Die Lange Dämmerung

– II –

Apokalypse not

„I sat in the dark and thought: There’s no big apocalypse. Just an endless procession of little ones.”
Neil Gaiman, Signal to Noise

Der Untergang eines Imperiums oder einer Zivilisation ist üblicherweise ein Prozeß, nicht etwa ein plötzliches Ereignis. Als die Ägypter ihre Pyramiden bauten – falls sie denn tatsächlich diese Dinger gebaut haben – dachten sie bestimmt nicht daran, daß es eines Tages keinen Pharao mehr geben würde.
Tacitus hätte mich ebenso ausgelacht wie sein Ururururundsoweiter-Enkel, hätte ich ihnen erzählt, daß Rom untergehen wird.
Das Gebiet, das wir heute als China kennen, hat in den letzten 5.000 Jahren mehrfach Zyklen aus Aufstieg und Niedergang erlebt. So teilt sich zum Beispiel die Zhou-Dynastie in Östliche und Westliche Dynastie, nach der jeweiligen Lage der Hauptstadt und später in die sogenannte Zeit der Streitenden Reiche. In dieser Periode zerfiel ein vorher eher geeintes Gebiet – das östliche Zhou – in unterschiedliche Fürstentümer, nachdem der letzte entsprechende Herrscher den Löffel abgegeben hatte. Allein diese Dynastie reicht übrigens vom 11. bis ins 5. Jahrhundert vdZ, um einmal den Maßstab zu verdeutlichen.
In Europa befreiten sich in diesem Zeitraum die Griechen aus ihrem dunklen Zeitalter, das auf den Untergang der Minoischen bzw. Mykenischen Kultur gefolgt war. Kurz nach 1200 vdZ werden viele Städte und Zentren Mykenes zerstört, die Ursache hierfür ist bis heute unbekannt.
Mal werden äußere Feinde angenommen, für die es hier und da Hinweise gibt, mal sollen Naturkatastrophen verantwortlich sein. Manche Archäologen vermuten einen Zusammenhang mit Vorgängen jenseits der Ägais, die zur Zerstörung der Handelsrouten, zu Ressourcenknappheit und somit zu Kriegen geführt haben könnten. Aber genau weiß man es eben nicht.
Fest steht nur, daß die Mykenische/Minoische Kultur im 12. Jahrhundert vdZ einen massiven Zusammenbruch zum Opfer fiel. Die berühmten Schriften des alten Homer datieren zum Beispiel aus dem 8. Jahrhundert vdZ und beziehen sich wohl eher auf das 13. Jahrhundert vdZ, da etwa hat nämlich der Trojanische Krieg stattgefunden, wenn der denn tatsächlich ein historisches Ereignis beschreibt.
Homer berichtet also in seinen Versen von Dingen, die bei den damaligen Zuhörern zur Rubrik „Mythen und Geschichten“ gehörten.

Allerdings finden sich auch im Untergang weitere Gemeinsamkeiten. Sowohl in Bezug auf die mykenische Kultur als auch Rom oder China bleiben die geographischen Gebiete weiterhin bewohnt. Es gibt Keramiken, die von heutigen Archäologen extra als „submykenisch“ bezeichnet werden, was sich einmal auf die Zeiteinteilung als auch auf die Arbeit selber bezieht, also die Kunstfertigkeit der Ausführung und andere Dinge.
Trotzdem sind der Mittelmeerraum oder eben China seit Jahrtausenden besiedelte Gebiete. Auch nach dem Untergang Westroms gehen die Bevölkerungsdichten in Europa deutlich zurück, die Zivilisationsstufe sackt deutlich ab – aber die Menschen an sich verschwinden nicht vollständig, ebenso wenig die komplette Kultur.
Wenn also Johannes von Padmos oder seine heutigen Genossen immer wieder den völligen Untergang der heutigen Zivilisation in einem apokalyptischen Ereignis prophezeien, kann ich ihnen da nicht zustimmen, denn insgesamt scheint diese Vorhersage keinem bisherigen Ereignis zu entsprechen, das man in der Geschichte so finden könnte.

Die Aussicht auf eine umfassende Apokalypse entspringt der heutzutage gerne gepflegten Auffassung, unsere aktuelle Zivilisation sei etwas Besonderes, die Krone der Entwicklung der Menschheit.
Selbstverständlich kann so etwas Einzigartiges nur in einer grandiosen Apokalypse untergehen mit Aliens, Asteroiden, einer neuen Eiszeit und dem Zorn Gottes, mindestens. Außerdem hat diese Geisteshaltung den Vorteil, daß man sich ja mit den ganzen Problemen nicht rumschlagen muß, denn was können wir schon machen? Wenn die Aliens landen, landen sie halt. Dazu kommt noch, daß sich so was von Hollywood einfach viel geiler verfilmen läßt. Apokalypse bringt Umsatz, die hat einfach die besseren Spezialeffekte.

In Wirklichkeit werden wir geboren, versuchen uns durchzuschlagen und sterben irgendwann wieder, da unterscheiden wir uns nicht von unseren Vorfahren. Wir wissen offiziell viel mehr, aber auch darauf sollte man sich nicht zu viel einbilden,  wie ich schon mal kurz angedeutet hatte.
Es ist einfach so, daß wir modernen Menschen uns nicht so viel anders benehmen als unsere Vorgänger vor tausend, zweitausend oder fünftausend Jahren. Da ändert das ganze Wissen um Ökologie nichts, wenn man trotzdem jedes Jahr ein paar Millionen Tonnen Düngemittel und Pestizide in die Ozeane spült oder weiter den Regenwald abholzt. Oder die Wälder des Nahen Ostens, zu anderen Zeiten – was der Grund dafür ist, daß der Nahe Osten heute so aussieht, wie er aussieht und da immer der Teufel los ist.
Die Zedernwälder des Libanon werden schon im Gilgamesch-Epos erwähnt und der moderne Staat hat diesen Baum noch immer in seiner Flagge. Nur Zedern gibt es da nicht mehr, die sind längst alle weg.
Die Flagge des Bundesstaates Kalifornien zeigt noch heute einen Grizzly-Bären, den einer der damaligen Pioniere 1846 freudig auf ein Stück Tuch gepinselt hatte, als die USA den Mexikanern Kalifornien erfolgreich weggenommen hatten – ein echtes Zeichen amerikanischen Nationalstolzes. Auch von diesen Grizzlies findet man heute in Kalifornien eher keine mehr. Wenn man so will, sind sowohl der Baum als auch der Bär historische Symbole für ökologische Katastrophen, die beide mehrere Jahrtausende voneinander entfernt stattgefunden haben. So weit also zu dem Ansatz „wir sind ja völlig anders“. Wir sind es nicht, da kann Mensch sich das noch so lange einbilden

Während Mittel- und Westeuropa sich also durch das Dunkle Zeitalter nach Westrom quälten und das einzige Licht mit ein bißchen Zivilisation dahinter aus einer Stadt namens Konstantinopel strahlte, gab es auch woanders Probleme.
In Mittelamerika, genauer gesagt, auf der Yucatan-Halbinsel, blühte zu diesem Zeitpunkt die Kultur der Maya. Riesige Städte mit beeindruckenden Pyramidenbauten hatte man errichtet im Laufe der Jahrhunderte, und es waren einige Jahrhunderte. Die ältesten archäologischen Funde, die man den Maya zurechnet, werden auf etwa 2000 vdZ datiert, bis ins 11. Jahrhundert vdZ wurden Städte wie Copan und Cahal Pech gegründet, im heutigen Honduras und Belize, später dann heute noch bekannte Siedlungen wie Tikal in Guatemala.
Wir kennen die Maya heute entweder als touristische Sehenswürdigkeit, wenn man die übriggebliebenen Städte besucht hat oder von ihrem Kalender, der es im Jahr 2012 irgendwie nicht geschafft hat, den Weltuntergang vorauszusagen. Wobei das eher die Schuld der Deppen ist, die unbedingt glauben wollten, daß ein auslaufender Kalender irgendwas mit dem Zustand des Universums zu tun hat. Auf unserem gregorianischen Kalender ist einmal in 365 Tagen Silvester statt einmal in 5000 Jahren, trotzdem laufen wir nicht alle rum und faseln was vom Ende der Welt. Und exakt das ist auch 2012 passiert: Der Maya-Kalender erreichte ein neues Null-Datum nach dem Ende eines Zyklus.

„Diesmal ist alles anders“, wird immer gerne behauptet, geht es um unsere Kultur. Stimmt aber gar nicht.

Das kommt davon, wenn irgendwelche selbstmordgefährdeten Esoteriktypen ihren Anhängern einreden, daß alte Kulturen, die einen solchen Kalender entwerfen konnten, ja irgendwie mit universeller Weisheit in Verbindung stehen müssen und deswegen unbedingt die Apokalypse droht, wenn der Kalender ausläuft.
Nicht eine Sekunde haben die ganzen Nibiru-Spinner und die anderen Weltuntergangspropheten 2012 daran gedacht, daß auf Silvester ja vielleicht einfach Neujahr folgt und die Maya einfach keinen Bock gehabt haben, noch einen 5000-Jahres-Zyklus zu berechnen. Ich hatte 2012 jedenfalls viel Spaß – der Film von Emmerich war auch ganz nett, wenn auch wissenschaftlich natürlich mal wieder haarsträubend. Aber gutes Action-Kino. Nächstes Mal muß für den Mann auf jeden Fall ein ganzes Sonnensystem untergehen, sonst ist das nicht mehr zu toppen.

Wir wissen also über die Maya, daß sie eine sehr fortschrittliche Mathematik hatten, verbunden mit einer fortschrittlichen Astronomie. Denn einen Kalender, der so exakt ist wie der Maya-Kalender, kann man nur dann erstellen, wenn man die astronomischen Gegebenheiten in unserem Sonnensystem ausnehmend gut kennt.
Wir wissen auch, daß die Maya geteilt waren, es gab also streng genommen mindestens zwei Maya-Kulturen, nämlich im Hochland und im Tiefland. Das Hochland – die Halbinsel Yucatan – besteht aus Savannenlandschaft mit geringen und ungleichmäßigen Niederschlägen. Der Süden – das Tiefland – besteht aus tropischem Dschungel. Die ganze Gegend war tektonisch aktiv und ist es auch immer noch.
Zwei Maya-Kulturen ist ebenfalls noch zu wenig, nach allem, was wir wissen, waren die Maya quasi die Griechen Mittelamerikas – eine in Stadtstaaten geordnete Kultur. Die Städte waren unterschiedlich groß, unterschiedlich mächtig, jede hatte einen Herrscher und man handelte miteinander, verbunden durch eine gemeinsame Sprache und eine in ihren Grundzügen identische Kultur. Natürlich führte man auch Kriege gegeneinander, das scheint in der Menschheitsgeschichte ja unabdingbar zu sein. Insgesamt gab es also mehr einen mayanischen Kulturraum als eine mayanische Kultur.
Ach ja – die Maya kannten eine Schrift und waren damit die einzigen in ganz Süd- und Mittelamerika, die so etwas vorweisen konnten. Wenn die Spanier auf ihrem Eroberungszug im 16. Jahrhundert nicht einen Großteil davon verbrannt hätten, hätte man diese Glyphenschrift auch schneller identifizieren können. Derselbe Typ, der die sogenannten Codices – die Bücher der Maya – verbrennen ließ, war aber so an der Schrift interessiert, daß er sich das Mayanische ins Spanische übersetzen ließ. Womit für mich feststeht, daß der Bischof von Yucatan, Diego de Landa, wie alle Religionsfanatiker, ganz schwer einen Sprung in der Schüssel hatte.
Das Ausmaß des dadurch erlittenen Kulturverlustes ist nicht einzuschätzen. Insgesamt haben nur etwas über 200 Seiten der Schriften die spanische Zerstörungswut überlebt. Trotzdem diente das sogenannte Landa-Alphabet später als Grundlage der Entschlüsselung der Maya-Schrift.

Problematisch hierbei war vor allem, daß in dieser Schrift mehrere Zeichen ein- und dieselbe Silbenbedeutung haben können. Übertragen auf unser Alphabet hieße das etwa, das nicht nur ein „A“ oder „M“ existiert, sondern jeweils ein halbes Dutzend. Vereinheitlichung war also nicht so das Ding der Maya.

Bild 1: Die Seite 9 aus dem sogenannten „Dresdner Codex“
Nur zwei weitere dieser Maya-Bücher sind der spanischen Zerstörungswut entgangen, sie liegen in Paris und Madrid. Die Striche und Punkte sind das Zahlensystem der Maya.
Quelle: Wikipedia

Auf jeden Fall konnte diese Kultur außerordentliche Baukunst vorweisen, sie sind die Erfinder der Alphabets im präkolumbianischen Amerika, sie hatten gehobene Kunstformen, Astronomie, Mathematik und einen Kalender, den man heute noch aufregend finden kann, was manche auch tun, wenn auch aus den falschen Gründen.
In den Jahren von 750 ndZ bis etwa 900 ndZ ging diese Hochkultur unter. Städte wurden aufgegeben, die Bevölkerungszahl der Tiefland-Maya fiel um etwa 90 Prozent.

Über die Ursachen gibt es verschiedene Hypothesen, was niemanden wirklich überraschen kann, der sich mit Wissenschaften und Wissenschaftlern auskennt. Da war zunächst einmal der Krieg. Tatsächlich scheint es da Zusammenstöße mit den Tolteken gegeben zu haben, das sind wieder andere Typen. Aber keiner davon war so heftig, daß er den Zusammenbruch einer gesamten Kultur nach sich ziehen könnte. Wenn die Österreicher München erobern würden, würde die Bundesliga kleiner, aber davon ginge Deutschland nicht unter.
Auch der Krieg der Stadtstaaten untereinander ist als Erklärung nicht ausreichend. Denn der zieht sich als Element über die Jahrhunderte hin, ohne daß er zivilisatorische Folgen gehabt hätte, von den jeweiligen unmittelbaren Verlierern der Konflikte mal abgesehen.

Anfang des 20. Jahrhunderts begann die Forschung, ihr Augenmerk auf andere Faktoren zu richten: Ökologie.
Die Maya waren mit ihrem Brandrodungs-Feldbau im Tiefland so erfolgreich, daß die Bevölkerungszahlen in der sogenannten klassischen Periode stark anstiegen. Vulkanboden – und aus solchem besteht das Tiefland – ist eben fruchtbar. Das ist einer der Gründe, warum Menschen auch heute noch direkt auf und neben Vulkanen siedeln, man frage die Einwohner Neapels.
Abgesehen davon, daß Vulkane gelegentlich ausbrechen, ist diese Art Boden aber auch relativ schnell erschöpft, wenn man nicht auf ihn aufpaßt. Doch die Maya waren klug. Das in diesen Gegenden angewandte landwirtschaftliche System besteht aus den drei Pflanzen Kürbis, Bohnen und – man ahnt es – dem Mais.
Jetzt haben diese Pflanzen die witzige Eigenschaft, symbiotisch zu funktionieren. Der Mais dient den Bohnen als Rankhilfe, der Kürbis mit seinen großen Blättern verhindert übermäßige Austrocknung und Erosion. Wenn man das ganze bewässert, steht einer ordentlichen Ernte nichts im Wege.
Der Nachteil ist natürlich, daß diese Art des Anbaus der „drei Schwestern“ – so nennt man das in Mittelamerika – eben Platz braucht und den muß man sich erst einmal verschaffen. Also verschwanden im Laufe der Jahrhunderte die Wälder, während die Ernteerträge stiegen und die Bevölkerung wuchs, was wiederum höhere Ernten erforderte. Ein klassischer malthusianischer Wettlauf war gestartet worden, und den konnten die Maya am Ende nicht gewinnen.
Diese starken Rodungen verstärkten eine ab dem 9. Jahrhundert ndZ beginnende Dürreperiode, eventuell waren sie auch der Auslöser dafür. Es ist naturgemäß schwierig, im Nachhinein das Huhn an der Stelle vom Ei zu trennen.
Auf jeden Fall kam es zu einer lokalen Klimaveränderung, die Niederschläge gingen zwischen 800 und 950 ndZ um gute 40 Prozent zurück. Für Landwirtschaft und Bewässerung natürlich eine ultimative Katastrophe.
Überträgt man den Zusammenbruch der Tiefland-Maya auf menschliche Lebensspannen, wird die Sache deutlicher. Eine Frau der Tiefland-Maya, um 730 geboren, hätte die Anfangszeit der Krise erlebt – die wachsende Bevölkerung konnte bereits hier nicht mehr durchgehend versorgt werden, es kam vermehrt zu kriegerischen Akten zwischen den Städten, worunter der Handel litt.

Doch sowohl die Herrscher als auch ihre Städte stehen noch in voller Blüte, als die Dame – nennen wir sie Yuki – nach 70 Jahren eines arbeitsamen Lebens schließlich an Altersschwäche stirbt, betrauert von ihrer Familie.
Ihr Urenkel, etwa um diese Zeit geboren, wird in einer Welt aufwachsen, in der Mißernten, die Dürre und die permanenten Streitigkeiten der Städte ebenso zum Alltag gehören wie die Überfälle auf Handelswege. Nichts daran kommt ihm ungewöhnlich vor.
Seine Urenkelin, etwa um 870 geboren, kennt nicht anderes als verfallende Städte, die langsam mehr und mehr vom Dschungel verschluckt werden, während die Macht der Herrscher schon mehr symbolisch als real ist und Hunger – und Verhungern – zur permanenten Ausstattung des Alltag zählt.
Als sie schließlich heiratet, beschließen sie und ihre Familie, der entvölkerten Stadt den Rücken zu kehren und ihr Glück draußen auf dem Land zu versuchen, fernab von Herrschern mit inzwischen lächerlichen und wirkungslosen Ritualen, Steuerforderungen und unsinnigen Kriegen. Ihre Schritte auf den gepflasterten Wegen, die sie aus der Stadt herausführen, hallen zwischen den großen Pyramidenbauten wieder und markieren das Ende eines Zeitalters, aber niemand in der wandernden Gruppe kommt auf diese Idee. Ihre Gedanken beschäftigen sich mit einer mehr unmittelbaren Zukunft.

Eine Krise ist nur am Anfang eine Krise. Irgendwann wird sie Normalität. Aber damit endet die Krise nicht.

Es findet keine Apokalypse statt, ebensowenig wie in Rom eine stattfand. Stattdessen wird eine Krise für weitere Generationen einfach zur Normalität, denn normal ist immer das, was wir alltäglich erleben und was uns prägt. Dieses Phänomen der Verschiebung der Normalität nennt man shifting baselines.
Ich definiere hier den Zusammenbruch einer Zivilisation mal als ein massives Absinken des Lebensstandards, verbunden mit einem starken Rückgang der Bevölkerungsdichte, der Handelstätigkeit und einem Verschwinden wissenschaftlicher Forschung und Entwicklung, insgesamt sogar einem Verlust an Wissen.
Diese Dinge sind in der menschlichen Geschichte mehr als einmal passiert. Sie sind so oft geschehen, daß man wohl einfach behaupten kann, daß derartige Zusammenbrüche Geschichte sind. Da kann man bei Arnold Toynbee nachschlagen. Dessen Werk ist zwar alt, aber sein „A Study of History“ ist durchaus noch immer grundlegend.
Offensichtlich aber muß ein derartiger Zusammenbruch nicht den Untergang einer kompletten Kultur bedeuten. Noch immer gibt es Maya in Mittelamerika. China ist trotz mehrerer Zusammenbrüche imperialer Herrschaft auf diesem alten Siedlungsgebiet heute ein Nationalstaat auf dem Weg zur Supermacht.

Und hier zeigt sich auch, daß wir in unserem so überlegenen, technologisch geprägten 21. Jahrhundert ndZ nicht anders sind als unsere Vorfahren, nicht einzigartig oder über die Dinge erhaben, die ihnen zugestoßen sein mögen.
Der Staat namens DDR hat sich erst vor 25 Jahren aufgelöst, in diesem Falle aus politisch-wirtschaftlichen Gründen, aber seine Bewohner sind noch immer da. Das imperiale Riesenreich der Sowjetunion ist erst vor 24 Jahren verschwunden, aber sein Kern – Rußland – ist ebenfalls noch immer da. Der russische Energieverbrauch ging in den 90er Jahren massiv zurück, die Bevölkerungszahlen sanken ab, was unmittelbar mit dem Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung zusammenhängt.
Noch aktuell wird der männliche Durchschnittsrusse etwa 65 Jahre alt, damit ist die Lebenserwartung hier eine der niedrigsten der G20-Staaten. Nur Indien und Südafrika sehen da schlechter aus, was zum einen an der unglaublichen Bevökerungsgröße und zum anderen – im Falle Südafrikas – an AIDS liegt.
Auch die fallende Geburtenrate hat dem chronisch unterbevölkerten Rußland geschadet. Obwohl die Verschiebungen minimal sind, bedeuten sie aktuell, daß sich die Bevölkerung des Landes bis 2100 halbieren wird. Insofern kann man also sagen, daß der russische Zusammenbruch noch gar nicht abgeschlossen ist, sondern sich in einer stabileren Zwischenphase befindet, ein Merkmal, auf das ich noch einmal zurückkommen werde.

Zusammenbrüche von Staaten, Staatengebilden oder Zivilisation allgemein sind also nicht auf irgendwelche antiken oder prä-antiken Zeiten beschränkt. Sie begleiten uns bis in moderne menschliche Geschichte, sogar bis in die unmittelbare Gegenwart. 2010 verwüstete ein Erdbeben die ehemalige spanische Zuckerinsel Hispaniola, besser bekannt unter dem Namen der beiden Staaten, die sich dort heute befinden: Dominikanische Republik und Haiti.
Haiti, einer der ärmsten Regionen der Welt, hat sich davon bis heute nicht erholt und wird es vermutlich auch nie. Offiziell haben wir es hier mit einem failed state zu tun.
Während auf dem westlichen Teil der Insel 98 Prozent aller Wälder inzwischen verschwunden sind, wurde im östlichen Teil in den 50er Jahren aufwärts eine geradezu radikale Umweltschutzpolitik betrieben, von einem miesen Diktator namens Trujillo Molina. Der war sich nicht zu schade, illegalen Holzfällern mit Militärhubschraubern auf den Pelz zu rücken und entsprechende Firmenvorstände auch mal erschießen zu lassen. Die beiden Länder auf derselben Insel nahmen somit eine ökologisch völlig unterschiedliche Entwicklung.
Die Dominikanische Republik hat heute noch immer keine echte Demokratie, aber die haben wir in Europa ja auch nicht mehr. Dafür hat sie einen HDI von 0,7 und liegt mit ihrem nominalen BIP pro Einwohner von etwa 6000 US-$ immerhin auf Platz 88 weltweit.
Der Nachbar Haiti hat überhaupt keine Regierung, keinen Handel, ein BIP von etwa 600 US-$ pro Kopf und einen HDI von 0,47 – fallende Werte für die Zukunft sind zu erwarten. Mit 350 Einwohnern pro km² ist Haiti übrigens auch deutlich dichter bevölkert als sein Nachbarland.

Zivilisationen enden üblicherweise nicht in Apokalypsen, sie sterben. Dieses Sterben dauert eine Weile und im Falle großer Imperien kann es durchaus zwei oder drei Jahrhunderte umfassen, bis der Prozeß des Zerfalls abgeschlossen ist. Üblicherweise neigen die Einwohner dieser Weltgegenden nicht dazu, den Zerfallsprozeß als solchen zu erkennen oder gar, großflächig etwas gegen ihn zu unternehmen. Was logisch ist, denn dazu müßte man das Problem erst einmal realisieren.
Die Römer waren davor nicht gefeit, die Chinesen waren es nicht – und werden es nicht sein – die Russen sind es nicht, die USA sind es erst recht nicht und auch wir Europäer mögen uns einbilden, daß uns so etwas niemals passieren könnte, werden uns da aber dummerweise von den Umständen eines Besseren belehren lassen müssen.

Kulturelle Zusammenbrüche sind keine Apokalypse. Die Folgen können aber durchaus apokalyptisch sein.

Es gibt auch Zusammenbrüche von Kultur, die vollständig sind. Das allseits berühmte Beispiel für das völlige Verschwinden einer Kultur ist die Osterinsel. Dieses Fleckchen Land mit seinen 162 km² liegt mitten im Südpazifik, diverse tausend Kilometer vom nächsten Ort entfernt, den man als bewohnt bezeichnen kann. Pitcairn Island ist über 2.000 km entfernt, das ist ein Steinhaufen, auf dem heute noch die Nachfahren derjenigen leben, die damals die Meuterei auf der Bounty gestartet haben. Eine Geschichte, die ich als Kind sehr mochte. Die Bevölkerung dieses Steinhaufens beträgt irgendwas um die 50 Menschen.
Das nächste richtige Festland ist von der Osterinsel fast 4.000 km entfernt, nämlich die Küste Chiles. Insgesamt ist die Osterinsel – die nicht so heißt, weil dort der Osterhase wohnt, sondern weil ein Niederländer sie am Ostersontag 1722 erstmals offiziell entdeckte – damit das wohl abgelegenste Stück Land, das jemals von Menschen besiedelt wurde.

Nachdem die ersten Bewohner der Insel, von Polynesien herüberkommend, die Insel besiedelt hatten, ging eigentlich alles eine Zeit lang gut. Ab etwa 1300 ndZ ist aber eine radikale Entwaldung der Insel zu verzeichnen, die mit zunehmender Bodenerosion einherging. Aus den entsprechenden archäologischen Funden wird deutlich, daß die Bewohner damals auch den küstennahen Fischfang aufgaben – aus dem einfachen Grund, daß es dort keine Fische mehr gab.
Das wiederum erforderte den Bau von seetüchtigen Kanus, die wiederum Holz erfordern. Die Einwohner besiedelten das Innere der Insel, was sie aber vom Meer als Nahrungsquelle entfernte und somit Ackerbau erforderte. Was wiederum mehr Wald das Leben kostete. Es kam zu vermehrten Überfällen der einzelnen Stämme untereinander, schließlich endete die Inselkultur in Kannibalismus.
Eine einstmals fruchtbare Umgebung mit der wohl größten weltweit bekannten Palmenart verwandelte sich in die kahle Insel, die man heute kennt.

Bild 2: Satellitenbild der Osterinsel, aufgenommen von der ISS, 2002
Hier standen mal Wälder mit der wohl größten Palmenart der Erde. Heute ist die Insel ein kahler Haufen Schutt. Willkommen in der Zukunft.

Weniger als 30 Pflanzenarten existieren heute auf der Osterinsel, ab 1650 ndZ hat die Zahl der Seevögel massiv abgenommen, etwa um dieselbe Zeit wurde der Bau der berühmten Monumentalstatuen eingestellt. Ganze 6000 Menschen leben hier heute noch. Am Ende gingen die Insulaner so weit, die berühmten Statuen, die wohl mit der kultisch betriebenen Ahnenverehrung zu tun hatten, von ihren Sockeln zu stürzen, eine völlige Auflösung der vorherigen Kultur also.
Jetzt waren die Gewässer um die Osterinsel ohnehin nie sonderlich fischreich, was mit den Strömungen in der Gegend und den Wassertemperaturen zusammenhängt. Von den gezählten etwa 170 Fischarten waren mehr als 100 Küstenfische. Als die also verschwanden, bekamen die Bewohner ein massives Problem. Auch Korallenriffe gibt es hier keine, die ja immer ein Hort verschiedenster Arten sind. In der Umgebung der Fidji-Inseln hat man mehr als 1000 Fischarten gezählt.
Trotz dieser insgesamt also ungünstigeren Startbedingungen ist die Osterinsel ein Paradebeispiel ökologischer Selbstvernichtung und zeigt ebenfalls sehr deutlich, daß ein anderer, gerne geglaubter Mythos eben nichts anderes ist als ein Mythos: Der aufgeklärte, naturverbundene, ökologisch automatisch stets korrekt lebende ,,Wilde“ existiert so wenig wie Wolpertinger, Elwetritschen, vernünftige Vorschläge von CSU-Politikern, eine Bundeskanzlerin, die Merkel heißt und das Land tatsächlich regiert, oder die Stadt Bielefeld.
Die Völker der Geschichte, die noch mit dem freien Hintern in der Natur gehockt haben und mit 23 naturverbunden an Schnupfen starben, sind in dieser Beziehung kein bißchen klüger gewesen, als es Mensch heutzutage ist.

In seiner elementaren Beziehung zur Ökologie ist Mensch zwar heute mit computerisierter Klimasteuerung im Haus ausgestattet, aber das macht die Angelegenheit nicht besser. Wir glauben, daß ein Zusammenbruch unserer Kultur gar nicht stattfinden kann, da wir ja so weit fortgeschritten sind und deshalb viel mehr Möglichkeiten haben als unsere Vorgänger. Diese Überzeugung, diese Geschichte, in der wir leben, wird eine Ursache des Untergangs sein. Schon bald.


Das als Beitragsbild verwendete Foto ist von Adam Ziaja unter
CC By-SA 3.0 unported veröffentlicht. Quelle: Wikimedia Commons

8 Comments

  1. Und nicht zu vergessen:
    Heute leben wir im Atom- bzw. Raketenzeitalter.
    Während sich der Kapitalismus weitgehend selbst zerstört.

    Anders als früher könnte ein 3.Weltkrieg (der bereits längst vorbereitet wird)
    das Ende der Menscheit sein.

    Mit Grüßen
    Flash

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    1. Na jaaaa…

      Eigentlich recht überzeugend alles, wenn da nicht die Zeitangabe des Griechen wäre, die den Untergang von Atlantis markieren soll: „Vor 9.000 Jahren“, also 11.000 aus heutiger Sicht. Dazu muss man wissen, dass Platon seine Story über Umwege aus Ägypten erhalten hatte. Dort rechnete man damals mit dem Mondkalender. Wenn also die 9.000 Jahre durch 12 Monate dividiert werden, kommt man auf 750 Jahre.

      Wieso teilt der Typ 9.000 durch 12, weil irgendwer den Mondkalender benutzt haben soll? Die Frage ist doch, wie lang ein Jahr ist?

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  2. Die alten Ägypter haben einen Monat als „Jahr“ bezeichnet.
    Ist schon etwas her als ich in diesem Blog gestöbert hatte, aber ich fands ziemlich geil und auch nachvollziehbar. Der Mann traut sich einfach mal selbst zu denken. Ich meine er präsentiert wenigstens mal eine Theorie für diese seltsamen Seevölker, die in allen Geschichtsbüchern plötzlich und bar jeder Erklärung auftauchen.
    Ich gab Dir den Link, weil dieser Blog einfach das beste und spannendste ist, was ich bisher über die schriftlose Zeit gefunden habe.
    Was mir dabei immer auffällt, ist die Genauigkeit der Geschichten, die Platon, Homer und Co aus dem Hörensagen kannten und niederschrieben. Die mündliche Informationsweitergabe jener Zeit erfreute sich offenbar eines effektiven Qualitätsmanagements.

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    1. Ich weiß nicht, ob ich das mal erwähnt hatte aber damals hatte man die großen Geschichten eben noch im Kopf des Vortragenden gelagert, und zwar oft in einer Form, die erstens die Qualität und zweitens den Warheitsgehalt bzw. die Unveränderlichkeit der mündlichen Überlieferung qualitativ sicherstellte 😀

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    2. Die alten Ägypter haben einen Monat als “Jahr” bezeichnet.

      Meines Wissens eben nicht. Die Ägypter haben einen 12monatigen Kalenderzyklus benutzt. Der Kalender orientierte sich einmal am mittleren Sonnenjahr, so wie unserer heute auch, und andererseits auch am Mondzyklus. Aber es gab eben mehrere Monde in einem Jahr. Deshalb ist diese Gleichung von 9000:12 = (Jahreszahl, die ich für mein Atlantis brauche), meiner Ansicht nach Unsinn.

      Aber basismäßig hat der Typ natürlich nicht unrecht. Wir wissen über die damalige Zeit nicht wirklich was. Diese ganze Seevölker-Nummer ist recht nebulös. Aber Archäologen sagen extrem ungern den Satz „Wir wissen es nicht“. Eher wird es ein Fruchtbarkeitskult. Oder ein Kalender. Selbst wenn da wer mit Laser Linien in staubige Ebenen brennt, die man nur aus der Luft in Gänze erkennen kann 😀

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  3. Ich möchte den ersten Kommentar noch ergänzen: wir brauchen einen funktionierenden Kapitalismus, damit die Risiken, die dieser hervorgebracht hat, technisch gebannt werden könnten. Ich möchte nicht mit meinen Händen versuchen, Kernbrennstäbe im Meer zu versenken…

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    1. Wir können diese Risiken nicht technologisch bannen. Extrem unwahrscheinlich. Zu spät. Und wenn der Kapitalismus erst mal an Altersschwäche abnippelt, kümmert sich um Brennstäbe keiner mehr. Die Landkarten der Zukunft werden einige Zonen beinhalten, vor denen die örtlichen Schamanen wieder so Pfähle mit Schädeln drauf aufstellen.

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