimmt mehr Form an, auch wenn ich die Form nicht verstehe.
Wir wirbeln weiter, jetzt wieder nordwärts. Ein Becken, durchsetzt mit Brocken aus Landmasse. Es ist energiereich hier, das Anderswo…das Außerhalb bringt uns jede Menge Wärme. Wir trinken sie begierig, ich trinke sie begierig. Etwas stellt sich in unseren Weg. Ein Teil Land ragt in unsere Bewegung hinein, blockiert unser Vorwärtskommen. Wir werden wieder zerrissen. Doch die Gesamtheit bleibt uns immer erhalten. Wir umfließen die hinderliche Halbinsel, strömen wieder Norden. Es geht nach oben. Immer weiter. Ich verlasse die bisherige Position. Schließlich berühre ich das Anderswo.

Tausend Jahre sind ein Tag. Oder zeitlos. Je nach Perspektive.

Es ist beängstigend. Es ist leer und dünn, scheint keine Masse zu haben, kaum Existenz zu besitzen und ist doch da. Auch hier spüre ich eine Gesamtheit, die Präsenz von Macht. Sie besteht aus anderen Partikeln als meine Gesamtheit, aber sie ist da. Sie fordert etwas von mir. Einen Tribut. Wärme. Ich gebe sie bereitwillig her, denn ich habe genug davon.
Ganze Wirbel lösen sich aus uns heraus, driften nach…Osten, auf eine weitere Landmasse zu. Enorme Mengen an Energie driften mit davon, Gigawatt über Gigawatt, erwärmen dieses seltsame andere Land, verschaffen ihm Milde weit über das hinaus, was die andere Landmasse im Westen hat.
Ich vermisse die anderen Teile nicht, die davonwirbeln. Denn die Gesamtheit bleibt bestehen. Für mich geht es weiter nach Norden, wieder an der Küstenlinie einer Landmasse aus Nicht-Eis entlang. Ich werde schwerer, denn die Gesamtheit-ohne-Masse, die Atmosphäre, fordert weiter ihren Wärmetribut. Ich beginne zu sinken, nachdem wir eine weitere Landmasse passiert haben und eine andere in Sicht kommt, die vertraut aussieht, denn sie ist wieder Eis. Vom Salz gedrückt, sinken wir tiefer, tiefer, tiefer. Lichtlosigkeit.
Immer noch Teil einer Gesamtheit von mehr als 80 Amazonas, ströme ich wieder nach Süden. Eingehüllt in Dunkelheit und dem Grad an Kälte, der meinem Energiegehalt entspricht, bewege ich mich durch zerklüftete Gebirgslandschaften. Natürlich sehen wir nicht, aber wir fühlen sie. Ihre Konturen liegen in der Gesamtheit und bleiben ihr nicht verborgen. Nichts innerhalb der Gesamtheit bleibt ihr verborgen.
Ich bin Teil von etwas, das im Anderswo Nordatlantisches Tiefenwasser heißt. Wir überqueren die Halblinie der Gesamtheit, dringen weiter nach Süden vor, kommen wieder an die westliche Küste dieser einen Landmasse. Es ist unsere dritte Begegnung, doch diesmal in anderer Tiefe.
Das südliche Ende des Landes empfängt mich mit dem Chaos und dem großen Wirbel, dem ich entstamme. Wieder werde ich verwirbelt, umhergeworfen, zurückgewiesen. Bis der Rhythmus stimmt. Ich tauche ein in die Quelle, den Ort der Herkunft. Der zirkumpolare Strom hat mich zurück und bringt mich in die kreisende Bewegung, mit der alles begann und mit der nichts endet.

Ich bin Teil der thermohalinen Zirkulation. Ich habe für diese Reise etwas benötigt, das im Anderswo „eintausend Jahre“ genannt wird. Doch hier existiert kein Zerfallen in Sequenzen und Untersequenzen. Es gibt nur uns. In ihrer sprachlosen Existenz ist die Gesamtheit mehr als ewig. Sie ist Zeitlosigkeit.

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Grafik 1: Darstellung der thermohalinen Zirkulation, das Hauptströmungssystem in den Ozeanen der Erde. Das System wird angetrieben durch winzige Unterschiede in Temperatur und Salzgehalt des Wassers. Trotzdem genügt das, um 1,5 Petawatt Energie um den Planeten zu schaufeln.

Erde. 1925 ndZ. Ein Forschungsschiff der ehemals kaiserlichen deutschen Marine dümpelt über den Atlantischen Ozean. Die Besatzung des umgebauten Kanonenboots führt Lotungen durch, es bestimmt also die Tiefe des Wassers und versucht somit, Aufschlüsse über die Form des Ozeanbodes zu bekommen. Mehr als 67.000 Echolotungen werden es am Ende der mehr als zwei Jahre dauernden Expedition sein, das Schiff wird bis dahin etwa 65.000 Seemeilen zwischen den beiden Kontinenten Südamerika und Afrika zurückgelegt haben. Die Auswertung dieser enormen Menge an Daten wird sich bis in die 60er Jahre hinziehen, aber das weiß die Besatzung zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht.

Einige Jahre zuvor: Ein Mann namens Alfred Wegener hält einen wissenschaftlichen Vortrag in Berlin. Wegener, eigentlich studierter Astronom, hatte sich sehr bald nach seiner Doktorarbeit der Meteorologie und der Physik zugewandt. Er war damals der Meinung, in der Astrononomie gäbe es nicht mehr viel zu erforschen. Mit dieser Einschätzung lag er eindeutig weit daneben, wie wir heute ganz klar sagen können. Aber Mensch kann sich irren.
Wegener hält seinen Vortrag über das Thema, das er bereits 10 Jahre vorher in Buchform angesprochen hatte. Er behauptet, daß die Kontinente, also diese gigantischen Massen aus Land, auf denen die menschliche Zivilisation existiert, beweglich seien und vor diversen Jahrmillionen in einem gigantischen Superkontinent vereinigt waren. Wegener nennt diesen Kontinent „Pangaea“, das ist griechisch für „Einerde“.
Er ist nicht der erste Mensch, der auf diese Idee kommt. Aber er ist der erste, der sich in Form einer ausformulierten Hypothese an die Öffentlichkeit wagt und dabei versucht, diverse bisher rätselhafte Dinge aus anderen Wissensbereichen unter einen Hut zu kriegen. Wie es eine ordentliche Hypothese tun sollte, die ja im wissenschaftlichen Sinne stets das Beobachtete oder Gemessene erklären muß.

Bereits im 16. Jahrhundert wird in einem Werk namens Theatrum Orbis Terrarum deutlich erkennbar, daß die Küstenlinien des westlichen Afrika und des östlichen Südamerika stark an Puzzlestücke erinnern. Puzzlestücke, die gut zusammenpassen, wie es aussieht. Der Titel des Buches ist wissenschaftlich und bedeutet soviel wie „Darstellung des Weltkreises“, wenn mich mein bißchen Latein nicht im Stich läßt. Was auch passend ist, denn es handelt sich um einen Atlas eines flämischen Kartographen namens Ortelius.
Im Jahre 1756 bringt ein Mann namens Lilienthal – meines Wissens weder verwandt noch verschwägert mit dem späteren fliegenden Lilienthal – die Theorie ins Gespräch, daß die beiden Küsten womöglich mal nahe zusammengelegen haben könnten. Allerdings ist der Herr ein Theologe und kann nicht recht aus seiner Haut, deswegen schreibt er das Auseinanderdriften der biblischen Sintflut zu. Doch in diesem Jahr ist die Kraft der Aufklärung bereits zu weit fortgeschritten, weshalb ob dieser Erklärung so mancher anderer Zeitgenosse die Augenbraue nach oben zieht. Es gibt allerdings noch heute Leute, die diese Ansicht verteidigen. Aber Mensch kann sich irren.
Deswegen schreibt ein Mann namens Benjamin Franklin – den sollte jeder kennen, denke ich – im Jahre 1782 an einen französischen Geologen in einem Brief:

„Solche Veränderungen in den äußeren Bereichen der Erde schienen mir unwahrscheinlich zu sein, wenn die Erde bis zum Mittelpunkt fest wäre. Ich stellte mir daher vor, dass die inneren Bereiche eine Flüssigkeit von weitaus höherer Dichte und höherem spezifischen Gewicht sein könnten als irgendeine der festen Substanzen, die wir kennen und dass deshalb die äußeren Bereiche auf oder in der Flüssigkeit schwimmen. Damit wäre die Oberfläche der Erde eine Schale, die durch die heftigen Bewegungen der Flüssigkeit, auf der sie schwimmt, zerbrechen und in Unordnung geraten kann…“

Bemerkenswert finde ich an diesem Brief, daß Franklin hier bereits in klassisch naturphilosophischer, heute würde man sagen, in wissenschaftstheoretischer Weise davon ausgeht, daß das Erdinnere flüssig sein muß und von anderer spezifischer Dichte, wenn denn an der Theorie der Bewegung von Kontinenten überhaupt irgendetwas dran sein soll. Im Gegensatz zu theologisch vorverbildeten Herren war er wohl in der Lage, die Bibel einfach mal außer acht zu lassen, was dem wissenschaftlichen Fortschritt eindeutig zugute kam.
In späteren Jahren, genauer gesagt 1801 und noch einmal in den 1840ern, beschrieb Alexander von Humboldt die Ähnlichkeit der beiden gegenüberliegenden Küsten Afrikas und Südamerikas. Allerdings kommt Humboldt hier ebenfalls mit dem Hinweis, der Atlantik müsse wohl von einer Katastrophe herrühren, ein nur schlecht getarnter Hinweis auf die biblische Sintflut. Aber – man darf sich hier ein tiefes Seufzen des Schreibers vorstellen – die Veränderung des Denkens weist eine ähnliche Dynamik auf wie die Plattentektonik, die Wegener letztlich mit seiner Arbeit begründete.

Wegeners Hypothese war zu dynamisch für seine Zeit. Aber eben diese Zeit sollte ihm recht geben.

Wegener hatte mehrere Vorgänger, die bereits theoretische Ansätze formuliert hatten, die auf eine Bewegung der Kontinente hinauslief. Er verschwieg auch nicht, daß eben diese Vorgänger existierten, ganz besonders drei Kollegen namens Mantovani, Taylor und Pickering, die ebenfalls bereits das Auseinanderbrechen von Urkontinenten postuliert hatten, nämlich in Arbeiten von 1907 bzw. 1908.
Doch die damalige Geologie ging immer noch davon aus, daß die Kontinente eben am Untergrund fixiert sein sollten, wie immer dieser Untergrund genau aussah, denn das wußte ja noch niemand.
Die Problematik der teilweise erstaunlich ähnlichen Verbreitung von Pflanzen- und Tierarten über die Kontinente wurde mit unterschiedlichen Ansätzen erklärt. Allgemeine Verdriftung von Pflanzen über Ozeane, zum Beispiel. Aber da waren dann irgendwie die Tiere nicht dabei. Das Problem wurde gerne ignoriert oder eben – man ahnt es bereits – mit biblischer Schöpfung erklärt. Doch eben diese biblische Schöpfung hatte nach der Entstehung der modernen Geologie, der Entdeckung von Dinosauriern lustiger, aber eben durchaus gleicher Gestalt auf unterschiedlichen Kontinenten, und dem Erscheinen von Darwins Evolutionstheorie einen Nackenschlag nach dem anderen erlitten und wurde mit Beginn des 20. Jahrhunderts nur noch unter Schmerzen von Naturwissenschaftlern für Erklärungen herangezogen. Im Grunde war die biblische Schöpfung zu diesem Zeitpunkt das, was „Fruchtbarkeitskulte“, nicht näher geklärte „Ritualgebäude“ oder „Kalender“ für die Archäologen sind oder lange Zeit waren. Eine etwas verkniffene Art zu sagen: „Wir wissen es nicht.“ Alles, was man nicht erklären konnte, wurde also ein Kalender. Oder halt eine Sintflut.

Da gab es die Expansionstheorie, nach der die Erde sich ausdehnte und so etwas wie Gräben, Canyons, und alles andere eben Dehnungsphänomene in der festen Oberfläche sein sollten. Hauptproblem war hier, das sich die Erde ausdehnen, dabei aber ihre Masse konstant bleiben sollte. Zudem war da eben die Existenz von Gebirgen, die sich mit Ausdehnung nur schwer vereinbaren ließen. Andere schlugen hingegen vor, daß die Masse der Erde eben doch zunehmen solle – was ganz offensichtliche Probleme mit sich bringt.
Der berühmte Physiker Paul Dirac stellte damals die Hypothese auf, daß die Gravitationskonstante möglicherweise im Laufe der Zeit abgenommen haben könnte, womit die Expansionstheorie zumindest möglich erschien.
Allerdings machten die Saurier dem durchaus renommierten Mitbegründer der Quantenphysik da einen Strich durch die Rechnung. Denn ihre enorme Größe hätte sie bei höherer Schwerkraft schlicht und einfach plattgedrückt. Und wenn die Schwerkraft heute niedriger ist, so hätte sie, der wissenschaftlichen Logik zufolge, früher ja höher gewesen sein müssen. Dinosaurier und veränderliche Gravitationskonstante – eigentlich ja ein Widerspruch in sich – paßten also so recht nicht zusammen. Was übrigens heutige Kreationisten nicht davon abhält, so ziemlich allen Naturkonstanten wüste Schwankungen zu unterstellen. Hauptsache, der Planet ist 6.000 Jahre alt. Nun ja, Mensch kann nicht nur irren, manchmal ist Mensch auch einfach irre.

Als Triebkraft hinter der Ausdehnung der Erde kam dann die Radioaktivität ins Gespräch. Diese war auch eines der brandneu entdeckten Phänomene der Naturwissenschaften und entstammte der gerade ebenfalls eine Revolution durchlaufenden Physik. Die Existenz von Atomen, Elemente, die sich in andere umwandeln und dabei etwas abgeben, das „Strahlung“ war, womöglich sogar so etwas wie die seltsamen Strahlen, die ein Wilhelm Conrad Röntgen vor einer Weile entdeckt hatte, Einsteins Relativität, Quantenmechanik – in der Physik war zu Beginn des 20. Jahrhunderts so richtig der Teufel los.
Witzigerweise wurde aufgrund dieser und anderer Arbeiten deutlich, daß die Erde eben mehr oder mindestens gleich viel Wärme produziert, wie sie an das umgebende All verliert. Somit mußte das Erdinnere also heiß sein und wohl auch flüssig, wobei flüssiges Gestein natürlich eine hohe Dichte hat, was uns zur Überlegung von Franklin zurückbringt.
Dieser Hinweis war wichtig für jemanden wie Wegener und seine Anhänger, denn Wegeners Theorie hatte das große Manko, daß er die Antriebskraft nicht erklären konnte, die hinter einer Bewegung der Kontinente ja stecken mußte. Für eine Erklärung der notwendigen Erdexpansion reichte die von Mantovani hierfür herangezogene Radioaktivität allerdings nicht. Wissenschaft ist manchmal ein sich gegenseitig befruchtendes Durcheinander.

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Grafik 2: Die Erde, Säugetierversion. 50 Millionen Jahre vor unserer Zeit, im Eozän. Man kann deutlich die sich entwickelnde Form der heutigen Kontinente erkennen. Indien driftet mit Sri Lanka nach Norden, Europa ist ein Haufen Splitter, man erahnt den Zusammenstoß, der das Uralgebirge erschaffen wird. Pangaea begann vor etwa 150 Millionen zu zerbrechen.

Dann gab es da noch die Kontraktionstheorie, die schon vom Namen her nicht mit ihrem Kollegen kompatibel ist. Auch diese Hypothese schien vorerst durchaus stichhaltig zu sein.
Die Temperatur der Erde nimmt nach innen zu, das wußte man bereits aus dem Bergbau. Also mußte die Erde innen wesentlich wärmer sein als außen. Da die Kontraktionstheorie besagt, daß die Erde ein sich langsam abühlender Ball ist, der sich dabei zusammenzieht, paßt das wunderbar ins theoretische Konstrukt. Auch lassen sich im Inneren der Erde Gesteine finden, die man auch an der Oberfläche finden kann.
Ich weiß nicht, welche Gesteine das sind, denn ich bin kein Geologie-Nerd, da werde ich nicht mit Namen um mich werfen. Für mich sind die meisten Steine eben schlicht Steine. Kühl, meistens relativ hart, meistens ordentlich Masse, sieht man mal von Tuff oder Bimsstein ab. Verdammt, jetzt habe ich doch Jehova gesagt.
Aber auch dieser Theorie kam dann die Radioaktivität in die Quere, denn die führte eben zu dem Schluß, daß Laplace schon recht hatte, als er die Planeten als abkühlende glutflüssige Körper beschrieb. Aber eben auf der anderen Seite auch nicht, denn wenn in der Erde mehr Wärme produziert wird als insgesamt verlorengeht, oder aber mindestens genausoviel Wärme, konnte sich die Erde nicht dauerhaft kontrahieren. Das verdammte Erdinnere schien also nicht warm genug, um die Expansion zu stützen, aber warm genug, um eben auch nicht zu kontrahieren. Ja, so ein Gleichgewichtszustand kann ärgerlich sein.

Zum Zeitpunkt von Wegeners Vortrag konnte also keine der vorherigen Theorien alle beobachtbaren Dinge erklären. Wegeners Theorie schon. Trotzdem fand er kein Gehör unter seinen Kollegen. Die Idee sich bewegender Kontinente spuckte einfach zu vielen „echten“ Geologen in die Suppe, über die sie bereits seit Jahren Bücher geschrieben hatten. Der „Fixismus“ – die damals noch immer vorherrschende Ansicht der relativen Unveränderlichkeit der Erdgestalt – war einfach noch zu stark verankert. Außerdem konnte eben auch Wegener wie erwähnt nicht erklären, welche Kraft denn nun die Kontinente und die von ihm postulierten Platten in Bewegung halten sollte. Das genügte den wissenschaftlichen Anführern der damaligen Zeit, um Wegeners Hypothese zu ignorieren und weiter fixiert zu bleiben, bei den Kontinenten wie bei der Lehrmeinung.

Somit blieb es auch bei der gängigen Erklärung für die gemeinsamen Tier-und Pflanzenarten auf den Kontinenten: Landbrücken sollten diese früher miteinander verbunden haben. Kleiner Witz an dieser Erklärung ist natürlich, daß es eben keine Landbrücken zwischen den Kontinenten gab. Aber die sollten halt im Ozean versunken sein, so die weitere Erläuterung. Was im Grunde ja dem Bild einer irgendwie unveränderlichen Erdoberfläche widerspricht. Im Jahre 1925 schließlich fand die beschriebene Expedition der „Meteor“ statt, die sogenannte Deutsche Atlantische Expedition.
Sie hatte den Auftrag,  die vermuteten Landbrücken unter den Wassermassen ausfindig zu machen und so die recht starre Lehrmeinung des Fixismus zu bestätigen. Ärgerlicherweise fand sich eben kein Überrest der postulierten Landbrücken. Stattdessen entdeckte man einen unterseeischen Gebirgszug erstaunlichen Ausmaßes, der klar darauf hindeutete, daß der Ozeanboden des Atlantik in einen westlichen und östlichen Teil zerfällt. Der Mittelatlantische Rücken war gefunden worden, zumindest sein südlicher Teil.
Die Azoren und auch Island sind Teil dieser ozeanischen Gebirgs- und Vulkankette, wobei die Eurasische Kontinentalplatte und die Nordamerikanische Platte durch Island hindurch verlaufen. Eines Tages wird diese Insel also zerbrechen, das ist bereits sicher.

Erst in den 60er Jahren wurden all diese Ergebnisse, wie erwähnt, zu einem neuen Ganzen zusammengefügt. Nachdem man in die Theorie Wegeners die Konvektionsbewegung des Erdinneren eingebaut hatte, wurde auch die Lücke der Antriebskraft für die Kontinentaldrift thematisch und wissenschaftlich geschlossen. Konvektion kennt jeder aus dem Schulunterricht – die Schlieren heißen Wassers, die vom Tauchsieder im Glas aufsteigen, man erinnert sich.
Satelliten ermöglichten die Vermessung der Kontinente und die Bestätigung ihrer Bewegung. Und auch die Widerlegung der Expansion bzw. Kontraktion, denn dafür finden sich keine Anzeichen. Der Wert für eine Expansion wurde 2011 nach Laservermessungen der Erdoberfläche auf 0,1 mm pro Jahr ± 0,2 mm berechnet, bei Weitem nicht ausreichend für eine Erklärung der Kontinentaldrift.

Heute gilt die Kontinentaldrift bzw. die Plattentektonik als die korrekte wissenschaftliche Darstellung des Entstehens und Vergehens der Erdoberfläche. Kein Teil des Ozeanbodes ist älter als 200 oder 300 Millionen Jahre, denn irgendwo müssen die Kontinentalplatten sich ja treffen – was sie auch tun. An diesen Stellen entstehen Gebirge und Vulkane, diese Sicherheitsventile des Erdinnern. Oder Tiefseegräben, in denen eine kontinentale Platte unter die andere abtaucht, fachlich nennt man das Subduktionszone, die Nerds haben es ja mit dem Lateinischen. Eine davon liegt beispielsweise vor der Westküste Südamerikas. Und völlig unerwarteterweise erhebt sich dort, wo die Platten sich über- und untereinanderschieben, die Gebirgskette der Anden und die Erde bebt regelmäßig, manchmal eben auch mit ungeheurer Zerstörungskraft. Was ganze Städte auslöschen kann, ist für die Erde nicht mehr als eine Hautfalte, die eine Verspannung löst.
Das Abtauchen führt natürlich dazu, daß der entsprechende Teil des Ozeanbodes im Erdinnern eingeschmolzen wird. Woanders bricht vielleicht gleichzeitig ein Vulkan aus und läßt geschmolzenes Gestein über die Erdoberfläche strömen, das vor einigen Millionen Jahren Ozeanboden war.
Währenddessen schiebt sich ein anderer Teil des Ozeanbodens weiter in die Höhe und nimmt seine Last aus fossilen Lebewesen – oder Ex-Lebewesen vielmehr – dabei mit. Bis ins Hochgebirge, wo man dann Muscheln und ozeanische Fossilien in schönster Vielfalt findet.

Im Reich der deep time, im Herzschlag des Planeten, ist menschliches Zeitverständnis bedeutungslos. Das stellt ein Problem dar.

Geologie ist, ebenso wie Meeresströmungen, ein Bereich, in dem Menschen auf das stoßen, was man deep time nennt. Konzeptionell entwickelt Ende des 18. Jahrhunderts, ist sie das Gegenstück zu den Vorstellungen religiöser Halbidioten über eine Erde, die ein paar Jahrtausende auf dem Buckel hat.
Innerhalb von deep time gibt es Zeiträume, die uns gigantisch erscheinen. Jahrtausende sind hier der kleinste Maßstab überhaupt, beinahe schon mikroskopisch. Überall begegnen wir einer geradezu unglaublichen Menge an Zeit.
Dinosaurier liegen seltsam verdreht in Gesteinsschichten, Öl befindet sich nicht dort, wo es mal entstanden ist, was früher einmal der Boden der Tiefsee war, wird heute von Bergsteigern belästigt. In dieser Welt üben die Grauen Herren nicht die geringste Macht aus.

Das hektische, menschliche Sekundengewimmel auf der Oberfläche unseres Planeten ist für mich oft wie das Schimmern der Regenbogenfarben auf der Oberfläche einer Seifenblase. Interessant, aber irrelevant.
Denn die wichtige Frage ist ja nicht das Spiel der Farben auf der Oberfläche. Als Kind haben wir uns doch alle dieselbe Frage gestellt: Wann platzt die Seifenblase?
Nun, im Falle der Erde wird die Seifenblase noch eine Weile halten, so ein, zwei Milliarden Jahre schafft die bestimmt noch.
Das mit den Farben sieht anders aus. Ich erinnere mich deutlich daran, daß das Farbenspiel auf einer Seifenblase irgendwann verschwand, es verblaßte immer, die Bewegung der Farben schien zu erstarren, bevor die Blase dann platzte.
Wir Menschen halten uns und das, was wir geschaffen haben, für so unvergänglich. Dabei sind von den mehr als einem Dutzend Arten der Gattung Homo alle ausgestorben. Bis auf eine. Für den Atem unseres Planeten hat all dieses Entstehen und Verschwinden nur Minuten gedauert. Möglicherweise verblassen unsere Farben bereits.

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