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Rom fällt. Immer.
„Die Zukunft und die Ewigkeit sind zwei völllig unterschiedliche Dinge.“
Douglas Coupland
Wenn man – so wie ich das tue – heutzutage behauptet, daß unsere Zivilisation, wie wir sie kennen, unweigerlich verschwinden wird, erntet man meistens nur Stirnrunzeln und einen Gesichtsausdruck, der besagen soll: Das ist ja wohl ein bißchen unmöglich.
Führt man, nach zwei oder drei weiteren Getränken, dann noch ergänzend an, daß dieses Verschwinden nicht erst in 100 Jahren oder gar einer noch weiter weg liegenden Zukunft erfolgen wird, greifen die ersten Leute zum Smartphone und rufen den Arzt. Oder jedenfalls würden sie es gerne, man sieht es ihnen an.
Es kann auch sein, daß überhaupt keine Reaktion erfolgt, denn die meisten Menschen scheinen irgendwelche Hinweise in diese Richtung einfach ignorieren zu wollen und tun das auch sehr erfolgreich. Das ist einer der Gründe, warum die Untergangspropheten immer wieder recht behalten haben.
Von diesen wiederum gibt es unterschiedliche Typen. Die einen naschen zu viele Pilze von der falschen Sorte, wie etwa Johannes von Padmos, und schreiben dann so etwas zusammen wie die Apokalypse der Bibel. Die Welt geht also unter mit Feuer vom Himmel, dem Zorn Gottes, der nächsten Sintflut und am Ende wachen alle Toten wieder auf und wir haben Zombie-Apokalypse wie in 28 Days later oder so in der Art. Noch schöner kann man einen Horrortrip eigentlich nicht aufschreiben. Da Johannes das aber schon vor ziemlich langer Zeit getan hat und man von LSD damals noch keine Ahnung hatte, glauben ziemlich viele Menschen heute genau an diese Variante des Untergangs. Immerhin steht es ja in der Bibel, muß also richtig sein.
Dann gibt es diejenigen, die sich über die Entwicklung der Zeit allgemein beschweren, so wie etwa der römische Schriftsteller Tacitus über den Verlust der Römischen Republik. Tacitus war aber natürlich realistisch – und schlau – genug, die Notwendigkeit des Kaisertums als Verwaltungsmaßnahme für das inzwischen riesige Reich anzuerkennen. Aber er sah darin trotzdem so etwa wie einen moralischen Rückschritt, einen Verlust an „virtus“, also Tugenden.
Aus heutiger Sicht betrachtet bestehen diese Tugenden vor allem aus politischer Korruption und außenpolitischen Kriegen, aber ein Römer des 1. Jahrhunderts ndZ sah das eben ein bißchen pragmatischer.
Wenn man aus solchen Büchern etwas lernen kann, dann die eindeutige Tatsache, daß Menschen für die Schwächen ihrer Zeit meistens sehr blind sind. Hätte ich Tacitus erzählt, wie es mit Rom weitergehen würde, hätte er mich mit einem Stirnrunzeln angeschaut. Auch ein Kaiser Hadrian, der in den letzten Tagen Tacitus‘ sein Amt antrat, hätte mir wenig Glauben geschenkt, wenn ich ihm vom Untergang Roms berichtet hätte.
Gut, er hätte jetzt nicht nach seinem Smartphone gegriffen, das war noch nicht erfunden, aber hätte er den Arzt gerufen, wäre das auf jeden Fall mein Ende gewesen. Wer Asterix gelesen hat, weiß genau, was römische Ärzte anrichten konnten.
Und warum hätte mir Hadrian auch glauben sollen?
Noch sein Vorgänger Trajan hatte dem Römischen Reich große Gebiete hinzugefügt. Er hatte Mesopotamien erobert und Armenien, was etwa den heutigen Staaten Iran, Irak, Syrien und noch ein bißchen dazu entspricht. Allein das armenische Reich erstreckte sich in seinen Glanzzeiten von Tarsos und Damaskus am Mittelmeer bis zur Küste der Kaspischen See. Außerdem eroberte Trajan Dakien, das entspricht dem heutigen Rumänien, der westpannonischen Tiefebene – das ist heute ein Teil Ungarns und Nordserbiens – und dazu noch Moldawien und ein bißchen Bulgarien. Ja, römische Eroberungen zeichneten sich nicht durch geringe Gebietsverschiebungen aus, soviel ist mal sicher.
Als Hadrian den Thron bestieg, befand sich das Römische Reich auf dem Höhepunkt seiner Ausdehnung, die Küste des Schwarzen Meeres gehörte ebenso natürlich dazu wie die des Mittelmeeres, das ja von den Römern ohnehin „Mare Nostrum“, also „unsere Badewanne“ genannt wurde.
Hadrian widmete sich seiner Aufgabe mit Energie. Er festigte das Reich, indem er Verwaltungsreformen erließ – auch damals war zuviel langwierige Bürokratie bereits ein Problem – und die Grenzen sicherte, am berühmtesten ist hier natürlich der Hadrianswall im Norden Englands, den man heute noch besichtigen kann.
Auch anderswo floß Geld in die Infrastruktur, wie alle anderen Staaten seit Urzeiten hatte auch Rom eine Staatsquote bei den Investitionen, und unter Hadrian war sie recht hoch. Allgemein galten römische Kaiser ja als erfolgreich, wenn sie ordentliche Bautätigkeit vorweisen konnten, das ist ein bißchen wie Stuttgart21 oder Berliner Flughäfen. Wobei diese Bauwerke bei den Römern auch fertig werden mußten, um für den jeweiligen Herrscher als Punkt zu zählen. Heute genügen da Bauruinen und Umfragen.
Auch das Militär wurde umorganisiert und konzentrierte sich ebenfalls auf die Verteidigung des Reiches. Hadrian führte nur wenige Kriege, nach römischen Maßstäben eigentlich nicht viel mehr als ein paar Trainingsausflüge ins Grüne.
Er tat aber noch etwas anderes. Er gab die Gebiete wieder auf, die Trajan erobert hatte, zumindest einen guten Teil davon.
Der Grund dafür war recht pragmatisch: Rom hatte sich in einen Zustand hineinbegeben, der heute von Staatstheoretikern als „imperiale Überdehnung“ bezeichnet wird. Die neuen Gebiete waren einfach militärisch nicht zu halten, wirtschaftlich uninteressant und politisch instabil. Manche Dinge ändern sich halt nicht. Schon damals war also der der Versuch, weitere Teile des Nahen Ostens zu besetzen, nicht unbedingt die kluge Idee.
Für diese Entscheidung wurde Hadrian sehr kritisiert, der Senat war ihm fortan zum Großteil spinnefeind. Immerhin hatte derselbe Senat ja vorher noch Trajan zum „Optimus Princeps“ ernannt, ein Ehrentitel. Princeps war bei den Römern derjenige, der sich immer zuerst seinen Teil der Beute nehmen durfte, der optimus princeps ist also frei übersetzt „der größte Geier“.
Eine Eigenschaft, die die Römer zu ihren klassischen Tugenden zählten. Ganz Rom war auf dem Motto aufgebaut „Nimm, was du kriegen kannst“. Wir bringen diese Eigenschaft heute allgemein mit dem Wort Imperium in Verbindung, obwohl da noch ein bißchen mehr hintersteckt. Aber da komme ich noch mal drauf zurück.
Gegen dieses Prinzip verstieß jedenfalls Hadrians pragmatische Entscheidung des Rückzugs eindeutig. War also Trajan noch ein Optimus, war Hadrian für die meisten Senatoren wohl eher suboptimal.
Historische Einschnitte können klein und unauffällig sein. Erst im Rückblick werden sie dann historisch.
Diese eigentlich eher unscheinbare Entscheidung war also ein Wendepunkt in der Geschichte des Römischen Reiches, was aber den meisten Leuten wohl entgangen sein dürfte. Dem Volk war es egal, denn es hatte eine Zeit des Friedens und der wirtschaftlichen Stärke vor sich, während wieder einmal Gold und Weihrauch aus entfernten Gegenden nach Rom strömten. Tacitus hätte das sicher nicht gefallen, dieses ständige Feiern in einem Goldenen Zeitalter, vermutlich hätte der Mann etwas vom Verfall der Moral und des Anstandes geschrieben. Aber Tacitus starb auch etwa 120 ndZ, da sollte Hadrian noch knapp zwei Jahrzehnte regieren.
So ist es eigentlich immer. Niemand denkt in einem Goldenen Zeitalter daran, mal den Wert des Goldes in Frage zu stellen. Oder mal an der ganzen Farbe zu kratzen, ob die denn wirklich auch aus Gold ist. Normalerweise erwirbt man sich mit solchen Aktionen zuverlässig den Ruf als Spaßbremse. Dabei ist dieser Vorgang eigentlich ähnlich pragmatisch wie der Rückzug Hadrians aus Gebieten, die ohnehin nicht zu halten waren.
Hätte ich aber Tacitus, dem alten Historiker, davon erzählt, daß sein Rom nur ein paar Jahrhunderte später endgültig den Bach runtergehen würde, hätte selbst der alte Moralkritiker mir keinen Glauben geschenkt. Wieder Stirnrunzeln, ungläubige Blicke und der Griff zum Smartph…obwohl, das dann doch nicht.
Doch bereits die Jahre nach Hadrian zeigten deutliche Veränderungen.
Da Octavian es vermieden hatte, sich selber als Kaiser zu bezeichnen, obwohl er de facto einer war, hatte das Römische Reich ein Problem geerbt: Man war Kaiserreich, hatte aber keine Nachfolgeregelung. Denn das hätte ja bedeutet, daß der immer noch existierende Senat irgendwo keine Existenzberechtigung mehr gehabt hätte. Zu Zeiten eines Octavian wurde also eifrig so getan, als sei Rom weiterhin eine Republik, obwohl irgendwie jeder mitbekommen hatte, daß das eben nicht mehr der Fall war. Es gehörte sozusagen zur Vereinbarung des Herrschens, daß der neue status quo auf keinen Fall als solcher genannt werden durfte.
Auch das ist keine unbekannte Politik. Heute kennt man da Schuldenschnitte für Pleiteländer, die gemacht werden, aber nicht so heißen dürfen. Oder Eurobonds, die es nicht gibt, die aber trotzdem irgendwo da sind. So in der Art war das auch damals in Rom.
Jetzt hätten die Römer auch auf die Idee kommen können, so etwas wie die erste parlamentarische Monarchie des Planeten aus der Taufe zu heben, aber da gab es eben diese Allergie des römischen Staatswesens gegen den Alleinherrscher, den Rex. Denn nach ihrem eigenen Gründungsmythos hatten die tapferen Römer den ja vertrieben, als der König sich zum Tyrannen mauserte und so ihre Republik erst begründet. Schlechte Erfahrungen aus halbdunkler römischer Historie führten also dazu, daß der Kaiser eben kein Kaiser sein konnte, zumindest vorerst.
Also mußte die Nachfolge auf dem Thron eben anderes geregelt werden, eine formelle Nachfolgeregelung hätte die Aufgabe der Republik bedeutet. Ein Geburtsfehler des Reiches, der sich im 3. Jahrhundert ndZ als schwerwiegend erweisen sollte.
Octavian war bereits Cäsars Adoptivsohn gewesen – also, der Cäsar – und auch sein Nachfolger Tiberius war wiederum ein Adoptivsohn. Tiberius Nachfolger war Gaius Caesar Augustus Germanicus, der war als Urenkel mit Octavian und dessen Frau verwandt und hätte erstmals so etwas wie eine Erbdynastie auf die Beine stellen können. Dummerweise entpuppte er sich recht schnell als mieser Gewaltherrscher und hatte deshalb die Ehre, als erster Chef nach Julius Cäsar ermordet zu werden, und zwar von seiner Prätorianergarde. Die eigenen Leibwächter sind halt immer eine Schwachstelle, ein echter Paranoiker hätte das gewußt. Unter seinem Kaisernamen ist dieser Germanicus heute noch berüchtigt, er lautete Caligula.
Dessen Nachfolger wiederum war sein Onkel, bereits vorher von ihm zum Konsul ernannt. Der wohl an physischen Gebrechen leidende Mann war eigentlich nach römischer Auffassung kein Kandidat für das höchste Staatsamt, mit Behindertenrechten und Quotenregelungen hatte man es noch nicht so damals. Außerdem war der Typ kein Italiener, ebenfalls ein Novum, denn sein Geburtsort war Lugdunum, heute ist das Lyon. Trotzdem wurde er Kaiser, erstmals wohl auch durch massive Unterstützung des Militärs, und erwies sich dann als tatsächlich fähiger Verwalter. Unter Kaiser Claudius wurde Britannien erobert, das war seit den Zeiten des Augustus die erste Erweiterung des Reiches.
So etablierte sich die Nachfolge für das Amt des mächtigsten Mannes der damaligen Welt als ein Durcheinander aus Adoption, schlichter Ernennung durch den Boß, Erfahrungswerten, manchmal echter Verwandschaft und Unterstützung des Heeres. Eben jener letzte Punkt wurde immer wichtiger, als das 2. Jahrhundert ndZ zu Ende ging. Irgendwann kamen die römischen Legionen nämlich auf die Idee, daß man ja denjenigen zum Kaiser machen könnte, der Ahnung von militärischen Dingen hatte und die Anliegen der Legionen am besten unterstützen würde. War in früheren Zeiten nämlich praktische Militärerfahrung noch vollkommen zwingend – der sogenannte cursus honorum war obligatorisch für spätere Senatoren und Konsuln – änderte sich auch das im Laufe der Jahre, denn das Reich dehnte sich ja nach Trajan nicht weiter aus.
Meistens wollten die Legionen natürlich mehr Geld, was sich auf die Staatskasse des Imperiums ebenfalls nachteilig auswirkte. In logischer Konsequenz entdeckten die Legionen dann irgendwann auch, daß man einen neuen Kaiser nicht zwingend in Rom ausrufen muß.
Damit brach dann das 3. Jahrhundert ndZ an, eine Zeit einzigen Durcheinanders, in der selbst der gut informierte römische Bürger im Wettbüro nicht mehr genau gewußt haben dürfte, wer jetzt gerade aktuell Kaiser war. Die Zahl der Leute, die Kaiser sein wollten, stieg jedenfalls inflationär an. Mit allen Gegenkaisern, Zusatzkaisern und Extrakaisern kommt dieses eine Jahrhundert auf locker 40 Personen. Zwischendurch gab es sogar Kaiser in einem „Gallischen Imperium“. Wenn das Asterix gewußt hätte!
Erst gegen 270, unter der Herrschaft von Aurelian, trat wieder etwas Beruhigung ein. Dummerweise wurde auch dieser Mann ermordet, nämlich 275 ndZ. Alleine im Jahr danach hatte Rom wieder 4 Kaiserkandidaten. Das Imperium verwandelte sich in eine Art „Deutschland sucht den Superstar“ der Antike – denn Deutschland findet den ja offensichtlich auch nie, sonst gäbe es diese Sendung nicht mehr.
Der Untergang von Imperien braucht ebenso Zeit wie ihre Entstehung. Aber sie gehen unter.
Erst mit dem Übergang zum 4. Jahrhundert ndZ stabilisierte sich Rom wieder, ein Mann namens Diokletian brachte es auf 21 Regierungsjahre. Aber ein Mann namens Maximian brachte es auch auf 19 Jahre und zwar gleichzeitig. Was war also passiert?
Simple Antwort: Die beiden Herren hatten sich darauf geeinigt, daß ein jeder eine Hälfte des Reiches regieren solle. Der eine im Westen, der andere im Osten. Da ein jeder noch einen Cäsar, also einen potentiellen Nachfolger ernannte, nennen Historiker das heute die Zeit der Tetrarchie, das ist griechisch für „Vierherrschaft“.
Erstmalig war das Reich also herrschaftsmäßig geteilt, ein Zustand, über den Tacitus sicher nicht begeistert gewesen wäre. Sein Ururururenkel aber, der zum Amtsantritt Diokletians gelebt haben dürfte, hätte dieses Ereignis eindeutig begrüßt, denn die beiden Kaiser beendeten ein chaotisches Jahrhundert permanenter Staatskrise.
Erst der von mir schon einmal kurz erwähnte Konstantin I. wurde wieder Alleinherrscher, insgesamt regierte er den Westen und dann das ganze Reich gute 30 Jahre. Aber hier war Anlaß für neuen Streit, denn es gab danach weiter West- und Ostkaiser und Zankereien über die Reichseinheit. Aber die Lage war stabiler als im Jahrhundert zuvor. Ein Mann names Theodosius I. verwirklichte noch einmal die Einheit des Reiches, wenn auch nur wenige Jahre. Aber der Kerl hatte zwei Söhne und so wurde 395 ndZ das Römische Reich endgültig zweigeteilt, was die leidige Angelegenheit der Kaiserkrone betraf.
Theodosius siedelte auch als erster Kaiser eine Gruppe Barbaren auf dem Boden des Reiches an, nämlich die Goten. Außerhalb des Römischen Reiches gab es nämlich noch einen Planeten, und auf diesem hatte in der Zwischenzeit das begonnen, was man heute die Völkerwanderung nennt. Das Römische Reich war gezwungen, sich mit der Ansiedlung von fremden Menschen anderer Kultur in seinem Gebiet auseinanderzusetzen. Heute würde man das Integrationspolitik nennen.
Außerdem erhob Theodosius das Christentum quasi zur Staatsreligion, denn er erließ konkrete Gesetze gegen das „Heidentum“, also die Art der Religionsausübung, die ein Tacitus noch als völlig normal empfunden hätte. Vielleicht wären dem alten Historiker hier erste Zweifel gekommen, hätte ich ihm all diese Dinge im Zusammenhang mit dem Untergang Roms erzählt. „Aber…“, so hätte er vermutlich geantwortet, „Rom ist ja immer noch da. Rom ist ewig!“
Dann hätte ich Tacitus darauf hingewiesen, daß das Rom des Jahres 400 ndZ gerade mal noch 50.000 Einwohner gehabt hat und die Bewohner der Stadt in dem lebten, was früher einmal die Innenstadt gewesen war, umgeben von den verfallenden Zeugnissen imperialer Größe. Zu Tacitus‘ Zeiten hatte Rom mehr als eine Million Einwohner und dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit die größte Ansiedlung der Erde gewesen sein.
Auf dem Forum Romanum des Jahres 400 wurden keine flammenden Reden an das Volk gehalten, hier grasten Ziegen. Trotzdem hätte der Urururundsoweiter-Enkel von Tacitus diesen Zustand nicht als ungewöhnlich empfunden. Denn schließlich war das ja schon immer so, zumindest innerhalb seiner Lebensspanne.
Auch das Imperium war immer noch da, aber der Reichtum, der noch vorhanden war, floß nach Konstantinopel, nicht nach Rom. Selbst die Kaiser thronten nicht mehr in der Stadt, sondern in Ravenna, das hatte dickere Mauern. Rom war zu diesem Zeitpunkt längst westliche Provinz eines Reiches, dessen Zentrum im Osten lag. Britannien war längst verloren gegangen, auch wenn man in Londinium vermutlich noch den einen oder anderen „Römer“ gesichtet haben dürfte, der verzweifelt versuchte, sich im Schlamm der nichtvorhandenen Straßen den Saum der Toga nicht zu versauen.
Die Rheingrenze als solche existierte nicht mehr, Horden von Goten und anderen Typen zogen ungehindert durch die Gegend. Und doch hätte selbst ein Bürger Roms im Jahre 400 mich vermutlich ausgelacht, hätte ich ihm vom Untergang berichtet.
Zehn Jahre später hätte er nicht mehr gelacht, denn da tauchten die Westgoten unter Alarich vor Rom auf und wollten Tribut haben. Dieser Barbarenkönig, der da mit seinem Heer lagerte, war nicht irgendwer. Er war immerhin der Heermeister des weströmischen Reiches, worüber Tacitus sicherlich entsetzt gewesen wäre. Außerdem war er Christ, wie eigentlich alle Römer auch – was Tacitus auch nicht gefallen hätte
Alarich belagerte Rom nicht deshalb, weil er es unbedingt erobern wollte. Er belagerte es, weil man ihn und seine Männer als Hilfsmittel in einem Bürgerkrieg benutzt hatte und eine der versprochenen Belohnungen Siedlungsland gewesen war. Diese Belohung wurde ihm aber verweigert. Alarich sah sich gezwungen, seinen Männern die Plünderung der Stadt zu erlauben, denn ein Heerführer, dessen Männer bereits hungern, hat nicht besonders viele Optionen.
Und so kam es zur berühmten Plünderung Roms im Jahre 410 ndZ. Gute 800 Jahre, nachdem zuletzt ein Barbarenheer die Stadt besetzt und geplündert hatte, nämlich unter dem keltischen Anführer Brennus. In drei Tagen schleppten die Männer von Alarich alles weg, was acht Jahrhunderte imperialer Ausbeutung an Reichtümern in die Stadt Rom gespült hatten und was zu diesem Zeitpunkt nicht bereits als Tribut versetzt, verkauft oder eingeschmolzen worden war. Was man nicht wegschleppen konnte, wurde angezündet oder aufgegessen, manchmal in Kombination, nehme ich an.
Westrom endete nicht mit dem Donnergetöse einer Schlacht, sondern untermalt von Hufgetrappel auf einer Römerstraße. Unspektakulär.
Was danach zurückblieb, war ein trauriger Rest einer ehemaligen imperialen Hauptstadt. Der wurde 455 noch einmal geplündert, diesmal von den Vandalen unter ihrem Anführer Geiserich. Als im Jahre 476 wieder einmal ein General putschte, ein Mann names Orestes, forderten dessen Verbündete – allesamt germanische Foederatii – als Belohnung das, was auch Alarich schon haben wollte: Land, um darauf zu siedeln.
Orestes verweigerte das, was ihn etwas später den Kopf kostete. Der Anführer der Germanen, ein Typ namens Odoaker, hatte endgültig die Nase voll von dem ganzen Rumgemache um einen längst bedeutungsos gewordenen Thron und setzte den amtierenden Kaiser Romulus Augustulus – das „Augustlein“ – einfach ab. Bezeichnenderweise tötete er den Jungen nicht – Romulus war ein Kind von etwa 15 Jahren – sondern schickte ihn schlicht aus Ravenna ins Exil. Für Odoaker war der Thron des Westens es nicht mehr wert, ein Kind zu töten oder einen weiteren Marionettenherrscher einzusetzen.
Purpurtoga und Lorbeer, die Insignien des Kaisertums, wurden zusammengepackt, einem Boten in die Hand gedrückt, der setzte sich auf ein Pferd und trabte die Via Egnatia runter, die bis nach Konstantinopel führte.
Dem Päckchen lag noch ein Brief bei. Hierin ernannte Odoaker sich selber zum Rex Italiae, also König von Italien, teilte dem Kaiser in Konstantinopel mit, daß man seine Oberherrschaft durchaus anerkenne und wies gleichzeitig darauf hin, daß man im Westen keinen Bedarf mehr an der Kaiserkrone habe. Mit freundlichen Grüßen. Rom war gefallen, diesmal endgültig.
Tacitus wäre nicht begeistert gewesen. Aber noch hätte er, ganz der Historiker, darauf hinweisen können, daß Ostrom ja noch immer da war. Und tatsächlich hätte er damit nicht unrecht gehabt. Heutige Historiker streiten sich, ob Rom tatsächlich jemals unterging oder einfach „transformiert“ worden ist. Immerhin herrschten im Byzantinischen Reich später weitere Kaiser bis ins Jahr 1453, als die Stadt Konstantinopel von Mehmed II. erobert wurde. Roms Geschichte erstreckt sich also noch über ein weiteres Jahrtausend, wenn man so will.
Tatsache ist jedoch, daß aus einer imperialen Reichsstadt namens Rom ein bedeutungsloser Ort geworden war. Wo früher einmal fließendes Wasser in Häusern und Bädern eine Selbstverständlichkeit war, gab es beides nicht mehr. In einer Landschaft, die durchzogen war von äußerst dauerhaft gebauten Steinstraßen für die Heere eines Imperiums, gab es keine Heere mehr und in den verfallenen Dörfern entlang der Straßen gab es keine Straßen, sondern knöcheltiefen Schlamm.
Wo man früher einmal Goldmünzen mit dem Portrait des herrschenden Kaisers zum Handeln benutzt hatte, wurde jetzt wieder getauscht. Wo früher große Latifundien von Sklaven bewirtschaftet worden waren und Erzeugnisse hergestellt, die im ganzen Reich verteilt wurden, wirtschaftete man jetzt wieder auf Subsistenzniveau, wenn die Äcker nicht ohnehin verwaist waren.
Man kann an dieser Stelle akademisch streiten, wie man will – für die normalmenschliche Definition ging Rom im Jahre 476 endgültig unter und es hat sich nie wieder aus dem Staub erhoben. Für West- und Mitteleuropa folgte ein langes Dunkles Zeitalter, in dem vieles von dem vergessen wurde, was man einmal gewußt hatte. Der Lebensstandard sank in weiten Gebieten sogar unter den der vorimperialen Zeit ab.
Britannien, das in der späten Eisenzeit vor der römischen Eroberung eine stabile und blühende Ackerbaugesellschaft war, mit aufstrebenden städtischen Zentren und internationalen Handelsbeziehungen, versank nach dem Verschwinden der imperialen Macht in Armut, Hungersnöten und politischem Chaos, für mehrere Jahrhunderte. Gleichzeitig sanken die Bevölkerungszahlen massiv ab, wie auch im Rest Europas.
Der erste Mann, der sich aus dem Dunkel dieses Teils der Geschichte erhob und wieder den Titel eines Kaisers führte, war Karl der Große. Aber auch in dessen Aachener Kaiserpfalz gab es weder römische Baukunst noch eine Fußbodenheizung, von Bäderkultur ganz abgesehen. Kulturell und wissenschaftlich war die Zeit in Mitteleuropa damals sehr finster, schmutzig und ungeheizt und hält keinen Vergleich mit römischen Zeiten aus.
Erst in dem Moment, in dem das längst griechische statt römische Byzantinische Reich untergeht, beginnt in Italien die Zeit der Renaissance so richtig. Nur ein Jahr vor der Eroberung Konstantinopels wird in einem Ort namens Vinci ein Junge geboren, der für mich der Inbegriff dieser aufstrebenden neuen Zeit ist: Leonardo.